Sündenkind von F ================================================================================ Kapitel 1: Jules ---------------- 1871 Die Kutscher ratterte über eine unebene Straße die nach Lorris führte. Monsieur Bettencourt warf einen Blick auf seine elegante Taschenuhr und räusperte sich ein wenig. „Wir werden Lorris in kürze erreichen“, sagte er, worauf hin Gérald eine wegwerfende Handbewegung machte. „Ich halte diese Reise noch immer für reine Zeit- und Geldverschwendung“, erwiderte Gérald und blickte seinen Anwalt leicht verärgert an. Hätte Monsieru Bettencourt nicht so hartnäckig darauf bestanden, hätte er seinen Neffen, dessen bloßes Existenz ein Stachel in seinem Fleisch war, hoffentlich irgendwann vergessen können. „Verzeihen Sie, aber der Junge ist mittlerweile fünf und es wäre an der Zeit über seine Erziehung zu entscheiden“, wandte Monsieur Bettencourt ein und breitete leicht die Hände aus. „Sie können unmöglich den Sohn ihrer Schwester für den Rest seines Lebens auf dem Land lassen. Noch dazu in den Händen von Bauern.“ „Warum denn nicht? Es ist nicht meine Schuld, dass Hélène einen schwächlichen Nichtsnutz geheiratet hat, der weder ein anständiges Vermögen, noch Familie hatte“, antwortete Gérald gereizt und umschloss seine feinen Lederhandschuhe so fest, bis die Fingerknöchel weiß hervor traten. Zu diesem Einwand hatte Monsieur Bettencourt nichts mehr zu sagen, denn auch wenn der Anstand geboten hätte, dass Gérald sich um den Jungen kümmerte, so konnte ihn kein Mensch dazu zwingen. Es war ihm zuwider diesen Jungen sehen zu müssen, der mitunter der Grund dafür gewesen war, dass er das einzige verloren hatte, was ihm jemals etwas bedeutete hatte. Gérald hatte seine Schwester nahezu abgöttisch geliebt, schon als sie Kinder gewesen waren. Mit dem Alter hatte diese ungesunde Zuneigung noch mehr zu genommen und Hélène hatte sie geduldet, zumindest bis Gérald an einem milden Sommerabend die Beherrschung verloren und über sie hergefallen war. Danach war nicht mehr wie zuvor gewesen. Keine Entschuldigung oder Erklärung hatte sie hören wollen. Stattdessen hatte sie einen Monat später heimlich einen Geschäftsmann geheiratet. In seinem Zorn hatte Gérald seine Schwester verstoßen und ihr Erbe nicht ausgezahlt, in der Hoffnung, dass würde sie erst erkennen wie töricht ihre überstürzte Heiraten gewesen war und zu ihm zurückkehren würde. Doch sie kehrte nicht zurück, bis Gérald zehn Monate später Nachricht von ihr erhielt und sich unverzüglich auf den Weg zu seiner geliebten Schwester machte. Vorgefunden hatte er sie in einer billigen Unterkunft, ohne Geld, als Witwe, all ihrer Schönheit beraubt und krank. Er hatte sich in dem Moment gewünscht, nie gekommen zu sein, denn nichts an dieser verwelkten Frau, die mit dem Tode rang, erinnerte in noch an seine wunderschöne Schwester. Sie lag im Sterben und flehte ihn an, sich um ihren Sohn zu kümmern, welchem sie nur wenige Wochen zuvor das Leben geschenkt hatte und Gérald hatte, überwältigt von dem Bild, welches sich ihm bot, versprochen sich um den Jungen zu kümmern. Ihre letzten Stunden verbrachte er an ihrem Bett und hörte sich die unglückliche Geschichte an, wie ihr Mann nur zwei Monate vor der Geburt des Kindes bei einem Reitunfall das Leben verloren hatte. Doch anstatt sich an Gérald zu wenden, hatte Hélène versucht mit dem übrig gebliebenen Geld auszukommen. Erst als sie den Tod nahen spürte rief sie Gérald, aber nicht um sich mit ihm zu versöhnen, zuzugeben, dass sie falsch gehandelt hatte, sondern um für ihr Kind zu sorgen, welches sie von einem anderen Mann bekommen hatte. Unfähig den letzten Wunsch seiner Schwester abzulehnen, hatte Gérald das Kind an sich genommen, die elendige Unterkunft verlassen und seinem Anwalt aufgetragen sich um Hélènes Beerdigung zu kümmern. Das Kind, welches auf den Namen Jules Ledoux, nach seinem Vater, getauft worden war, wurde in die Obhut von Bauersleuten gegeben, die in der Nähe von Lorris lebten, also weit genug von Paris, um Gérald zu erlauben das Kind zu vergessen. Leider hatte man ihm nicht erlaubt Jules zu vergessen und nun fünf Jahre später, befand er sich auf dem Weg ein Kind in Augenschein zu nehmen, welches er weder kannte, noch kennen lernen wollte. Einzig Monsierus Bettencourt Drängen hatte Gérald schließlich überredet sich seinen Neffen anzusehen, in welchem er das Ebenbild von Hélènes Mann zu sehen befürchtete. Der Hof von Monsieur und Madame Chevrier lag außerhalb von Lorris. Es war mehr als nur abgeschieden und wirkte auf Gérald abstoßend, denn idyllisch. „Wir haben die Herrn nicht so früh erwartet“, begrüßte sie Monsieur Chevrier, als Gérald und sein Anwalt ausstiegen. „Wo ist der Junge?“ wollte Gérald ohne Gruß wissen und blickte sich kurz um. Zwar war der Hof tadellos, aber alles wirkte, als würde es langsam in Stand gesetzt werden müssen. Selbst Monsieur Chevriers Aussehen verriet, dass er gar nicht mehr so weit vom Tod selbst entfernt sein musste. „Im Haus, Monsieur. In seinem Zimmer, aber…“, weiter kam der alte Mann gar nicht, denn Gérald unterbrach ihn auch gleich: „Ich wünsche ihn augenblicklich zu sehen.“ Er sagte es so streng, dass der Mann die Lippen zusammen presste und ins Haus vorging, wo seine Frau im Flur vor den beiden Gästen knickste und sie dann zum Zimmer des Kindes führte. Sie öffnete die Tür in ein geräumiges Zimmer, in welches Sonnenlicht durch schmutzige Fenster herein fiel. Das Zimmer beinhaltete ein Bett, einen Tisch mit einem Stuhl, sowie eine Kiste mit altem Spielzeug, wovon die Hälfte auf dem Boden verteilt war. Inmitten dieses Chaos saß ein fünfjähriger Junge auf dem verstaubten Holzboden, gekleidet in ein offenes Hemd, welches seinen Körper kaum bedeckte und unmöglich ihm gehören konnte. Er drehte den Kopf und blickte zur Tür, so teilnahmslos, als würden ihn die Besucher nichts angehen. Monsieru Bettencourt schnappte nach Luft, drehte sich zu Monsieur Chevier und fasste ihn scharf ins Auge. „Was in aller Welt soll das?“ fuhr er ihn an, doch Madame Chevier mischte sich augenblicklich ein. „Das ist nicht unsere Schuld, Monsieur! Er will sich nie ankleiden, ganz gleich was wir auch versuchen. Wenn wir ihn in Kleidung zwingen, dann zieht er sie gleich wieder aus und wirft sie von sich. Er hört nicht auf uns und beißt, wenn man ihm zu nah kommt“, erklärte sie in einem Schwall, was Monsieur Bettencourt mit einem Stirnrunzeln quittierte. „Ich hoffe sie wollen mir nicht erklären, dass sie mit einem fünfjährigen Kind nicht zurecht kommen, Madame“, sagte er scharf, bis Gérald ihm mit einer Handbewegung Einhalt gebot. Die drei verstummten und er trat näher an das Kind, um es näher zu betrachten. Es war unglaublich, aber der Knabe sah Hélène wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen schwarzen lockigen Haare, die sein kleines, helles Gesicht umspielten, die gleichen großen blauen Augen und fein geschwungenen Lippen. Gérald war, als würde er in Hélènes Kindergesicht blicken, doch als er die Hand ausstreckt, um das Gesicht zu berühren biss ihn das Kind in den Finger und floh in eine Ecke des Raums. Zorn regte sich in Gérald der sich augenblicklich zur Tür umwandte und die beiden Bauersleute ins Auge fasste. „Was sollte das? Was ist mit ihm?“ fuhr er sie an und dieses Mal war es Monsieur Chevier, der das Wort ergriff und zu sprechen begann. „Verziehen Sie, Monsieur, aber er ließ sich nicht erziehen. Ganz einerlei was wir mit ihm auch anzustellen versuchten, er weigerte sich anzukleiden, wie ein Mensch am Tisch zu essen und vor allem auch zu sprechen“, erklärte er, sich sichtlich unwohl fühlend. „Sie wollen sagen, dass er nicht sprechen kann?“ empörte sich Monsieur Bettencourt, die die Schuld für die ganze Entwicklung schon auf sich zurollen sah. Ganz zurecht, wie er fand, immerhin hatte er sich auf diese zwei Dummköpfe verlassen, dass sie das Kind gut behüten würden und nicht, dass es zu einem Wilden erzogen werden würde. Bevor Monsieur Chevier wieder mit Ausreden daher kommen konnte, gebot Gérald wieder allen Ruhe. „Bringt etwas Brot und Honig und lasst mich dann mit ihm allein“, sagte er und ging langsam zum Stuhl wo er sich nieder ließ, während Monsieur und Madame Chevier sich zurück zogen. „Wenn ich gewusst hätte, wie man ihn hier behandelt… Ich hätte ihn niemals hier gelassen“, begann Monsieur Bettencourt zu sprechen, der sich persönlich für diese Sache verantwortlich fühlte. Doch Gérald regte sich über die Angelegenheit nicht auf. „Es ist nicht mehr zu ändern“, sagte er kurz, ohne den Blick von dem Jungen zu lassen der sich in seiner Ecke ein wenig entspannt hatte, aber immer noch wachsam geblieben war. Wie war es nur möglich, dass er Hélène nur so sehr aus dem Gesicht geschnitten war? Wäre es dieses Gesicht nicht gewesen, hätte Gérald das Haus augenblicklich verlassen, aber so zwang ihn dieses Engelsantlitz zu bleiben. Wenige Augenblicke später trat Madame Chevier mit einem Teller ein auf dem eine Scheibe Brot, sowie ein Becher voll Honig stand. „Wünschen, Monsieur noch etwas?“ fragte sie unsicher auf den Knaben blickend, der sie mit echtem Hass zu mustern schien. „Nein, das wäre alles. Ich wünsche mit ihm alleine zu sein“, antwortete Gérald, was auch Monsieur Bettencourt das Zimmer verlassen ließ. „Komm näher, ich werde dir nichts tun“, sprach Gérald schließlich den Jungen an und streckte die Hand aus. Aber der Junge rührte sich nicht, seine misstrauischen Augen funkelten Gérald an und erinnerten diesen eher an ein Tier, als an ein Kind. Würde er aufstehen und den Jungen zu sich heran holen, würde dieser ganz sicherlich um sie treten und beißen, wie es ein verängstigtes Tier eben tun würde und darum wählte Gérald auch einen anderen Weg, er nahm das Brot, brach ein Stück ab und tunkte es in den süßen Honig, bevor er selbst ein Stück abbiss und den Rest dann dem Jungen hin hielt. Abermals zögerte der Knabe, doch dann kroch er auf allen vieren näher, den Blick an Gérald geheftet und bereit jeden Moment sich zurück zu ziehen. „Komm näher, noch etwas näher“, murmelte Gérald geduldig, ohne sich zu bewegen, bis der Junge schließlich so nah vor ihm saß, dass er mit der Hand nach dem Stück Brot griffen konnte, um es dann hastig in seinen Mund zu stecken. „Willst du noch mehr?“ fragte ihn Gérald weiter und stippte wieder ein keines Stückchen von dem Brot in den Honig, der dieses Mal auch seine Finger benetzte. Abermals hielt er dem Kind das Stückchen hin, der es ihm abermals abnahm und es aufaß. Dann leckte er seine Finger ab und blickte aus den hellen Augen zu Gérald, der sich aufgerichtet hatte und den restlichen Honig von seinen Fingern lecken wollte. Er hielt inne, lehnte sich vor, getrieben von einer launischen Idee, und hielt dem Jungen seine Finger hin. „Leck sie ab, aber diesmal ohne zu beißen“, forderte mit sanfter Stimme, woraufhin der Junge, ein klein wenig zögernd, noch näher heranrückt und vorsichtig den Honig von seinen Fingern abzulecken begann. Er verhält sich wie ein Tier, dachte Gérald einerseits erstaunt und zum anderen auch irritiert. Wie sehr hatte man ihn vernachlässigen müssen, dass er sich dieses Verhalten angewöhnt hatte. Das hatte Hélène sich für ihren Sohn sicherlich nicht erhofft, aber sie war längst tot und nun oblag es Gérald zu entscheiden, was mit dem Kind geschehen würde. Er konnte es hier weiter verwildern lassen, bis er alt genug wäre sich selbst überlassen zu werden, oder er konnte ihm ein anderes Leben ermöglichen, indem er Bildung und Erziehung in diesen bis jetzt leeren Kopf stopfen ließ, damit aus ihm ein Mann der Gesellschaft wurde. Oder… Gerald hielt inne und stand auf, was den Jungen augenblicklich von ihm zurückweichen ließ. Wachsamkeit lag in seinem Blick, kalte Wachsamkeit, die von für ihn unverständlichen Strafen herrührte. Ohne es zu wissen, machte er genau den gleichen unsicheren Gesichtsausdruck, denn auch Hélène gemacht hatte, wenn sie unsicher gewesen war und nun saß hier ihr Ebenbild, hilflos und ganz Géralds Gnade ausgeliefert. „Weißt du wie dein Name lautet?“ frage Géralds plötzlich, was den Jungen zu irritieren schien. Man konnte regelrecht sehen, wie er die Worte in seinem Geist drehte und schließlich die richtige Antwort fand. „Ju-les“, sagte er kurz und in Silben zerteilt. „Ja, Jules ist dein Name und ich bin dein Onkel. Du weißt was ein Onkel ist?“ bohrte Géralds weiter, woraufhin Jules unsicher den Kopf schüttelte. „Ein Onkel ist der Bruder deiner Mutter. Ich werde mich ab jetzt um dich kümmern und dich mit nach Hause nehmen. Du wirst nicht hier bleiben.“ Die Entscheidung war spontan gefallen, im gleichen Augenblick, als Gérald klar geworden war, dass er dieses Kind, Hélènes Sohn, so würde formen können wie es ihm beliebte. Er würde alles mit ihm tun können was er wollte und wenn sich ihm Hélène schon entzogen hatte, ihr Sohn würde es nicht. Er trat an das Kind und berührte die weichen, schwarzen Locken, was Jules leicht zusammen zucken ließ. „Keine Angst. Ab heute werde ich mich um dich kümmern“, sagte er sanft und lächelte, bevor er sich abwandte und das Zimmer verließ, den Knaben auf dem Boden zurücklassend. Monsieur Bettencourt hatte sich mit den Chevier in die Stube des Bauernhauses verzogen und sie offenbar ordentlich zurecht gewiesen, denn sie wirkten blass und nervös, als Gérald den Raum betrat und seine Handschuhe anzog. „Sie beide haben sich mehr schlecht, den recht um meinen Neffen gekümmert“, sagte er kühl und verbarg seine Abscheu nicht, welche die beiden alten Bauersleute den Kopf sinken ließ. „Ich gedenke nicht ihn auch nur eine Stunde länger als nötig hier zu lassen. Sie hätten sich an Monsieur Bettencourt wenden sollen, wenn sie mit der Erziehung, meines Neffen überfordert waren. Die Auslagen, welche sie für seinen Unterhalt erhalten haben, waren mehr als großzügig, doch wie mir scheint haben sie nichts davon für ihn verwendet. Madame Chevier suchen sie etwas angemessenes für Jules zum anziehen, denn in seiner derzeitigen Garderobe kann er unmöglich reisen.“ Monsieur Bettencourt war erstaunt über die Wandlung seines Arbeitgebers, wie man es an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte, doch Gérald war es einerlei. Er verließ die Küche und die beiden Männer folgten im. Keine fünf Minuten später zerrte Madame Chevier Jules am Arm aus dem Haus, der sich wehrte und weinte. Sie hatte das Hemd welches er schon vorher angehabt hatte, in eine viel zu kurze Hose gestopft, was den Knaben seltsam unförmig wirken ließ. „Jules!“ rief Gérald und streckte die Hand nach Jules aus, der augenblicklich still wurde und zu ihm hinüber blickte. Noch ganz unsicher auf den Beinen schwankte er zu seinem Onkel, der bei der Kutsche stand. Als ihn jedoch Monsieru Bettencourt hochhob, um in die Kutsche zu helfen, begann er wieder zu weinen. Erst als Gérald neben ihm platz genommen hatte beruhigte sich das Kind wieder, schmiegte sich an seinen Onkel, der großzügig seine Hand auf seine schmale Schulter legte. Die beiden Cheviers standen auf dem Hof und verneigten sich, was Gérald nicht mehr zur Kenntnis nahm. Er blickte aus dem Fenster und hörte den Entschuldigungen seines Anwalts gar nicht mehr zu. In seinen Augen hatte sich die reise nun doch gelohnt, wenn auch auf eine andere Art und Weise, als vielleicht Monsieur Bettencourt dachte. Hélène hatte sich ihm entziehen können, dachte Gérald boshaft, aber ihr Kind, das würde er nach seinem Gutdünken formen und behandeln, bis der Schmerz seine verschmähte Liebe endlich geheilt wäre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)