Der Puppensammler von Asmodina ================================================================================ Kapitel 1: Verstoßen -------------------- Verzweifelt rang die siebenjährige Ningyo mit dem Kopf in die Hände und schluchzte bitterlich. Heiße Tränen liefen über ihre vor Kälte geröteten Wangen, während das grabende Geräusch der Schaufeln in ihren Ohren schmerzte. Alles in ihr wollte jedes Mal zusammenzucken, doch ihr Körper war starr, starr vor Trauer und starr vor Kälte. „Mama“ Erstickt verließ das Wort ihre Kehle und die unschuldigen, braunen Augen schauten hoch zu ihrem Vater, welcher in fast wehmütiger Haltung neben ihr stand. Er erwiderte zwar den Blick, doch es lag keine Liebe darin, sondern tiefe Abneigung und ein winziger Funke tödlichen Hasses. Ningyo wich einen Schritt zurück, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Ihre rosigen Lippen zitterten, doch kein Laut kam über sie. Der kräftige Mann drehte sich wortlos um, ohne seine Tochter eines weiteren Blickes zu würdigen und schloss sich der übrigen Trauergemeinde, bestehend aus Verwandten und Freunden, an. Vereinzeltes Weinen war zu hören und die älteren Frauen mussten von ihren Ehemännern gestützt werden. Das kleine Mädchen tat ihr Bestes, um ihrer verbliebenen Familie zu folgen, doch es gelang ihr nicht so recht, zumal sie unter keinen Umständen das schwarze Kleidchen dreckig machen wollte. Schließlich hatte ihre Mutter es eigens für sie genäht. „Eine Prinzessin muss auch in Zeiten der Trauer hübsch aussehen und Würde ausstrahlen“, hatte sie immer gesagt und dabei sanft gelächelt. Auch wenn Ningyos Vater und die Verwandten eifrig gemeckert und kritisiert hatten; das Kleid war trotzdem nach ihren Vorstellungen gestaltet. Es reichte dem kleinen Mädchen knapp bis zu den Waden und der Rockteil war mit feinster, weißer Spitze gesäumt, welche einen schönen, leichten Kontrast zu dem dominanten, pechschwarzen Samt bildete. Das langärmlige Mieder war hochgeschlossen und am Vorderteil mit einzelnen Brokatapplikationen sowie kostbaren Borten verziert. Aber jenes, was Ningyo von den übrigen Gästen unterschied, war nicht einmal das Kleid selbst, sondern die dazugehörige Haube. In ihrer Verarbeitung wurde nicht nur das edle, wertvolle Schema des Kleides fortgesetzt; sie war auch so groß, das sie Ningyos Kopf fast vollständig bedeckte und nur seitlich ihre langen, dunkelblonden Haare freiließ. Das kleine Mädchen versuchte vergeblich, mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Es drehte sich nicht einmal jemand nach ihr um. Eisige Kälte erwachte in Ningyos kleinem Herzen, erschöpft kamen ihre Beine zum Stehen. Ihr Atem malte nebelartige Schwaden in die Luft und ihre Tränen gefroren regelrecht zu Eis. Denn sie wusste um ihre große Schuld; ihre Existenz hatte ihrer geliebten Mutter den Tod gebracht. Ningyo fröstelte, doch nicht vor Kälte. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Tanten: „Sie hätte niemals schwanger werden dürfen. Dieses kleine Miststück hat die Lebensenergie regelrecht aus ihr heraus gesaugt!“ Die Blicke, welche sie dem kleinen Mädchen nach diesen Sätzen zugeworfen hatten, waren wie blitzende Dolche gewesen, und Ningyo war verschreckt weggelaufen. Als Nächstes war ihr aufgefallen, dass ihre Mutter immer öfter und länger im Bett gelegen hatte und trotzdem konnte das kleine Mädchen sich gut an ihre zärtlichen Berührungen erinnern. Am Ende verblasste ihre Schönheit zu lieblosem Grau und jetzt war ihre Mutter oben im Himmel bei den Engeln, daran glaubte Ningyo felsenfest. Diese Vorstellung tröstete sie zwar, minderte jedoch nicht die Angst vor ihrem Vater. Das kleine Mädchen wusste; ihr Zuhause gab es nicht mehr. Es war verschwunden, ebenso wie ihre Mutter. Sie war dort nicht mehr willkommen. Ein letztes Mal schluchzte Ningyo auf, ehe sie sich umdrehte und einfach rannte. Ihre kleinen Beine trugen sie quer über das Feld, mitten durch den hohen Schnee und ohne ein wirkliches Ziel. Stunden…Gedanken…Erinnerungen, alles löste sich auf und existierte nicht mehr, es zählte nur noch die Flucht. Eine scheinbare Ewigkeit verging, ehe das kleine Mädchen wieder nach oben blickte. Ihre Füße waren rot gefroren und schmerzten, doch wenigstens ihre Tränen waren versiegt. Mit großen, unschuldigen Augen betrachtete Ningyo die Stadt, welche für sie viel gewaltiger schien als sie in Wirklichkeit war. Auch hier lag Schnee, trotzdem war die Luft weniger eisig. Menschen belebten die Straßen, redeten miteinander oder gingen in den Geschäften ein und aus. Jene neuen, fremdartigen Eindrücke machten Ningyo Angst, ließen sie aber zugleich auch neugierig werden. Vor einem Süßigkeiten- Laden blieb das kleine Mädchen stehen und drückte ihre Nase gegen die Fensterscheibe, fasziniert von der bunten, klebrigen Pracht, welche sich vor ihr aufbaute. Bei diesem verlockenden Anblick knurrte ihr Magen und zum ersten Mal seit ihrer übereilten Flucht stellte Ningyo sich die Frage, wohin sie nun gehen sollte. Ein Zuhause gab es nicht mehr und ebenso wenig jemanden, der für sie sorgen konnte oder es wollte. Ihre Verwandten teilten die Ansicht ihres Vaters, das wusste sie. Laut schluchzte das kleine Mädchen auf und rannte blindlings nach vorne, wobei es an ein Wunder grenzte, dass sie von keiner Kutsche überrollt wurde. Zahlreiche Passanten drehten sich nach ihr um, aber niemand fragte nach den Gründen. Erst nach einer ganzen Weile blieb Ningyo stehen und blickte verloren zu den finsteren Häusern empor. Fast alle Fenster waren hell erleuchtet, doch kein einziges lächelte sie an. Die Tränen verschleierten ihre Sicht und Ningyo bemerkte nicht, dass sie nicht alleine war. „Warum weinst du, mein Kind?“, riss eine wohl temperierte Stimme sie aus ihren Gedanken. Schüchtern hob Ningyo den Kopf und schaute in die braunen Augen eines etwa 30jährigen Mannes. Seine kurzen, leicht unregelmäßig geschnittenen Haare waren ebenfalls dunkel, genau wie seine Kleidung, wobei dort momentan ein schwerer, grauer Lodenmantel dominierte. Seine Gesichtszüge waren für einen Mann ungewöhnlich sanft und erinnerten beinahe an eine Frau. Ningyos Lippen bebten und anstatt auf die Frage zu antworten, schlang sie ihre dürren Ärmchen einfach um die Hüften des Fremden und vergrub ihren Gesicht in dem kratzigen Stoff. Dieser war zwar etwas überrascht, ließ die Geste jedoch zu und legte sogar den Arm um ihre Schultern. „Ich glaube, du brauchst eine Tasse heiße Schokolade“, sagte er, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, „Komm mit zu mir nach Hause. Du bist vollkommen durchgefroren!“ Das kleine Mädchen zögerte einen kurzen Augenblick, schließlich hatte der Vater ihr verboten, mit Fremden mitzugehen. Aber er war nicht hier und würde es nie mehr sein und fast hypnotische Stimme des Fremden errang ihr Vertrauen. Außerdem würde sie sonst vor Hunger sterben. Ningyo rang sich ein schüchternes Lächeln ab und ergriff die dargebotene Hand. Gemeinsam schritten sie durch die Winternacht. Von einem großen, imposanten Gebäude blieben sie stehen und der Fremde zog einen goldenen Schlüssel aus der Manteltasche. Die Tür öffnete sich mit einem unheimlichen Knarren, trotzdem strömte ihnen aus dem Inneren des Hauses eine ungewohnte Wärme entgegen. Jene nahm dem kleinen Mädchen die letzten Zweifel und sie folgte ihrem Retter. Als sie in der großen Halle standen, verschlug es Ningyo fast die Sprache; auch wenn der Raum an sich recht dunkel gehalten war, leuchtete und blinkte es überall. Es schien fast, als wären in das Holz Edelsteine eingebaut worden. „Was ist das?“, fragte Ningyo mit kindlicher Naivität und ihre Augen ertranken beinahe in der Faszination. Der Fremde drehte sich nach ihr um, „Glas, Kristalle und die Magie der Reflektion“, lautete die sanfte Antwort, „komm lass uns in den Salon gehen. Ich werde meine Dienerschaft mit dem Imbiss beauftragen!“ Er führte sie in einen weiteren Raum, welcher der Inbegriff der Beharrlichkeit zu sein schien; der Kamin war doppelt so groß wie gewöhnlich und ein riesiges Feuer brannte darin. Das ganze Zimmer war hell erleuchtet, jedoch nicht mit Kerzen, sondern mit seltsam orange glühenden Steinen. Auf dem schwarzen Holz der Regale saßen hunderte von Puppen, mit blonden Haaren, mit dunklen Haaren, in Dienstmädchen- sowie in vornehmer Kleidung. Gebannt streckte Ningyo die Hand danach aus, noch nie hatte sie eine Puppe berührt geschweige denn besessen. „Gefallen sie dir?“, erkundigte der Fremde sich wohlwollend, „später kannst du mit ihnen spielen. Aber zunächst sollten wir uns eine kleine Stärkung gönnen, meinst du nicht auch?“ Ningyos Mund verzog sich leicht vor Enttäuschung, aber als ein Diener mit einem reichlich gefüllten Tablett das Zimmer betrat, hellte ihre Miene wieder auf. „Danke Yasuno“, entgegnete der Fremde scheinbar emotionslos und setzte sich dem kleinen Mädchen gegenüber auf einen Sessel. Die Malzeit bestand aus belegten Broten und kandierten Früchten. Als Getränk gab es Schokolade mit Sahne. Wie ein ausgehungertes Wolfsjunges stürzte Ningyo sich drauf und vergaß dabei ihre Manieren, was ihren Gastgeber jedoch nicht störte. Erst, als sie sich satt gegessen hatte, ergriff der Fremde das Wort: „Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt“, formell streckte er ihr die Hand entgegen, was aufgrund der Tatsache, das er Ningyos Vertrauen besaß, fast lächerlich wirkte, „Ich bin Keiyuu!“ „Ningyo“, antwortete das kleine Mädchen tonlos und spielte nervös mit ihren Händen. Ihr Retter kniete sich vor ihr hin: „Wo kommst du her? Und was machst du um diese Zeit allein in der Stadt?“ „Ich bin böse“, entgegnete Ningyo mit einer, für ein Kind erschreckenden, Kälte, „ich habe meine Mutter umgebracht!“ Keiyuu hob die Augenbrauen und gab sich Mühe, nicht zu lachen; diese Aussage war einfach zu absurd: „Wieso meinst du, das du sie umgebracht hast?“ Seine Stimme klang vollkommen ruhig. „Mit meiner Geburt habe ich ihr alle Lebensenergie entzogen. Mein Vater und meine Tanten hassen mich dafür; ich bin ein Miststück!“ Jetzt musste der junge Mann doch grinsen; nicht, weil ihn die Tragik dieser Aussage unberührt ließ, sondern weil er innerlich den Kopf schüttelte über soviel Dummheit; einem Kind die Schuld an etwas zu geben, was eine rein medizinische Ursache hatte. Außerdem hatte sie ihre Eltern nicht um ihre Geburt gebeten. Leider war die Menschheit nicht so wissensdurstig und belesen wie er, Keiyuu, selbst. Im Gegenteil, nur allzu oft verschlossen sie die Augen vor der Wahrheit und schoben den Glauben als Ausrede vor. Unschuldige wie das kleine Mädchen waren die Leidtragenden. Obwohl Keiyuu sich Ningyos Reaktion nicht gewiss sein konnte, umarmte er sie zärtlich. Zu seiner Erleichterung schlang die Kleine ihre Ärmchen um seinen Nacken und bettete den Kopf auf seine Schulter. Ein leises Schluchzen war zu hören. Sanft strich der junge Mann über ihre langen Haare: „Es wird alles wieder gut“, seine Stimme war ein unheimliches und doch beruhigendes Flüstern, „du kannst bei mir bleiben!“ Etwas verwundert musterte die Kleine ihn, ihre kindlichen Sinne sträubten sich, witterten eine unbekannte Gefahr. Doch andererseits; welche Wahl hatte sie? Ihr Zuhause gab es nicht mehr und auf der Straße gab es keine Überlebenschance. Ningyo lächelte und drückte Keiyuu einen vertrauensseligen Kuss auf die Wange: „Ich freue mich, wenn ich bleiben darf!“ Ihr Gegenüber lachte verlegen und errötete leicht; solche Gesten war er nicht gewohnt. „Magst du Musik?“, fragte Keiyuu nach einer Weile. Er musste sein Vorhaben durchziehen und zwar so schnell wie möglich; dieses Kind war pfiffiger als die anderen und sie ahnte etwas. Sanft, aber bestimmt nahm der junge Mann Ningyo am Arm und führte sie in das Musikzimmer. Jenes war mit unzähligen Kerzen erleuchtet, dessen Licht vom gläsernen Boden reflektiert wurde. Dem kleinen Mädchen verschlug es die Sprache; es schien, als würde sie in einer riesigen Lichtkugel stehen. Keiyuu setzte sich an den ästhetisch schwarzen Flügel und stimmte die ersten Töne von Chopins „Nocturne“ an. Ningyo zuckte zusammen und Tränen stiegen in ihre Augen; dieses Stück hatte ihre Mutter immer für sie gespielt, trotz eines Verbots ihres Vaters. Doch schon nach kurzer Zeit nahm Keiyuus Interpretation sie gefangen; sein Spiel war kraftvoll und von Leidenschaft durchzogen. Die ewige Finsternis, kombiniert mit dem schwachen Licht der Hoffnung waren fast stofflich spürbar. Man brauchte nur die Hand ausstrecken und sie berühren. Wie in Trance sah das kleine Mädchen, wie der Deckel des Flügels sich selbstständig öffnete und kleine, blau – weiß funkelnde Sterne daraus emporstiegen. Eine tröstende Wärme ging von ihnen aus, zögernd nahm sie einen auf die Hand. In dieser Sekunde verschwand Ningyos Welt im Nichts und würde niemals wiederkehren. Verträumt spielte Keiyuu die letzten Akkorde des Stückes, ehe er aufstand. Mit schweißnassen Händen hob er die Puppe, welche einst Ningyo gewesen war, vom Boden auf. Die Verwandlung hatte ihrer unschuldigen Anmut keinen Abbruch getan, zärtlich wiegte Keiyuu sie in seinen Armen und küsste ihre Wangen. Aber diesmal leuchtete in seinen Augen nicht der übliche Triumph, sondern eine tiefe Gram. Erstmalig hasste er seine magischen Fähigkeiten, welche außerhalb der häuslichen Mauern als „Teufelsgabe“ verschrien waren. Obwohl er selbst nichts Böses an seinem Tun fand. Draußen hätte keines dieser Kinder eine Chance zu Leben gehabt…bis auf Ningyo. Einzig allein die Engstirnigkeit der Menschen hatte es verhindert. Eine Träne rann über seine Wange, als Keiyuu das neueste Stück seiner Sammlung ins Regal stellte. Wenigstens hatte sie jetzt ein Zuhause und würde bei ihm bleiben…bis ans Ende der Zeit. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)