Ausgerechnet Er... von Corab ================================================================================ Kapitel 11: Endspiel -------------------- Stille. Schwärze. Als der Detektiv wieder zu sich kam, waren dies die ersten Dinge, die er wahrnahm. Dann kam Schmerz hinzu. Ein stechender, beißender Schmerz. Ein Schmerz, der wie ein Messer in Kogoro Moris dröhnenden Schädel stach. Er wollte sich an den Kopf fassen, doch konnte seine Hände nicht bewegen. Raue Fasern drückten sie in ihren Platz. Schon wieder wachte er gefesselt auf. Das passiert mir definitiv zu oft. Außerdem spürte er einen Druck auf seinen Armen, ein Gewicht, das, wie er schließlich erkannte, sein eigener Körper war. Unter seinen Händen spürte er Leder, was nur bedeuten konnte, dass er nicht mehr am Boden vor seiner Detektei lag. Aber wo war er dann? Wirklich, das passiert mir zu oft, seufzte er gedanklich, als die Stille sich langsam in ein gleichmäßiges Brummen verwandelte, die Schwärze einem verschwommen Gemisch der Farben wich und schließlich auch der Schmerz zu einer sanften Taubheit wurde. Er erkannte jetzt, dass er auf der Rückbank eines Autos lag. Der Versuch Moris, sich aufzurichten scheiterte an weiteren Fesseln, die jegliche Bewegung unmöglich machten. Unfähig, einen Blick auf den Fahrer zu werfen, schöpfte Kogoro seine letzte Option aus: Er schrie ihn an. „Hey! Wer zur Hölle sind Sie? Was wollen Sie von mir?“ Ein Augenpaar erschien im Rückspiegel. Musterte ihn, ruhig, kalkulierend. „Oh, Sie sind wach, Herr Mori.“ Die Stimme bildete einen merkwürdigen Kontrast aus Sanftheit und Härte, aus einer kontrollierten Wortwahl und einem gefährlichen Klang. Der Detektiv wiederholte seine Frage noch einmal, etwas eingeschüchterter. Für einen kurzen Moment herrschte Stille und er bezweifelte, dass die Stimme gewillt war, ihm zu antworten, weswegen es ihn überraschte, als sie es schließlich doch tat. „Nun, ich kann Sie beruhigen, ich beabsichtige nicht, Ihnen etwas anzutun. Nichtsdestotrotz möchte ich Sie warnen. Ich plane einen Handel, in dem Sie von entscheidender Rolle sind. Dieser Handel ist für mich sehr wichtig, also empfehle ich Ihnen, keine Umstände zu machen.“ Die Stimme war weiterhin gelassen, doch der bedrohliche Klang intensivierte sich in den letzten Sätzen und war genug, um Mori vorläufig zum Schweigen zu bringen. Ein Handel? Wovon redet der? Fragen drängten sich in seinen Kopf, Fragen, die relativ schnell über die Suche nach Erklärungsversuchen für seinen momentanen Verbleib hinausgingen. Was ist mit Eri? Da, da war doch ein Wimmern in der Detektei. Und dann, unwillkürlich spannten sich die Muskeln seines Körpers gegen die Fesseln, dieser Lichtblitz. Die Detektei. Sie ist explodiert. Oh mein Gott! „OH MEIN GOTT!“, entfuhr es ihm. „Was?“ „Was ist mit der Detektei passiert?“, brüllte Kogoro. „Sie ist in die Luft geflogen. Wer hat das getan? Und ist sie wohlauf?“ Im Rückspiegel erschien ein Lächeln. „Ich habe das getan, Herr Mori.“ Jeglicher Rest an Fassung war nun von Mori gewichen. „Dann... Dann haben Sie sie...?!“ „Aber mitnichten“, Jetzt hatte die Stimme etwas Besänftigendes. „ich kann Ihnen versichern, in der Detektei war keine Menschenseele.“ „Was?“ Konnte es sein, dass dieser Mann die Wahrheit sagte? Kogoros Gedanken überschlugen sich. Einerseits beherrschte ihn die Hoffnung, doch andererseits stellte ihm sich auch die Frage, inwieweit den Worten dieses Mannes zu vertrauen war. „Aber ich habe ein Wimmern gehört.“ Wieder zeigte das Grinsen sich im Spiegel. „Natürlich haben Sie das. Sonst hätten Sie vermutlich wohl kaum so stürmisch die Tür aufgestoßen. Dass Sie das tun war für das Auslösen der Sprengfalle aber notwendig, also habe ich ein Abspielgerät mit einer entsprechenden Aufnahme dort platziert.“ Die Enthüllung ordnete seine wirren Gedanken nicht, doch immerhin fand der Detektiv etwas mehr Hoffnung, an die er sich klammern konnte. „Das heißt also -“ „Genau. Die Bombe hat bis auf Ihre paar Kratzer niemanden zu Schaden kommen lassen.“ Kogoro wusste nicht, wie er die Aussagen dieses Mannes einzuordnen hatte. Es waren die Worte eines Mannes, der unverfroren zugegeben hatte, seine Detektei gesprengt zu haben und der ihn gefesselt in der Gegend herumfuhr. Doch er war dieser Person absolut ausgeliefert – welchen Grund hatte sie, ihn anzulügen? „Eine Sache würde mich übrigens noch interessieren, Herr Mori. Welche Person haben Sie denn genau in der Detektei erwartet?“ „Was?“ „Ursprünglich hatte ich geplant, Ihre Tochter als Lockmittel zu benutzen. Sie wäre ja meinen Informationen zufolge heute Abend um 18:00 aus ihrem Skiurlaub zurückgekommen und von ihrem Bus in der Nähe der Detektei abgesetzt worden. Ich musste mich an dieser Stelle natürlich ein wenig auf mein Glück verlassen, und hoffen, dass Sie Ihre Tochter nicht mehr anrufen, bevor Sie in den Bus steigt. Aber Sie wurden beim Benutzen einer Telefonzelle gesehen, also konnte ich den Besitz eines Mobiltelefons ausschließen, was die Anzahl der möglichen Gelegenheiten immerhin verringerte. Ansonsten musste ich mich einfach darauf verlassen, dass der unmittelbare Stress der Verfolgung Ihren Kopf anderweitig beschäftigt hält.“ Rans Erwähnung ließ Kogoro etwas erschaudern. „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Nun, ich hoffte, dass ihre Tochter Ihnen erst einfallen würde, wenn sie im Bus und somit unerreichbar wäre. Dann hatte ich vor, sie nach Ankunft bei der Detektei abfangen zu lassen. Dies hätte sie gezwungen, um 18 Uhr herum bei Ihrer Detektei zu erscheinen. Da Ran nicht aufgetaucht wäre, hätten Sie selbstverständlich im Gebäude nachgesehen -“ „- und Ihre Aufnahme gehört.“ „Genau. Doch Sie sind viel früher gekommen. Wieso das?“ „Ich, äh, habe mir nichts dabei gedacht.“ Es ist wohl klüger, Eri nicht zu erwähnen. Wer weiß schon, was dieser Typ dann tun würde? Die Augen, die jetzt im Rückspiegel auftauchten, signalisierten Unglauben. „Wie auch immer“, meinte die Stimme desinteressiert. „Auf jeden Fall sind wir jetzt da.“ Kogoro hatte aus seiner liegenden Position heraus Mühe, etwas durch die Scheiben zu erkennen, weswegen diese Aussage für ihn zunächst nutzlos war. Dennoch arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren, versuchte die Geschehnisse in einen Kontext zu bringen und einen Ausweg zu finden. Er glaubte seinem Entführer, dass er nichts von Eri gewusst hatte und sie unbeschadet war, und dieser Gedanke gab ihm ebenso Auftrieb, wie die Tatsache, dass sein Eingreifen den Plan des fremden Mannes offenbar so verändert hatte, dass Ran keine Rolle mehr darin spielte. Jetzt muss ich es nur noch selbst schaffen, aus dieser Sache rauszukommen. Die linke Seitentür wurde geöffnet und erlaubt Mori zum ersten Mal einen kompletten Blick auf den Besitzer der Stimme. Er war, milde ausgedrückt, überrascht. Die Dunkelheit des Wagens hatte dem Mann geschmeichelt, ihm Härte und Gefährlichkeit verliehen. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Tiefe Falten und Runzeln zogen sich durch das Gesicht des Mannes und verbargen beinahe das jetzt traurig wirkende Augenpaar, welches ihn musterte. So ein alter Knacker hat mich entführt?! Wenn ich diese Geschichte je meinen Enkelkindern erzählen kann, werde ich den Typen aber ein wenig bedrohlicher machen. Der „Knacker“ beugte sich nach vorne und durchtrennte die Seile, die Mori am Sitz befestigt hatten. Instinktiv rieb der Detektiv sich die schmerzenden Handgelenke, unterbrach dies aber schlagartig, als er den schwarzen Lauf der Waffe erblickte, die gefährlich glänzte. „Steigen Sie aus.“, zischte der Mann. „Aber langsam.“ Na ja, vielleicht ist er auch so bedrohlich genug für meine Enkelkinder. Langsam, wie ihm geheißen, befolgte Mori die Anweisung und richtete sich auf. Die Strahlen, die durch die getönten Fensterscheiben nicht halb so scharf gewesen waren, blendeten ihn zunächst und er war er erleichtert, jetzt schützend seine Hände verwenden zu können. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah Mori sich um, doch es gab nicht viel zu entdecken. Sie befanden sich als einzige auf einem großen Parkplatz, was er als Indiz deutete, dass sie das überfüllte Tokio verlassen hatten. „Folgen Sie mir.“, sagte der Mann und lief langsam rückwärts auf den Eingang von etwas zu, das wie eine verlassene Lagerhalle aussah. Beim Öffnen der Gebäudetür ertönte ein beängstigendes Quietschen, das Mori unwillkürlich an ein Verlies erinnerte. Die Halle war nur spärlich durch ein kleines Dachfenster beleuchtet, das bis auf die kleine Fläche direkt unter ihm die Halle komplett im Schatten beließ. Ein muffiger Geruch kam dem Detektiv entgegen und kurz glaubte er, den Schatten einer Ratte entdeckt zu haben, die sich in die Finsternis davonstahl. Wie gemütlich. „Gut“, Der alte Mann zückte ein Paar Handschellen. „setzen Sie sich hin.“ Kurz erwog Mori, Widerstand zu leisten, doch ein Blick auf den weiterhin auf ihn gerichteten Lauf der Waffe genügte, damit er sich abermals ohne Gegenwehr an den Händen und, zu seinem Leidwesen, auch den Füßen fesseln ließ. Nachdem die Arbeit getan war, zauberte der Entführer ein Mobiltelefon aus seiner Manteltasche. „Das hätten wir, dann kann ich jetzt wohl meinen Anruf machen.“ Oh man, seufzte Mori gedanklich, warum musste ausgerechnet ich in so etwas reingeraten? Schweiß und verwischte Schminke hatten Wermuts sonst ausnehmend präsentables Gesicht in eine groteske Maske verwandelt. Nervös kaute sie auf ihren lackierten Fingernägeln herum. Sie war eine brillante Schauspielerin, der es normalerweise nur zu leicht fiel, ihren Stress zu verbergen, ihn hinter einem Pokerface zu verschleiern, wie es ihr einst ein weiser Mann beigebracht hatte. Doch jetzt war sie allein und hatte keinen Nerv dafür, die Scharade nur für sich selbst aufrecht zu erhalten. Ihre wenigen Minuten der Ruhe vor dem Sturm würden ohnehin bald vorbei sein. Ihr Mobiltelefon fing an, zu piepen. Ohne Zögern nahm sie ab. „Da bin ich wieder.“ Es war Rums Stimme. „Wie schön.“, stellte sie lakonisch fest. Keine Schwäche zeigen. „Ich bin jetzt mit Mori an einem Ort. Welcher das ist, sollte herauszufinden dir ja nicht schwerfallen – ich bleibe auch brav in der Leitung. Wie steht es um meine Schwester?“ „Wir haben sie in einem unserer Krankenwagen platziert, wie“, Sie schluckte. „wie angeordnet.“ „Gut, schickt den Wagen zu meinem Aufenthaltsort.“ „Und dann?“ „Steigt der Fahrer aus und macht sich vom Acker. Sobald ich sicher bin, dass ihr alle fair spielt, verrate ich euch Moris Aufenthaltsort und ihr könnt ihn erledigen. Solltet ihr allerdings irgendwelche krummen Tricks versuchen, riskiert ihr bloß, dass Mori entkommt. Ich werde ihn so verwahren, dass er es schaffen kann, innerhalb von 15 Minuten zu fliehen, daher habt ihr ein sehr kleines Zeitfenster.“ Wermut schluckte. Rums Plan schien wasserdicht. Vorläufig würde ihr keine andere Wahl bleiben, als mitzuspielen. Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm, der ihr anzeigte, dass Rum aufgespürt war. „Wir haben den Ort jetzt.“ „Dann beeilt euch mit dem Wagen. Es sei denn ihr wollt, dass ich ungeduldig werde und Mori freilasse, damit er der Welt eure dreckigen Geheimnisse erzählt.“ Ein leichter Stich durchzuckte Ryes Nacken. Er grinste, denn er kannte dieses Gefühl, diesen Moment. Es war Instinkt. Der Schmerz signalisierte, dass bald etwas Interessantes passieren würde – und er täuschte sich nie. Wie zur Bestätigung klingelte sein Telefon. „Ja?“ Am anderen Ende war Wermuts Stimme. „Rye, bist du noch unterwegs zum Hauptquartier?“ Die Frage überraschte ihn ein wenig. „Ja.“ „Gut, fahr, wenn du da bist, direkt zur medizinischen Abteilung. Ich brauche dich für das Steuer eines Krankenwagens.“ „Wieso?“ „Rum hat uns hintergangen. Er hat Mori entführt und benutzt ihn nun, um uns zu erpressen.“ „Wie das?“ „Mori ist vermutlich im Besitz eines Prototypen unserer Forschungsabteilung, der strengster Geheimhaltung unterliegt.“ „Ich verstehe. Was will Rum im Austausch?“ „Rum kooperierte nur mit uns, weil wir seine Schwester gegen ihren Willen am Leben erhalten. Er will, dass wir sie ihm aushändigen, damit wir ihn künftig nicht mehr erpressen können. Wenn wir das tun, übergibt er uns Mori. Wenn nicht, so sagt er, ist Mori so verwahrt, dass er nach 15 Minuten geflohen sein wird.“ „Machen wir da mit?“ „Das kann ich noch nicht sagen, Rye. Aber ich will dich vor Ort, damit im Zweifelsfall der Schuss auf Mori sitzt.“ „Wo ist es?“ Die Frage seine Entführers hallte an den schwarzen Wänden der Halle wieder und füllte den Raum mit einem schaurigen Echo. „Wovon reden Sie?“ „Das Mittel, das sie von Uragiri bekommen haben.“ Kogoros Augen weiteten sich in Verwunderung. „Uragiri hat mir kein Mittel gegeben.“ „Nicht?“ Rum zog eine Augenbraue hoch und wedelte mit seiner Waffe. „Herr Mori, ich rate Ihnen davon ab, mich anzulügen. Uragiri hat Ihnen etwas gegeben. Wo ist es?“ „Ja, er hat mir etwas gegeben – aber es war kein Mittel.“ Innerlich verfluchte Kogoro sich dafür, dass er Rum diese Information vollkommen unnötigerweise gegeben hatte. „Was dann?“ Na gut, jetzt bringt leugnen wohl auch nichts mehr. „Einen Schlüssel für ein Schließfach. Er hat mir nicht gesagt, was sich darin befindet und das Schließfach habe ich auch noch nicht ausfindig gemacht.“ „Haben Sie den Schlüssel bei sich? Wo ist er?“, drängte Rum und ergänzte, als der Detektiv einen Moment zu lange für seine Antwort brauchte. „Oder soll ich Sie einer Leibesvisitation unterziehen?“ Mori schnaubte. „Darauf kann ich verzichten. Er ist in meiner rechten Hosentasche.“ Sein Entführer beugte sich zu ihm herunter und zog den kleinen Schlüssel hervor. Plötzlich ertönte draußen ein Motorengeräusch. „Rum“ Eine harte Männerstimme hallte über den Platz. „Ich bin da.“ „Das war früher als erwartet.“, murmelte Rum, mehr zu sich selbst als zu jemandem anders. Er zückte eine kleine Fernbedienung und drückte einen Knopf, der Kogoros Fußfesseln aufschnappen ließ. „Stehen Sie auf.“, befahl Rum harsch. „Und kommen sie mit. Rye darf Sie nicht sehen. Er würde Sie töten.“ „Wo gehen wir hin?“ „An einen sicheren Ort.“ Ach, was sagte Eri früher so schön über mich? „Er ist ein Trottel und bringt sich ständig in Schwierigkeiten.“ Vielleicht hatte sie Recht. Wie ein Raubtier strich Rye über den Parkplatz, nachdem er aus dem Krankenwagen ausgestiegen war. Wermuts Computer hatte diesen Ort angezeigt, doch das Gelände war groß und es war unmöglich zu sagen, wo Rum sich genau befand. Das hat er mit Absicht gemacht. Wir sollten Mori nicht schnell finden können. Wo könnte er sich verstecken? Mehrere Lagerhallen grenzten an den Parkplatz. Seinen Informationen zufolge war dies ein verlassenes Industriegebiet. Das ideale Versteck. Er unternahm noch einige Schritte, doch ihm war klar, dass er letzten Endes keine andere Wahl hatte, als auf Rum zu warten. Den Krankenwagen unbewacht zu lassen stand schließlich außer Frage. Mürrisch kehrte er zum Wagen zurück, stieg ein und steckte sich eine Zigarette an. Qualm stieg ihm in die Nase und verbreitete sofort eine wohltuende, wärmende Ruhe in seinem ganzen Körper. Nikotin war wirklich ein Helfer in allen Lebenslagen, Geiselübergaben eingeschlossen. Ein verschlagenes Grinsen zierte sein Gesicht, als er sein Mobiltelefon zückte, um Bericht zu erstatten. „Hier ist Rye. Ich bin am Treffpunkt. Bisher noch keine Spur von Rum.“ „Was treibt der nur?“ Wermuts Stimme nach hätte auch ihr eine Zigarette gut getan. „Sei bloß vorsichtig, Rye. Wer weiß, was dieser Kerl noch plant.“ „Keine Sorge, das bin ich. Der Krankenwagen ist ja kugelsicher, also kann er mich schon einmal nicht hinterrücks erschießen. Und“, er warf einen Blick nach hinten, zu der Frau, die dort auf einer Trage lag und aussah, als träume sie einen friedlichen Schlummer. Sie war blass und mit einem Nachthemd unvorteilhaft bekleidet, doch auf eine gewisse Weise strahlte sie eine freundliche Aura aus. Rye hatte diese Person vor ihrem Unfall nie getroffen, aber doch verstand er aus irgendeinem Grund, wieso Rum so weit ging, um sie zurückzugewinnen. „solange wir etwas haben, das er will, wird sich Rum schon nach unseren Erwartungen verhalten.“ „Ich schätze es wirklich, Rye, dass du diese Operation übernommen hast. Und wenn du die Interessen der Organisation gebührend vertrittst und ein optimales Ergebnis erzielst, können wir auch noch einmal über deinen Antrag auf Zusammenarbeit mit Gin sprechen.“ „Das wiederum schätze ich sehr. Und ich habe auch bereits eine Idee, wie ich das optimale Ergebnis erziele.“ „Dir ist klar, was das bedeutet, oder?“ „Natürlich. Rums Tod.“ „Und Moris Tod.“ „Und Moris Tod, verstanden.“ Die Fußfesseln, die Rum eben zur Erleichterung des Detektiven gelöst hatte, schnappten jetzt wieder zu und verbanden die Beine des in der Hocke befindlichen Moris miteinander. „Sehr gut, Herr Mori, Sie sind nur noch wenige Schritte von ihrer Freiheit entfernt.“ Rum lächelte ihn an, während er eine seiner Hände an einen verrosteten Heizkörper fesselte. Mori schenkte seinen Fesseln einen skeptischen Blick. „Ich habe das Gefühl, dass Ihre Worte sich nicht ganz mit Ihren Taten decken.“ „Ich verstehe, dass Sie vielleicht etwas verwirrt sind. Vermutlich brauchen Sie Hilfe? Wie wäre es mit einem Freund und Helfer?“ Kogoros Blick zeigte unmissverständlich, dass er nicht wusste, worauf Rum hinaus wollte, sodass es vollkommen überraschend für ihn kam, als Rum seiner ungefesselten Hand einen kleinen Kasten reichte, den er bei näherem Hinsehen als Mobiltelefon erkannte. „W-was soll das?“ „Kommen Sie schon. Rufen Sie die Polizei, Herr Mori. Die brauchen etwa 15 Minuten bis hierher. Ich werde Ihnen in der Zeit sicherlich nichts tun. Machen Sie schon.“ Der Detektiv untersuchte das Gerät so gut es ging, wog es vorsichtig in seiner Hand, als hätte er Angst, es könne sofort in die Luft gehen, wenn er es nur falsch ansah. „Ich traue Ihnen nicht.“ Rum zog eine Augenbraue hoch und richtete den glänzenden Lauf seiner Waffe auf ihn. „Wenn ich Sie töten wollte, warum sollte ich das nicht hiermit tun?“ Er ging auf die schwere Metalltür zu, durch die die beiden ins Gebäude gekommen waren. „Ich werde jetzt gehen. Tun Sie, was immer Sie für richtig halten.“ Als er gegangen war, wählte Mori die Nummer. Ihre lackierten Fingernägel waren bereits abgenagt, als Wermut die Tür zum Archiv öffnete. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, das Warten auf eine Rückmeldung von Rye schien ihr unerträglich. Sie kannte diese Art der Anspannung – sie erinnerte an ein Gefühl, das sie ganz am Anfang ihrer Karriere gehabt hatte: Lampenfieber. Damals hatte sie dieses Gefühl abgestreift, indem sie noch einmal ihre Szene aus dem Drehbuch gelesen hatte. Jetzt hatte sie kein Drehbuch, doch etwas ganz ähnliches. Sorgfältig durchsuchte sie das Regal, bis sie schließlich bei dem schmutzig-braunen Umschlag gelandet war, den sie in den letzten Tagen oft gesehen hatte. Kogoro Moris Akte. Natürlich war es absurd, im Endspiel noch Informationen erlangen zu wollen, aber Lesen beruhigte die Nerven. Sie schlug den Umschlag auf und blätterte durch die Seiten. Alles Dinge, die ihr bekannt waren. Dinge, die bereits Wochen vor der Erteilung des Auftrags gesammelt worden waren, für den Fall, dass man sie brauchen würde. Kogoro Moris Alter, Blutgruppe, Krankheitsgeschichte, Hobbys, sein üblicher Tagesablauf, seine Familie. Sie stockte, als sie etwas entdeckte, dass ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Eine kleine Ecke ragte zwischen den Seiten hervor. Neugierig zog sie daran, holte ein Foto hervor. Unter dem Bild stand ein Name, doch sie wusste auch so sofort, um wen es sich handelte. Das kann doch nicht... Angel! Sie betrachtete das Bild, noch immer fassungslos. Dann überlegte sie einen langen Moment. Dann verfasste sie eine SMS an Anokata. Die letzte Asche der Zigarette löste sich und segelte als feines Pulver in den Aschenbecher. Rye holte tief Luft, ließ seine listig funkelnden Augen über den Parkplatz wandern, suchte nach der Quelle der Schritte, die er vor wenigen Sekunden gehört hatte. Sollte Rum genau in dem Moment gekommen sein, in dem seine Zigarette verlöscht war? Die Dramatik wäre faszinierend. Zu faszinierend vielleicht, um realistisch sein. Zumindest sah er nichts außer Staub, Dreck und Gebäuden, die staubig und dreckig waren. Er wollte seinen Blick gerade von dem Platz abwenden, als Rums Waffe gegen die Scheibe schlug. „Rye!“ Rye erschrak, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Er öffnete das Fenster einen Spalt, um gehört werden zu können: „Rum. Du bist wirklich ein Meister des Anschleichens. Deinem Ruf wirst du gerecht.“ Der alte Mann grinste. „Du auch. Zumindest giltst du als extrem misstrauisch. Oder magst du einfach nur keine kalte Luft? Keine Angst, steig ruhig aus. Ich werde dich schon nicht erschießen. Du hast mein Wort.“ „Und was gibt es Vertrauenswürdigeres als das Wort eines Verräters?“ „Also gut“,, grunzte Rum, sicherte seine Waffe, und schleuderte sie davon. „Dann machen wir es eben so. Du wirst mich sowieso nicht erschießen, schließlich willst du erfahren, wo Kogoro Mori ist.“ Ein kurzes Grinsen huschte über Ryes markantes Gesicht, dann öffnete er die Tür. „Schon besser.“ „Öffne die Hintertüren.“ Rums Stimme nahm einen befehlenden Ton an. „Ich will sicherstellen, dass du meine Schwester wirklich dabeihast und dass es ihr gut geht.“ Bedächtig, aber nicht langsam ging Rye auf die Türen zu und zog den Schlüssel hervor. „Sag mal, Rum, warum das alles? Warum auf einmal dieser Verrat?“ Er drehte den Schlüssel um. „Willst du nicht lieber einfach weiter für die Organisation arbeiten? Das Leben von dir und von deiner Schwester gesichert wissen?“ „Keine Chance.“, schnaubte Rum. „Die Organisation hat mich lange genug wie eine Marionette gespielt. Es ist an der Zeit, die Fäden durchzuschneiden.“ „Nur“, Rye öffnete die beiden Hintertüren. „Wenn man einer Marionette die Fäden durchschneidet, fällt sie und bleibt leblos am Boden liegen.“ Rum ignorierte ihn und kletterte in den Wagen, gefolgt von Rye. Bevor er weit ins Innere kletterte, holte der Mann zuerst einen schwarzen Kasten aus seiner Tasche und legte ihn ab. „Was ist das?“, erkundigte Rye sich argwöhnisch. „Ein Störsender. Falls ihr das Ding per Fernzündung in die Luft jagen wollt, sobald ich losgefahren bin, oder ihr einen Peilsender installiert habt.“ „Und mich nennst du misstrauisch.“ „Wie auch immer.“ Rum schüttelte den Kopf. „Jetzt muss ich sehen, ob ihr euch an die Vereinbarung gehalten habt.“ Er kletterte tiefer in den Wagen, auf die Trage zu. Als der alte Mann bei seiner Schwester angekommen war, kniete er sich hin und ergriff ihre Hand. Sanft strich er ihr ein Haar aus dem Gesicht. Tränen rollten über seine Wangen. „Schwesterherz.“ Rum schluckte, dann lachte er. „Du schläfst jetzt aber lange. Erinnerst du dich? Das hast du mir i-immer gesagt, früher, als ich noch klein war. Und, und dann, als ich endlich aufgestanden bin, d-dann“ Immer zahlreicher wurden jetzt die kleinen, glänzenden Perlen, die an der rauen Haut des Mannes nach unten glitten. „d-dann sind wir immer spielen gegangen und h-hatten S-Spaß. Ich werde jetzt auch warten, b-bis du aufwachst und dann w-werden wir S-Spaß haben.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Armen und zuckte erst hoch, als Rye ihn an der Schulter berührte. „Wir haben nicht ewig Zeit.“ Rum funkelte ihn an. „Stimmt. Warum bist du also noch hier? Den Aufenthaltsort von Mori bekommst du nach unserer Vereinbarung erst, wenn ich hier weg bin.“ „In der Tat, das hatten wir vereinbart. Und augenscheinlich hast du auch alles bedacht. Mori hast du sicher versteckt. Den Krankenwagen mit einem Störsender ausgestattet. Eine Zeitbegrenzung eingerichtet. Und zusätzlich noch etwas, mit dem du die Organisation auf lange Sicht erpressen kannst. Aber du hast etwas was vergessen.“ Der letzte Satz traf. Rum versuchte es zu verbergen und Selbstsicherheit auszustrahlen, doch Rye sah ihm an, dass seine grauen Zellen auf Hochtouren arbeiteten und eine grauenvolle Runde „Finde den Fehler“ spielten. „So? Was denn bitte?!“ „Du hast alles getan, um dein Druckmittel korrekt auszuspielen. Doch du hast übersehen, wie wir unseres ausspielen können.“ Die Luft um Rum schien zu gefrieren, als Rum klar wurde, worauf Rye anspielte. „Nein.“ Ryes Augen leuchteten listig auf, als er seine Waffe auf den Körper von Hiromi Mohuku richtete. „Der Punkt, an dem deine Ratio der Emotio unterliegt, der dich angreifbar macht.“ Obwohl die Waffe entsichert war, ließ Rye sie bedrohlich klicken. „Sag mir, wo Kogoro Mori ist, sonst ist sie tot!“ Rums Augen öffneten sich in Fassungslosigkeit, seine Hände wedelten durch die Luft, griffen an seine Tasche, als wollten sie etwas finden, das nicht da war. „Suchst du deine Waffe? Die hast du leider weggeworfen, weil du dir deiner Macht zu sicher warst. Wie ich es erwartet hatte, übrigens.“ Rum schwieg betreten. Rye hatte Recht. In der Erwartung der Nähe seiner Schwester hatte er einen Fehler gemacht. Er war im letzten Moment leichtfertig geworden. „Sag mir jetzt wo Mori ist.“ „Nein! Ich sagte doch, keine Spielchen, Dai. In knapp zehn Minuten ist die Polizei hier, dann hast auch du ein Problem. Verlass den Wagen und ich sag dir, wo Mori ist.“ „Die Polizei? Das war deine Zeitschaltuhr für Moris Befreiung?“ Der Agent nickte anerkennend. „Brillant. Ich habe mich schon gefragt, wie du das bewerkstelligen würdest.“ „Auch ein Meisterschütze wie du wird nicht mit so vielen Polizisten fertig. Also solltest du jetzt den Wagen verlassen, mit meiner Information Mori töten und abhauen.“ Rye schüttelte den Kopf. „Ich habe eine bessere Idee. Die Polizei kommt in zehn Minuten?“ Er richtete seine Waffe auf das Bei der Frau, die immer noch reglos auf der Trage lag und drückte ab. Noch während der ohrenbetäubende Lärm verhallte, färbte sich die weiße Decke in tiefem Rot. „Sie verblutet in fünf.“ Rum hatte keine Ahnung, ob die medizinische Information, die ihm der Agent gegeben hatte, korrekt war. Er hatte von nichts mehr eine Ahnung. In dem Moment, in dem er das Blut seiner Schwester fließen sah, herrschten in seinem Kopf nur noch Leere und Rauschen. Er verstand nichts mehr, nahm nichts mehr wahr, tat nichts mehr. Fern und weit schien ihm die Stimme des Schützen und er brauchte einige Momente, bis er sie wahrnahm. „Hier ist genug Verbandszeug, um ihr Leben zu retten. Aber das wird nur geschehen, wenn du mir jetzt sofort Moris Aufenthaltsort sagst.“ Im Gesicht des alten Mannes vermischten sich Rotz und Tränen, seine Hose färbte sich dunkel. „E-er ist i-im ehemaligen L-labor g-ganz im Westen d-des Geländes.“, schluchzte er. „B-bitte keine weiteren Schüsse.“ „Nur noch zwei.“ Schnipp, Schnapp. Der erste Schuss traf Katsunari Mohuku in der Brust, zerfetzte Stoff und Fleisch, bis er schließlich eine Rippe traf, die er zerbrach. Er tötete Mohuku nicht, doch die Marionette taumelte. Schnipp, Schnapp. Der zweite Schuss war es, der Mohuku den Tod brachte. Die Kugel traf seinen Kopf, brach durch den Schädel, durchdrang das Gehirn und schoss schließlich am anderen Ende wieder heraus. Der letzte Faden der Marionette hatte sich jetzt gelöst, sie kam auf dem Boden auf. Der letzte, auf ewig dort gefangene, Ausdruck auf Katsunari Mohukus Gesicht war ein vorwurfsvoller: Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seinem Mörder hinterher, als dieser den Krankenwagen verließ. Sechs Minuten nachdem er die Polizei gerufen hatte wurde die schwere Eisentür vor Moris Augen erneut geöffnet. Ein großer Mann mit langem schwarzen Haar starrte ihn an. „Wer sind Sie?“, rief Mori laut, doch bekam keine Antwort. Der Mann zog eine Waffe und richtete sie auf seinen Kopf. „Nein! Tun Sie das nicht!“, brüllte Mori, doch er machte sich keine Hoffnungen. Zwar hatte er in den Augen des Mannes für einen kurzen Moment Reue gesehen, doch etwas anderes war in viel stärkerem Maße vorhanden gewesen. Entschlossenheit. Der Mann entsicherte seine Waffe. Ein Trottel, der sich ständig in Schwierigkeiten bringt? Ganz sicher hatte sie Recht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)