Einmachglas von yoshi_ ================================================================================ Eins. (Hannah) -------------- „Man ey!“ Lindas Stimme kiekste leicht hysterisch und ich hörte ungutes Gerüttel aus der Küche. „Was denn?“ „Ich wollte nur den Schrank saubermachen!“ „Und?“ „Von innen!“ Ich sah Schreckliches kommen. „… Und?“ „Die Schublade ist rausgekommen und geht jetzt einfach nicht mehr rein!“ „Soll ich dir helfen?“ Ungefähr fünf Sekunden Stille, ich konnte praktisch hören, wie sie die Vorteile gegen die Nachteile abwog. Der Vorteil: Ich hatte die Schublade repariert. Der Nachteil: Ich hatte die Schublade repariert. Geduldig wartete ich ihre Überlegungen ab und malte mit einem blauen Kuli allen Politikern auf der Tageszeitung einen Schnurrbart. Linda rüttelte nochmal versuchshalber an dem Objekt ihres Ärgernisses. Dann: „Was willst du dafür?“ Ich grinste und wackelte mit den Augenbrauen, bis mir einfiel, dass sie das aus dem Nebenzimmer ja gar nicht sehen konnte. „Wilden, heißen, schmutzigen Sex natürlich. In der Badewanne.“ „Wir haben gar keine Badewanne!“ „Oh, tja, dann…“ Linda machte ein Geräusch, irgendwo zwischen Lachen und Jammern. „Jetzt mach‘ einfach die Scheißschublade wieder rein.“ Kichernd erhob ich mich und ging in die Küche. „Ist ja gut…“ Zwei. (Hannah) -------------- Draußen wüteten Sturm und Regen um die Wette. Alle paar Minuten erhellten Blitze das Schlafzimmer, schnitten gestochen scharf unsere Einrichtung in Schattenstücke, leuchteten jeden Winkel aus, der dafür nicht von Schwärze überschwemmt wurde. Dann nur Regen... Ich zählte leise im Kopf die Sekunden. Und: Donnergrollen bis in den Bauch, auditiver Zenit dieses Nachtkonzertes. Linda verschlief all das, ohne mit der Wimper zu zucken. Halb im Kissen versunken und die Haare wirr überall, das Gesicht ganz glatt, sah sie fast ein bisschen fremd aus. Aber so friedlich. Ich lehnte an der Wand, die Knie angezogen und nur noch halb unter der Decke wachte ich heimlich über ihren Schlaf. Und im Stillen war ich davon überzeugt, dass ich grade der einzige Mensch auf der Welt war, der nicht schlief, dass ich als Einzige diesen Moment für mich ganz alleine hatte - draußen der Sturm und neben mir das Mädchen, das mich so sprachlos machte. Drei. (Hannah) -------------- „Ach du Scheiße.“, rutschte es aus mir heraus, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Ich schlug die Autotür zu. Linda nickte finster. „Worauf du dich verlassen kannst.“ Der Weg über die Einfahrt erschien mir viel zu kurz, obwohl sie nahezu lächerlich lang war. Als ob im Sommer drei Oldtimer darauf Platz nehmen sollten. Vielleicht taten sie das ja auch. Linda setzte den ausgestreckten Zeigefinger auf die Messingklingel - es schrillte - und hielt ihn dort einen Moment länger als nötig gewesen wäre. Mein Herz klopfte ungesund. Ich hatte das Verlangen, meine Hände in den Taschen zu verstecken, weil sie sich kalt und schwitzig anfühlten. Ein Schemen bewegte sich hinter den Milchglasfenstern in der Haustür und Linda neben mir streckte sich ein wenig. Ich hatte eher das Gefühl, zu schrumpfen. Sicherheitsschlossentriegelungsklicken. Linda nahm meine Hand. Ich sah sie an. Sie blickte zur Tür. Ich auch. Ihre Mutter öffnete uns. Linda ließ nicht los. Vier. (Linda) ------------- Sie ertrug es. Den knallharten Blick aus den Elsteraugen meiner Mutter beim Öffnen der Tür, der sie von oben bis unten musterte. Die Tatsache, dass mein Elternhaus eine Eingangshalle hatte. Samt Teppich und Ahnengemälden. Es gab sogar eines von mir - abgemalt von einem Foto, für das ich mich hatte bezahlen lassen, als ich zwölf Jahre alt war („Dieses Kleid ziehe ich nur an, wenn ich ein Kaninchen kriege“). Sie ertrug es. Auch den Whiskey, zu dem mein Vater sie noch vor dem Essen nötigte. Mit dröhnender Stimme und gestelztem Lachen. Die Art meiner Mutter, Gespräche ersterben zu lassen („Und Ihre Brüder sind was von Beruf...?“ - „Sie gehen beide noch zur Schule.“ - „Ah, noch zur Schule, achso.“). Sie ertrug das alles und wich so gut es ging den Fallen aus, die mein Vater ihr stellte: hinterlistige Fragen zu meiner Person, die entweder darauf hinausliefen, dass Hannah seine einzige Tochter beleidigte oder sich zu sehr auf die Seite seines missratenen Sprosses schlug. Aber nichts, was zu lautstarken Auseinandersetzungen geführt hätte. Der Abend lief insgesamt besser, als ich es erwartet hatte. Und dann setzte meine Mutter ihr Weinglas ab und faltete die Hände vor ihrem unberührten Desert: „Und was hatte es mit dem Händchenhalten bei eurer Ankunft auf sich?“ Klirrend fiel mein Löffel zurück auf den Teller, während Hannah mir gegenüber in ihre Serviette hustete. Mein Vater hob die Augenbrauen. „Linda?“ Mein Kopf war leer. Ich fühlte mich wie in einem Film - Sky du Mont und Gudrun Landgrebe in den Rollen meiner Erzeuger, ein Close-Up-Shot von meinem vollkommen überrumpelten Gesicht, gleich würde das Weinglas in meiner Hand zerplatzen... „Nur zur Versicherung.“ Die Köpfe meiner Eltern bewegten sich unisono. Hannah lächelte und ertrug tapfer volle acht Sekunden Stille. „Vielen Dank für das Essen. Es war wunderbar.“ Fünf. (Linda) ------------- „Nein. ... Nein. ... Oh warte, lass mich überlegen. ... Nein, immer noch nicht.“ Eigentlich hatte ich lernen wollen. Aber Hannah im Nebenzimmer telefonierte viel zu laut. „Weil ich keine Zeit hab, mann, ich muss noch-“ Ihre Stimme kam näher und ich hob den Kopf, um sie hereinkommen zu sehen. „Tja, Pech. Dann müsst ihr euch ‘nen andren Dummen suchen.“ Ihre Haare waren vollkommen zerstrubbelt und sie trug ein riesiges, graues T-Shirt. Und Unterwäsche. Jap, das war Hannah: Sonntagmorgen, 14:57 Uhr: immernoch in Schlafsachen. „Was hat das mit meinem Ton zu tun?!“ Wahrscheinlich nahm sie mich gar nicht wahr, jedenfalls warf sie sich aufs Bett, ohne Augenkontakt mit mir aufzunehmen. „Ich finde überhaupt nicht, dass- moargh.“ Das letzte genervte Geräusch wurde davon erstickt, dass sie sich das Kissen ins Gesicht gezogen hatte. Hannah streckte die nackten Beine in die Luft und versuchte, sich die Socken nur mit Füßen auszuziehen. Immernoch erstickt: „Wie bitte?!“ Kissen beiseite, nach Luft schnappen. „Alter, ich hab da eine verdammte Generalprobe und kann nicht - ich wiederhole es EXTRA für dich so DEUTLICH wie ich kann: NICHT aufpassen, dass meine beschränkten Brüder pünktlich nach Hause kommen! NICHT!“ Einen Moment Stille, dann starrte sie das Telefon an. „Ja, kein Problem, leg einfach auf. Arschpenis.“ Sie hatte die Beine immer noch in der Luft, als hätte sie sie da vergessen. Ich stand auf und ließ mich neben sie fallen. „Er ist einer. Brauchst mich gar nicht so anzugucken. ... Was?!“ „Nichts.“ Ich hab dich nur so lieb. Sechs. (Linda) -------------- In meinen Augen gab es so etwas wie eine zwischenmenschliche Beziehung ohne Geheimnisse nicht. Ich hatte immer Geheimnisse vor meinen Eltern gehabt (zum Beispiel, dass ich konsequent einen anderen Schulweg ging als den, den sie mir vorgegeben hatten), ich hatte immer Geheimnisse vor meinen Freundinnen gehabt (zum Beispiel, dass mein blaues Auge damals nicht von einem Trainingskampf, sondern von purer Blödheit in Verbindung mit einem Schirm herrührte), und ich hatte auch Geheimnisse vor mir selbst gehabt (zum Beispiel, dass ich Hannah schon immer ziemlich gut fand). Und so hatte ich auch meine Geheimnisse vor Hannah. „Heho?“ „Mh?“ Ich sah auf. Sie stand mit dem Geigenkasten über der Schulter in der Tür. „Ich geh‘ üben.“ Hannah schloss sich zum Üben ins Schlafzimmer ein, weil sie es nicht mochte, wenn man ihr dabei zuhörte. Zu unperfekt, behauptete sie. „Alles klar“, erwiderte ich und lächelte harmlos. Hannah schöpfte keinen Verdacht, lächelte zurück und verschwand. Angestrengt lauschte ich auf die Türen und verließ auf Zehenspitzen die Küche, als ich sicher war, dass sie die Tür zu ihrer Musikblase verschlossen hatte. Ich schlich hinter ihr her und ließ mich neben der Schlafzimmertür zu Boden sinken, um ihr zuzuhören. Mein schlechtes Gewissen hob den Kopf und bellte mich grimmig an - ich warf ihm eine Salami zu und es versank in gefräßigem Schweigen. Mein Geheimnis vor Hannah war (zum Beispiel), dass es in Bezug auf sie für mich kein unperfekt gab. Sie musste ja nicht alles wissen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)