Nachts wird alles größer von Caro-kun ================================================================================ Kapitel 1: ****** ----------------- Nicole rannte. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht und durch ihr schwarzes gelocktes Haar, doch das beachtete sie nicht. Sie musste einfach raus. Raus aus dem Krankenhaus, den sterilen Gängen und dem Zimmer, in dem in jeder Ecke der Tod lauerte. Sie hätte das alles keinen Augenblick länger ertragen. Nach Atem ringend war sie schließlich gezwungen das Tempo zu verringern. Nicole sah sich um und brauchte nicht lange, um ihre Orientierung wiederzufinden. Sie war blindlings der Straße gefolgt und nun im Park gelandet. Die Äste der großen Laubbäume rauschten leise in der kühlen Nachtluft. Ein Geräusch, das sie sonst liebte, aber jetzt in der Dunkelheit … Sie fröstelte. Ob es schon Mitternacht war? Es kam ihr so vor, als hätte sie eine Ewigkeit an dem Bett gesessen und die gebrechliche alte Hand in ihrer gehalten. Anfangs war sie zuversichtlich gewesen, hatte den Ärzten nicht glauben wollen, sondern lieber an ihren eigenen Hoffnungen festgehalten. Sie hatte ihrer Mutter ganz leise Geschichten erzählt und immer wieder beteuert, dass alles gut werden würde, auch, wenn diese seit Stunden die Augen nicht mehr geöffnet hatte. Doch als die Sonne untergegangen und der Atem, der alten Frau hörbar schwächer geworden war, da war von Nicoles Mut nicht mehr viel übriggeblieben. Und irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war weggelaufen. Hinaus in die Nacht. Aber hatte es etwas genützt? Nein, nicht im Geringsten. Aufschluchzend klammerte sie sich mit der Hand an der Lehne einer Parkbank fest. Die Sorge schien hier in der Dunkelheit sogar noch drückender als in dem Krankenzimmer. Nicole fühlte sich so unsagbar hilflos, wie schon lange nicht mehr und dabei stand sie doch schon seit einigen Jahren, mit beiden Beinen fest im Leben. „Ich hab solche Angst!“, flüsterte sie sich genau die Worte zu, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf hallten. „Ich auch.“ Vor Schreck machte die junge Frau einen Satz rückwärts. Mit laut pochendem Herzen wurde sie der Gestalt auf der Bank gewahr. Ein Junge im Teenageralter saß dort, die Hände ineinander verschränkt und leicht vornübergebeugt, sodass ihm die dunklen Haare in die Augen fielen. Er hatte die Worte ganz ruhig ausgesprochen. Jetzt drehte er den Kopf und sah Nicole, mit einem leicht gequälten Lächeln auf den Lippen an. Und die hatte plötzlich das Gefühl, wieder leichter atmen zu können. „Warum?“, fragte sie zaghaft und ging ein paar Schritte, bis sie ihm gegenüberstand. „Weil sie mich hier eigentlich ganz leicht finden könnten.“, der Junge beobachtete Nicole dabei, wie sie sich neben ihn auf die Sitzfläche stellte, um sich dann auf die Lehne zu setzten, „Die Anderen.“ „Jungs aus deiner Klasse?“, erst jetzt bemerkte sie sein blaues Auge und die aufgeplatzte Unterlippe. Das waren sicher mehrere gewesen. Er schüttelte den Kopf: „Zwei Jahrgänge drüber!“ „Weshalb gehst du dann nicht nach Hause?“ Hätte sie sich bei Tageslicht und unter den sonstigen vielen Menschen, ebenso für seine Geschichte interessiert? Sie kannte ihn schließlich gar nicht. Ließ es sich nachts und nur zu zweit, in ähnlicher Situation, etwa besser reden? Oder war sie lediglich über jede Ablenkung dankbar, die sie bekommen konnte? Auf ihre Frage gab ihr der Junge zunächst keine Antwort. „Wollen Sie mir nicht lieber zuerst erzählen, wovor Sie flüchten?“, seine Stimme klang immer noch ruhig. Nicole schluckte, aber dann öffnete sich ihr Mund ganz von alleine. „Meine Mutter, sie stirbt …“, schmerzlich zog es ihr die Kehle zusammen und das nächste Wort konnte sie nur noch krächzen, „ … gerade …“ Aus seinem nicht verletzten Auge sprach Verständnis. „Auch ein guter Grund zum Weglaufen!“, murmelte er. „Nein, eben nicht!“, sie schüttelte heftig den Kopf und nun flossen auch endlich die lang zurückgedrängten Tränen, „Es ist einfach nur egoistisch und feige!“ „Weglaufen ist immer feige!“, schon wieder war da dieses gequälte, verstehende Lächeln, „Aber wenn man keinen anderen Ausweg weiß, vielleicht manchmal gar nicht so blöd!“ Er reichte ihr ein Taschentuch, das sie mit zitternder Hand annahm. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt will, dass sie überlebt.“, begann Nicole geradeheraus zu erzählen, einfach nur so, weil es gut tat darüber zu reden, „Sie hat starke Schmerzen, weißt du … Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht sogar besser wäre, wenn sie …“, erneut brach ihr die Stimme. Der Junge nickte seufzend und hatte dabei den Blick gedankenverloren nach vorne ins Leere gerichtet. „Er wird wissen, was er tut!“, meinte er schließlich. „Wer?“, fragte sie stirnrunzelnd, obwohl in ihr eine leise Ahnung aufkeimte. Doch konnte das sein? Ihr Gedanke sollte sich bestätigen. „Gott!“, antwortete er ihr mit fester Stimme. „Du … glaubst?“, die Überraschung war ihr anzusehen, „Haben sie dich deswegen verprügelt?“ „Nein!“, lachte er kurz auf, „Sie haben mich verprügelt, weil ich ein Einzelgänger bin und mein Vater Geld hat. Würden sie wissen, dass ich Christ bin, würden sie mich vermutlich umbringen.“ „Das ist nicht dein Ernst!“, keuchte Nicole erschrocken. „Doch. Mein voller Ernst! Wir sind Abschaum.“ „Unsinn!“, stieß die Schwarzhaarige hervor und packte ihn an der Schulter. Aber er widersprach: „In ihren Augen schon! Die sind gegen alles, was gut und ehrlich ist: Wenn du jemandem Geld zurückgibst, was er verloren hat, bist du dumm. Wenn du deiner Großmutter die Einkaufstüten trägst, bist du ein Waschlappen und wenn du in Gottesdienste gehst, die Bibel liest und dich an Illusionen und Hirngespinste klammerst, bist du krank! Das ist einfach so.“ Er war nicht laut geworden. Er hatte ganz sachlich gesprochen, so als hätte er sich inzwischen damit abgefunden, niemals etwas daran ändern zu können. Nicole erinnerte sich daran, in welcher Körperhaltung sie ihn vorgefunden hatte. „Du hast gebetet!“, stellte sie leise fest. „Ja. In der Stille der Nacht kann ich leichter beten!“, erklärte er sanft, „Ich bilde mir dann ein, meine Gedanken würden viel lauter und klarer zu ihm gelangen.“ Für einen kurzen Moment konnte ihn die junge Frau nur stumm bewundern, dann kam ihr eine Idee. Eine Idee, wie sie ihrer Mutter vielleicht doch noch helfen konnte. „Wie heißt du?“, fragte sie. „Marc.“, er antwortete ohne zu zögern. „Marc, könntest du …“, ihre verdammte Stimme wurde schon wieder rau, „könntest du beten? Für meine Mutter?“ „Dass ein Wunder geschieht und sie doch noch überlebt?“, lächelnd sah er zu ihr auf. Nicole atmete einmal tief durch. „Nein!“, beschloss sie schweren Herzens, „Dass es ihr gut geht. Egal wo, und egal wie!“ Marc schwieg für einen Augenblick. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch mit beten möchten?“, er streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Und Nicole ergriff sie, setzte sich Schulter an Schulter neben ihn und lauschte mit geschlossenen Augen seinen Worten. Er hatte Recht behalten: Vielleicht war es manchmal doch nicht das Schlechteste wegzulaufen. Um Abstand zu dem Unausweichlichen zu gewinnen und Anlauf zu nehmen. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)