Ausgerechnet Er... von Corab ================================================================================ Kapitel 5: Waidmannsheil ------------------------ Kapitel 5: Waidmannsheil Yoko Murata klappte die Kofferraumtür ihres Oldtimers zu und fischte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche. Plötzlich hörte sie einige Schreie hinter sich. Erschrocken fuhr sie herum, erkannte aber erleichtert, dass die Geräusche vom Streit zweier Betrunkener kamen, die über den Gewinner ihres allabendlichen Kampftrinkens diskutierten. Sie wandte sich wieder dem Kofferraum zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Dann versicherte Murata sich noch ein letztes Mal der Abgeschlossenheit der Tür und wollte auf ihr Haus zulaufen. Plötzlich spürte sie kaltes Metall auf der Stirn. Der langhaarige Mann stand direkt vor ihr. „Hallo, Yoko.“, begrüßte er sie in einem hämischen Tonfall. „W-was willst du, Gin?!“, keuchte sie. Er fixierte sie mit seinen eiskalten Augen, während ein Lächeln seine Lippen umspielte: „Ganz einfach. Sagt dir der Name Uragiri was?“ „E-er ist abgehauen... W-was soll das?!“ Gin ignorierte die Frage: „Genau, abgehauen. Aber das war nicht dein  Fehler. Allerdings ist es ihm gelungen eine Probe des APTX mitgehen zu lassen. Und jetzt rate mal, wer an diesem Tag für das Abschließen des Schranks verantwortlich war. Und wem ich auf der Überwachungskamera dabei zusehen durfte, wie er, oder besser sie, genau das NICHT getan hat!“ Muratas Augen platzten fast aus ihren Höhlen heraus. „D-das war k-keine Absicht. I-ich würde d-die Organisation niemals verraten. Nie!“, flehte sie. „Weißt du was? Ich glaube dir! Aber, so leid es mir tut,“ - sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass es ihm überhaupt nicht leidtat - „ein Versagen dieser Art kann in unserer Organisation nicht geduldet werden. Das wäre geschäftsschädigend.“ Und dann drückte er ab und richtete sie hin, noch während ihr Mann und ihre drei Kinder wenige hundert Meter entfernt auf ihr Heimkommen warteten. Das quietschende Geräusch des Schalldämpfers ließ Sherry, die abseits an einem Baum lehnte, zusammenzucken, sodass sich Dosenkaffee über ihren Laborkittel ergoss. Während sie versuchte, der Entstehung von Kaffeflecken vorzubeugen, durchflutete sie für eine kurze Zeit schlechtes Gewissen. Aber eins war ihr klar: Sie hatte Mitleid mit Yoko Murata und ihrer Familie, doch um nichts in der Welt wollte sie mit dieser Frau tauschen, die jetzt mit einem Loch im Kopf vor ihrer rostigen Drecksschleuder lag. Niemals. Mit einem wehleidigen Ächzen erhob der Mann sich aus dem Bett. „Verdammtes Drecksteil.“, schimpfte er leise, während er in sein Arbeitszimmer schlurfte, um dem nervtötenden Telefonklingeln, welches ihn rüde aus dem Schlaf gerissen hatte, ein Ende zu bereiten. Niemand hätte bei seinem langsamen Gang vermutet, dass es sich bei ihm um ein Raubtier handelte. Eines der Gefährlichsten seiner Art. Endlich war er bei dem alten Tischfernsprecher angekommen, nahm aber zunächst nicht ab, sondern betrachtete das Gerät argwöhnisch. Das Gerät hatte keinerlei Anbindungen an die herkömmliche Telefoninfrastruktur Japans, was nur bedeuten konnte, dass sie etwas von ihm wollten. Doch was? Ein weiteres herausforderndes Telefonklingeln. Dann noch eines. Schließlich stieß Rum einen Seufzer aus und zog den Hörer an seinen Kopf. „Rum hier.“ „Hallo, Rum, wie geht’s dir?“, fragte Wermut mit einer Mischung aus gespielter Freundlichkeit und echter Arroganz. Rum ignorierte die Frage: „Was willst du?! Wir haben abgemacht, dass ihr mich nach dem Job von vor zwei Wochen für sechs Monate in Ruhe lasst!“ „Es“, sie zögerte „hat sich was geändert. Wir haben ein Problem und brauchen deine Dienste jetzt.“ „Das interessiert mich nicht!“, fuhr er sie an „Ich hab Weißgott wichtigeres zu tun, als eure beschissene Drecksarbeit zu erledigen.“ Ihre Stimme bekam einen traurigen Klang, der überraschenderweise nicht gespielt wirkte: „Schade. Ich hatte wirklich gehofft, wir könnten zu einer friedlichen Lösung gelangen. Dann werden wir die Geräte wohl abstellen müssen...“ Ein Schweißtropfen perlte von seiner Nase. „Nein!“, rief er verzweifelt „Das wagt ihr nicht. Wir hatten doch eine Abmachung...“ „Es tut mir Leid. Und ich will unsere Abmachung auch nicht brechen, aber ich befolge auch nur Befehle. Und glaub mir, es ist gesünder, ein gutes Verhältnis zur Organisation zu haben. Für alle Beteiligten. Auch für sie...“ Der Mann schien in wenigen Sekunden um Jahre gealtert. „Was“, fragte er „was wollt ihr von mir?“ Kaum hatte er den Satz beendet, fühlte er sich so, als könne er ihr hämisches Lächeln durch den Hörer wahrnehmen. „Im Grunde“, sie machte ein Pause „ist es ganz einfach...“ Jegliche Traurigkeit war aus ihrer Stimme verschwunden. Nachdem Wermut ihm seinen Auftrag erteilt und sich spöttelnd von ihm verabschiedet hatte, ließ sich Rum in seinen Ledersessel fallen. Er verhakte die Hände ineinander, streckte die Daumen in die Höhe, stützte sein Kinn auf ihnen ab und beugte sich dann nach vorne, sodass sich seine Ellbogen auf seinen Knien befanden. Er befand sich immer in dieser Pose, wenn er sich hinsetzte. „Ich kann dann besser denken.“, lautete seine Standardbegründung, wenn ihn jemand darauf ansprach, was allerdings nicht besonders häufig vorkam. Er hatte nicht viele Freunde. Strenggenommen hatte er gar keine. In seinem Leben war ihm nur eine Person wichtig. Er setzte ein sanftes Lächeln auf und holte ihr Bild aus der Schreibtischschublade. Für einen kurzen Moment betrachtete Rum es wehmütig. „Ich hätte es wissen müssen,“, dachte er traurig „doch nun ist es zu spät. Ich weiß, was ich zu tun habe.“ Das Raubtier legte das Bild zurück in die Schublade und schob schob sie zu. Der Porsche 356A, der jetzt vorfuhr, konnte nichts Gutes bedeuten. Der Handlanger zuckten unwillkürlich zusammen, als er das schwarze Automobil erblickte. „Das ist doch Gins Wagen! Was will der denn hier?!“, erkundigte er sich bei den Pflegern, die seinen verletzten Partner gerade auf einer Bahre zum Krankenwagen brachten. Um im Falle von Verletzten aus den eigenen Reihen über die nötige Privatsphäre zu verfügen, besaß die Organisation ein eigenes medizinisches Versorgungssystem mit Ärzten, medizinischen Apparaturen, Medikamenten und zum Transport Verletzter geeigneten Fahrzeugen. Das Pflegepersonal beantwortete die Frage nicht, sondern beobachtete stattdessen den Krankentransporter, in dem ihr Kollege gerade ins Funkgerät sprach. „Verstanden.“, bestätigte der Fahrer des Krankenwagens den Befehl. Er beendete die Funkverbindung und hüpfte aus dem Transporter. „Es hat sich was geändert.“, rief er seinen Kameraden zu „Keine Versorgung für den Kerl.“ Der Handlanger erschrak: „Was soll das heißen? Keine Versorgung?! Ihr könnt ihn doch nicht im Stich lassen!“ „Direkte Order von Gin.“ erwiderte der Fahrer knapp und vollkommen ungerührt, woraufhin die beiden Pfleger die Trage fallen ließen und in das Fahrzeug einstiegen. Das bewusstlose Organisationsmitglied rollte nach dem harten Aufschlagen von der Bahre und blieb dort regungslos liegen. „Hey! Das könnt ihr nicht machen! DAS KÖNNT IHR DOCH NICHT MACHEN!“, brüllte sein Partner und riss an allen Türen des Fahrzeugs. Doch seine verzweifelte Hoffnung, dass sie nachgeben und ihn einlassen würden, erfüllte sich nicht. Dann hörte er das Zuklappen einer Autotür. Erschrocken fuhr er herum. Eine langhaarige Gestalt hatte den Porsche verlassen und bewegte sich auf ihn zu. Rum stellte das Auto auf dem Parkplatz ab. Wie bei jedem seiner Aufträge, so galt es auch bei diesem zunächst Informationen über das Ziel zu sammeln. Eine Akte konnte diesbezüglich durchaus nützlich sein. Rum marschierte schnurstracks durch die marmorne Eingangshalle, bis er schließlich bei dem Aufzug ankam. Als er ihn betreten hatte, wählte er die Taste mit der zwei – das Archiv, welches ein Stockwerk über Sherrys Labor lag. Akten gab es dort jede Menge. Tatsächlich gab es dort zu fast jeder Person, die in irgendeiner Weise mit der Organisation zu tun hatte, einen eigenen Ordner, der alles von der Schuhgröße bis hin zur Lieblingszahnpastamarke beinhaltete. Die meisten durfte Rum aufgrund seiner niedrigen Sicherheitsstufe zwar nicht einsehen, doch Wermut hatte vorgesorgt. Der Killer verließ den Fahrstuhl, drehte sich kurz nach rechts und links und durchschritt dann die wenige Meter entfernte Glastür, auf der Archiv eingraviert war. Er lief bis ans Ende des Raumes, wo einige Stühle neben einem runden Tisch standen „Du findest die fragliche Akte auf dem Tisch.“, hatte diese unmögliche Frau ihm in ihrem Telefongespräch mitgeteilt. Und dort lag sie auch. Ein dunkelbraunes Dossier, das Etikett mit Kogoro Mori beschriftet. Rum grinste und öffnete die Akte. Langsam bewegte sich Gin auf den Mann und seinen bewusstlosen Freund zu. Er hatte seine Pistole zwar noch nicht hervorgeholt, aber seine Augen räumten keinerlei Platz für Zweifel an seiner Absicht ein. Der Handlanger blieb kurz starr stehen und rutschte beim Versuch, einen Schritt nach hinten zu machen, aus. „G-Gin. T-tu das n-nicht. B-bitte.“, flehte er, doch Gin wirkte nicht, als ob ihn das übermäßig interessieren würde. „Tja... War echt kein schöner Tag heute, oder?“, fragte der langhaarige Mann auf eine seltsam-ironische Weise „Drei Mitglieder verloren. Und Kogoro Mori ist entkommen...“ „M-Mori wird uns sicher k-keine Probleme machen.“, rief der Mann panisch „Er weiß wahrscheinlich überhaupt nichts. Und selbst wenn doch, anhaben k-kann er uns ohnehin nichts. Wir haben alle Spuren beseitigt. Die Leichen, die Kugeln – alles weg! Und die Polizei w-wird hier s-sicher eh nie irgendwas suchen. Au-Außerdem haben wir Uragiri doch gekriegt.“ „Bist du nicht schon lange genug in dieser Organisation, um zu wissen,“ Gin griff seine Jacke und holte die schwarze Schusswaffe hervor. „dass Versagen nicht geduldet wird? Und einen Auftrag nur zur Hälfte zu erfüllen nennt man versagen.“ Der Schweiß floss in Strömen über die Stirn des am Boden Liegenden. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Warum nur war er nicht misstrauisch geworden, als der Pfleger ihm vorhin seine Waffe abgenommen hatte? Gin entsicherte seine Beretta und richtete sie auf ihn. „B-Bitte...“, ächzte der Handlanger mit einer gebrochen Stimme, während sich Schweiß und Tränen auf seinem Gesicht vermischten. Als er die Finger zum Abzug wandern sah, zuckten seine Hände instinktiv vor sein Gesicht und erwartete mit geschlossenen Augen den Tod. Plötzlich klingelte ein Mobiltelefon. Aus Gewöhnung  an ein Dasein als Befehlsempfänger fasste er in seine Hosentasche, erkannte nach Öffnung seiner Augen aber, dass nicht er, sondern Gin angerufen worden war, der sich jetzt, die Waffe immer noch auf ihn gerichtet, verärgert mit seinem Gesprächspartner unterhielt. „Rum? Was soll das?“ Am anderen Ende der Leitung war ein kurzes Auflachen zu hören: „Tag, Gin. Störe ich?“ „Hat das alte Luder dich doch tatsächlich überzeugen können.“, auch von Gin gab es jetzt ein trockenes Lachen zu hören „Und ja, du störst“, beantwortete er Rums Frage ebenso knapp wie unhöflich. „Was machst du denn gerade Wichtiges?“ „Ich... entsorge nur den Müll.“ „Verstehe. Aber könntest du damit nicht noch etwas warten? Ich möchte Kogoro Mori so gut wie möglich kennen wenn ich ihn jage. Ich bin sicher, dass dein „Müll“ mir etwas Interessantes erzählen kann.“ „Wermut wollte dir doch seine Akte geben lassen. Reicht das nicht?“, grunzte Gin unzufrieden. „Sicher, eine Akte verrät eine Menge – wenn man wissen will, wie eine Person sich im Alltag verhält. Wenn alles um sie herum normal ist. In einer solchen Situation werde ich Kogoro Mori aber wohl kaum begegnen.“ Er seufzte: „In einer lebensgefährlichen Situation ist man am Ehesten der Mensch, der man in Innersten ist. Man gibt alle Rollen auf, die man spielt. Wenn ich also wissen will, wie sich Mori verhalten wird, wenn ich ihm mit einer geladenen Waffe gegenüberstehe, dann ist dein „Müll“ weitaus wertvoller als das Zeug von Wermut, das hier gerade vor mir liegt.“ Gin gab sich geschlagen: „Tss, Verstehe. Ich bring den Kerl zum HQ. Brauchste seinen bewusstlosen Kumpel auch?“ „Spar' dir die Fahrt. Ich hab Wermut dein Handy orten lassen und bin gleich da. Dann können wir das an Ort und Stelle erledigen.“ „Von mir aus...“, schnaubte Gin verächtlich. „Gut, dann wäre das geklärt.“ Plötzlich verzogen sich Gins Mundwinkel zu einem Grinsen: „Ach, übrigens, Rum, ich wollte dich noch etwas fragen.“ „Was?“ „Bist du immer noch undicht?“ Aus dem Handy kam nur noch ein Piepen. Rum hatte aufgelegt. Die Straße war beinahe ausgestorben, was um etwas vor drei Uhr morgens auch nicht weiter verwunderlich war. Die wenigen noch aktiven Fahrzeuge waren hauptsächlich Taxis , welche Nachzüglern, die ihren letzten Zug verpasst hatten, mit überhöhten Nachttarifen das frisch verdiente Geld abzunehmen gedachten. Doch bereits diese geringfügigen Motorgeräusche reichten aus, um unangenehme Stiche zum Kopf des Privatdetektivs zu senden, die sich auf eine makabere Weise mit den Impulsen, die von seiner Nase und seiner Schulter ausgingen, zu ergänzen schienen. Bis vor Kurzem hatte ihn das Adrenalin vor dem Gröbsten bewahrt, doch als er das Gewirr aus Seitenstraßen verlassen und die erste Leuchtreklame erblickt hatte, überkam es ihn. Mit einem Mal holte ihn alles ein. Der Tod vierer Menschen. Drei wildfremd, einer sein Freund. Die Gefahr in der geschwebt hatte. Kugeln waren wenige Zentimeter über seinen Kopf hinweggeflogen, eine hatte ihn getroffen. Die Bilder rasten an seinem inneren Auge vorbei und wurden dabei immer schneller. Ein unaufhörlicher Sog, der ihn immer tiefer hineinzog. Schließlich raste seine Kopf auf den gepflasterten Fußweg zu. Für einige Sekunden war alles schwarz. Als der Detektiv aus seiner kurzen Ohnmacht erwachte, wusste er nur, dass er sehr dringend eine Zigarette benötigte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)