Ausgerechnet Er... von Corab ================================================================================ Kapitel 8: Die Verfügung ------------------------ Grell drang das Scheinwerferlicht durch die Windschutzscheibe und riss die Fahrerin des Wagens aus ihrem Sekundenschlaf. Sie benötigte einige Momente um die Gefahr, in der sie schwebte, zu realisieren. Als sie begriff, stieß sie einen panischen Schrei aus, ergriff das Lenkrad und riss es herum. Doch es war zu spät. Ihr Mund war noch immer zum Schrei geöffnet, als der Kleinbus ihren Wagen mit bestialischer Wucht traf. In wenigen Momenten wirkten die Fronten der beiden Fahrzeuge, als ob sie aus einer schlecht funktionierenden Müllpresse gekommen wären. Das Fahrzeugblech war zerknautscht, während die Kühlerflüssigkeit beider Wagen fröhlich in die Nachtluft sprudelte. Aber das Horrorszenario war noch nicht zu seinem Ende gekommen. Der Kleinbus überschlug sich und riss das Dach ihres Wagens auf. Mit einem kreischenden Geräusch wurden Glas-, Plastik- und Metallstücke in die Luft geschleudert. Auch die Fahrerin blieb nicht verschont. Als ihr linkes Auge von dem Glassplitter getroffen wurde, klang es wie das Zertreten eines Käfers. Schließlich rutschte der Mitsubishi von dem zerstörten Dach hinunter und blieb seitlich auf dem schwarzen Teer liegen. Sein Fahrer, der vor zwanzig Minuten noch lachend telefoniert und anzügliche Witze gerissen hatte, tat seinen letzten Atemzug. Der Wagen der Frau raste unterdessen ungebremst auf die Leitplanke zu und kollidierte unter ohrenbetäubendem Lärm mit dieser, was nun auch ihn zum Stehen brachte. Die Fahrerin war ohnmächtig, von Schürfwunden, Schnitten und Quetschungen gezeichnet und nichts deutete darauf hin, dass sie noch lebte. Doch etwas schlummerte in ihr. Ein Hauch, ein winziger Funke Leben. Und selbst dieser kleine Funke, der noch in ihrem geschundenen Körper verweilte, reichte, eine Verkettung der Ereignisse auszulösen, deren Ergebnis niemand auch nur zu erahnen gewagt hätte. „Es steht schlecht um sie.“, seufzte der Arzt und zog seine Stirn kraus. „Sicher, ihr Zustand ist mittlerweile stabil, aber sie ist weiterhin komatös. Es sind nun zwei Jahre seit dem Unfall ins Land gegangen. Ich will ehrlich sein, Herr Mohuku, ich bezweifle ernsthaft, dass ihre Schwester, nun ja, lassen sie es mich so sagen: Die Chance, dass ihre Schwester, dass sie, na ja, das Bewusstsein je wiedererlangen wird, ist verschwindend gering bis nicht vorhanden.“ Mit jedem Wort des Doktors hatte das Gesicht seines Gegenübers etwas mehr an Fassung und Farbe verloren. Als er den Satz vollendet hatte, vergrub der Mann das Gesicht in seinen Händen und presste seine Antwort schluchzend hervor: „D-das, das kann doch n-nicht sein! Sie m-müssen doch e-etwas t-tun können. Sie müssen das doch können! Sie sind doch Arzt, verdammte Scheiße!“ Der Mediziner, ein fit wirkender Mittdreißiger, setzte eine verständnisvolle Miene auf. Er hatte diese Reaktion erwartet. „Wir Ärzte, wir sind auch nicht allmächtig. Es ist offengestanden bereits ein Wunder, dass ihre Schwester diesen Unfall überhaupt überlebt hat. Ich denke, sie sollten akzeptieren, dass sie ihren Frieden gefunden hat, Herr Mohuku.“, versuchte er ihn zu beruhigen und legte seine Hand auf die Schulter des verzweifelten Bruders. Dieser schüttelte sie jedoch zornig ab. „Sie sagen das so, als wenn sie sie bereits aufgegeben hätten! Als wenn sie schon tot wäre!“, begann er, wobei die Wandlung von nackter Verzweiflung zu Wut sich deutlich in seinem Gesicht abzeichnete. „Aber das ist sie nicht! Ihre beschissenen Geräte zeigen es doch auch an: Ihr gottverdammtes Herz schlägt noch!“ „Ich verstehe sie. Aber das ist nichts als ein einfaches Signal. Wir Menschen verknüpfen das Herz gerne mit Emotionen, mit Gedanken, mit dem Charakter. Aber die Wahrheit ist leider viel profaner.“ Er blickte ihn traurig an. „Glauben sie mir, es gibt für mich keinerlei logischen Grund, davon auszugehen, dass sie je wieder erwachen wird.“ Eine Pause. Eine qualvolle, lange Pause. „Ich weiß, das ist hart und traurig, doch ich denke, sie sollten loslassen.“, ergänzte der Mediziner. Plötzlich blitzten Funken in Mohukus Augen auf. Wut, blanke Wut. „Loslassen?! Was soll das heißen?! Sie sind ein Arzt, wenn auch ein verdammt beschissener, und es ist ihre Scheißpflicht, sie am Leben zu erhalten.“ Der Doktor steckte die Beleidigungen mit der gleichen, ruhigen Miene weg, die er sich über den gesamten Gesprächsverlauf bewahrt hatte, doch für einen kurzen Moment zeigte sich in seinem Gesicht eine entsetzlich geschmacklose Regung des Triumphs. „Nun, als Arzt ist es meine Pflicht, den Willen meiner Patienten zu erfüllen.“, begann er zögerlich, wurde jedoch sofort unterbrochen. „Und woher wollen sie ihren Willen kennen?! Sie kennen sie überhaupt nicht! Sie würde diese Welt nicht verlassen wollen. Sie würde am Leben bleiben wollen!“, schimpfte Mohuku, während die zorntriefenden roten Flecken in seinem Gesicht immer deutlicher wurden. „Wir … befinden uns in der glücklichen Lage, ihren Willen mit absoluter Bestimmtheit zu kennen. Sie hat eine Verfügung erstellt – eine Patientenverfügung – und sie bei einem Notar hinterlegt.“ Wieder legte der Doktor eine Kunstpause ein. „Und sie hat verfügt, dass, wenn sie zwei Jahre oder länger von lebenserhaltenden Geräten abhängig sein sollte, dass diese Geräte dann, tja, dass wir, dass diese Geräte dann abzuschalten sind.“ Das Wort Entsetzen wurde der Miene des Bruders nicht einmal ansatzweise gerecht. Sein gesamter Körper begann zu zittern. Sein Mund blieb offen stehen. Er schlug die Hände vors Gesicht, nur um sie dann, unschlüssig, was er mit ihnen anfangen sollte, wieder sinken zu lassen. Plötzlich verfiel er in ein manisches Gejaule, nur um einen Moment später wieder zu verstummen. Das Zittern seiner Knie wurde immer stärker, bis er sein Gleichgewicht schließlich verlor und zu Boden fiel. Dort blieb er für wenigen Sekunden liegen, hob dann den Kopf und stammelte fassungslos einige Worte: „D-das, d-das können sie d-doch u-unmöglich m-machen? S-sie k-können das d-doch nicht er-ernst nehmen?!“ Der Arzt, immer noch vollkommen perplex wegen des plötzlichen emotionalen Ausbruchs, musste sich erst kurz sammeln, bis er realisierte, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde. „Selbstverständlich nicht.“, setzte er an, woraufhin Mohuku sofort um einiges hoffnungsvoller wirkte. „Es gibt zusätzlich zu den Verfügungen immer einen Bevollmächtigten, der bestätigt, dass es der Wille des Patienten gewesen wäre. Im Falle Ihrer Schwester wäre das ihr Mann.“ Erneut machte der Arzt von einer seiner üblichen Pausen Gebrauch. „Ich habe gestern mit ihm telefoniert. Er hat den Willen ihrer Schwester bestätigt.“ Mohuku klappte die Kinnlade herunter: „Hiroki hat WAS?! Wie... Wie kann er das tun?!“ Der Mediziner zuckte mit den Schultern: „Ich schlage vor, dass sie das in einem persönlichen Gespräch selbst klären.“ Sein Gegenüber drehte sich mit einem Mal um und steuerte auf den Ausgang zu. „Das werde ich.“ Wäre der Arzt weniger überrumpelt und verwirrt gewesen, hätte er die plötzliche Änderung in Mohukus Verhalten vielleicht als seltsam eingestuft. Hätte seinen grimmigen Tonfall bemerkt und eine Katastrophe verhindern können. Doch er ließ den Mann, auf dessen Hose sich im Verlauf des Gesprächs ein dunkler Fleck gebildet hatte, unbehelligt von dannen ziehen. Die Krankenhaustür wurde durch einen wütenden Hieb aufgestoßen. Mit schnellen Schritten stapfte Mohuku über die abgenutzten grauen Pflastersteine des Fußgängerwegs. Er versuchte, seine Gedanken und Emotionen zu sortieren, wie er es immer getan hatte, wenn ihn ein Schicksalsschlag getroffen hatte, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Zu groß war der Schleier aus Wut, Angst und Trauer. Zu dicht war er, um eine rationale Denkweise zu erlauben. Gedankenfetzen flogen in seinem Gehirn hin und her, riefen ihn dazu auf, sich von einer Brücke zu stürzen. Oder zurück in das Gebäude zu stürmen und diesem schleimigen Mistkerl den Hals umzudrehen. Oder sich mit einer ausreichenden Alkoholmenge in seinem Haus zu verbarrikadieren. Oder sich eine Person zu suchen, die seinen emotionalen Wirrwar teilte. Der letzte Gedanke war aberwitzig. Gab es eine solche Person überhaupt? Mit Schrecken wurde ihm klar, dass die Person, von der der gesunde Menschenverstand eine solche Geisteshaltung erwarten würde, es überhaupt erst zu dieser Misere hatte kommen lassen. Der liebende Ehemann. Hiroki. Er hatte sein Einverständnis gegeben. Er hatte ihrer Ermordung zugestimmt. Mit einem Mal ordnete sich seine Gefühlswelt. An seiner Trauer war er Schuld. An seiner Angst war er Schuld. Und seine gesamte Wut konzentrierte sich nun auf ihn. Hiroki. Er musste sterben. Unweit von Mohuku nuschelte ein Mann in schwarzem Anzug Antworten in sein Fungerät. „Habe Mohuku gesichtet, ist gerade aus der Haido-Zentralklinik gekommen.“ Die Antwort war unverständlich, weshalb der stämmige Mann den Hörer enger an sein Ohr presste und um eine Wiederholung bat. „In was für einer Verfassung befindet er sich?“ „Er wirkt, als wäre er fertig mit sich und der Welt. Total aufgewühlt.“, gab das Organisationsmitglied zurück. „Hast du eine Idee, wieso, Wodka?“ Gins befehlender Ton drang kalt an sein Ohr. „Nein. Keine Ahnung, was in dem Krankenhaus vorgefallen ist.“ „Dann finde es heraus.“ „Zu Befehl.“, sagte der Lakai und legte ohne ein weiteres Wort auf. Mohukus ganzer Körper war immer noch zum Zerreißen gespannt, als er endlich in seiner geschmackvoll westlich eingerichteten Villa angekommen war. Üblicherweise hätte er zuerst seinen Anrufbeantworter abgehört, um seinen Kollegen von der Polizei zuzuhören, die angewiesen waren, ihn auch in seinen Urlaubswochen stets auf dem Laufenden zu halten. Danach hätte er sich etwas Hochprozentiges eingeschenkt und Filmklassiker angesehen. Er war ein Gewohnheitstier, doch diesmal tat er nichts von alldem. Statt sich ruhig hinzusetzen, schritt er nervös im Flur auf und ab. Schritt auf und ab und schmiedete Pläne. Pläne, die ihm zum Verhängnis werden konnten. Früher waren er und Hiroki immer miteinander ausgekommen. Zwar waren ihre Konversationen immer ein wenig förmlich gewesen, doch so sprach Mohuku mit jedem, der nicht seine Schwester war. Auf jeden Fall würde niemand ihn dafür des Mordes verdächtigen. Das einzige, was ihn später bei den Ermittlungen in schlechtes Licht rücken konnte, war sein Streit mit diesem schleimigen Doktor. Sollte er ihn deshalb auch aus dem Weg räumen? Nein, entschied er sich mit einem Mal. Ich weiß nicht, wer alles unseren Streit mitbekommen hat. Wenn der Doktor auf einmal stirbt, könnte der Verdacht auf mich fallen. Es wird nichts bringen, ihn dafür zu bestrafen. Das ist Hirokis Schuld. Er ist auch der einzige, der bezahlen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)