Ausgerechnet Er... von Corab ================================================================================ Kapitel 2: Ein alter Freund --------------------------- Das ist doch toll! Sie nehmen uns Minderjährige überhaupt nicht ernst. Mit diesen beiden Aussagen war doch eigentlich alles gesagt. Er würde diesen Auftrag ausführen, und er wusste auch, wo er anzufangen hatte... „Hey! Wasch scholl das, hein?! Schbinn doch noch gar nisch so beschoffn. Da je-“ Er rülpste: „jeht noch was. Eeehrlich.“ Ein erneuter Rülpser. „Ihr scheid fascht jenauscho schlimme Langweiler wie di-diescha Kerl da.“ Der betrunkene Jugendliche deutete auf Mori, während die beiden Mädchen, die ihn begleiteten entschuldigende Verbeugungen machten und weiterhin versuchten, ihren Freund aus dem Club Paradise zu schleifen. „Es tut uns sehr Leid!“, riefen sie ihm zu „Er hat nur ein wenig zu viel getrunken.“ Der Junge schaute verärgert: „Wasch e-enschuldischt ihr eusch bei dem Keerl. De-der isch doch voll komisch. Ste-Steht da schon seit vier Stunden und be-beobachtet die Bar. Aber reinkommen tuta nisch.“ Endlich hatten die beiden Mädchen es geschafft, den Schreihals loszueisen, der ihnen nun widerwillig hinterher torkelte, es sich aber nicht nehmen ließ, dem Privatdetektiv noch ein paar Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Kogoro Mori ärgerte sich. Weniger über die Beleidigungen, als vielmehr darüber, dass er aufgefallen war. Früher konnte ich das doch besser. Ich war doch immer gut im unauffälligen Beobachten. Habe immer alle Kleinigkeiten beachtet, schimpfte er mit sich selbst. Er konnte nur hoffen, dass Yosuteru nichts von dem Krawall mitbekommen hatte, falls er tatsächlich in der Bar sein sollte. Aber wenn Uragiri tatsächlich Firmengelder gestohlen hatte, dann würde er irgendwann hierherkommen. Zumindest hätte er das früher gemacht. Und es gab einige plausible Gründe für ihn, es wieder zu tun. Das Gebiet um den Club Paradise war quasi ein rechtsfreier Raum. Bis hierher war der Arm der Gesetzes noch nie gedrungen. Daher konnte Mori sich durchaus glücklich schätzen, nur einem pöbelnden Teenager begegnet zu sein. Dass die Mädchen sich entschuldigt hatten, grenzte sogar an ein achtes Weltwunder – vermutlich hatten sie ihn in dem Anzug für ein Mitglied der Yakuza gehalten und sicherheitshalber ein positives Bild hinterlassen wollen. Doch der Hauptgrund für Mori, Uragiri ausgerechnet an diesem Ort zu suchen, war nicht die fragwürdige Sicherheit vor der Polizei gewesen, die seinen Studienfreund hätte locken können. Vielmehr war es Nakamura gewesen. Big N, wie sich der eigentlich eher kleine und auch sonst äußerlich nicht übermäßig beeindruckende Mann gerne nennen ließ, hatte nahezu alles getan, was nach japanischem Gesetz in irgendeiner Form strafbar war. Sein Mundwerk stand seinem Vorstrafenregister zwar in Größe um nichts nach, was insbesondere die 24 Morde, die er begangen haben wollte, in ein anderes Licht rückte, doch trotzdem konnte man ihm eine enorme Erfahrung in Dingen, die mit der Polizei zu tun haben nicht absprechen. Außerdem war Yosuteru mit Big N sogar noch enger als mit Mori befreundet gewesen. Der schwarzgekleidete Mann wirkte verärgert und etwas verängstigt. „Wir haben ihn verloren. Er ist in eine Seitengasse gelaufen, wo wir ihm mit dem Auto nicht hin folgen konnten. Wir haben die Verfolgung zu Fuß fortgesetzt und ihn dann leider verloren. Der Sender ist zwar noch aktiv, aber wir finden keinen passenden Weg.“ Die Frau antworte mit einer hochnäsigen Stimme: „Das ist vollkommen inakzeptabel. Auch wenn Uragiri nur ein kleiner Fisch sein mag, so müssen wir trotzdem jede Gefahr für die Organisation im Keim ersticken. Finden sie Mori wieder, sonst kann ich für nichts garantieren!“ Die beiden Männer schluckten. Der Lichtschein, der aus der geöffneten Tür trat, riss Mori aus den Gedanken. Sechs oder sieben Personen kamen aus dem Club. Der Neonschriftzug über der Tür und das flackernde Licht aus dem Inneren der Diskothek blendeten Mori zunächst. Doch dann erkannte er die hünenhafte Gestalt, die aus der Gruppe herausragte. „Yosuteru!“, schoss es ihm durch den Kopf. Hastig griff er in in seine Jackentasche und holte das Mobiltelefon. Er drehte sich etwas nach links, um die Tasten besser erkennen zu können. Plötzlich bemerkte er es. Er war weg! In seinem Kopf machte sich Verwirrung breit: Habe ich mir das nur eingebildet? Dann lachte er in Gedanken: Habe ich mir meinen alten Freund so sehr herbeigesehnt? Mori bemerkte die Schritte hinter sich zu spät. Als er sich endlich umdrehte, hatte der Baseballschläger ihm bereits das Nasenbein zertrümmert. Mit ernster Miene ging die Frau den Schrank entlang. Sie hatte eine kleines Röhrchen in der Hand, das mit einer transparenten Flüssigkeit gefüllt und mit einem weißen Etikett beklebt war. Als sie den freien Platz entdeckte, den die gesucht hatte, beschriftete sie es und stellte es in den Reagenzglasständer. Gerade als sie sich abwenden wollte, schweifte ihr Blick zufällig die darunterliegende Ebene des Schranks. Dort war auch ein freier Platz. Aber dieser hätte belegt sein müssen. In ihrem Schock hätte Shiho Miyano beinahe einen großen Teil der Proben aus dem Schrank gefegt. Er fehlte. Prototyp 11-G fehlte. Wie hatte das passieren können? Kogoro Mori blinzelte. Wirre Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Seine Nase schmerzte. Er hätte sie berührt, doch seine Hände weigerten sich, dem Befehl Folge zu leisten. Nachdem er seinem Bewusstsein einige Sekunden Zeit zum Wachwerden gelassen hatte, erkannte der Privatdetektiv, dass er gefesselt war. Plötzlich leuchtete ihm ein heller Lichtschein in die Augen. Er schloss sie und öffnete sie erst wieder, als die Lichtquelle ihre Richtung geändert hatte. Jemand spuckte auf den Boden: „Hallo, Mori.“ Der Angesprochene war zunächst nicht in der Lage, den Sprecher zu orten und wand sich auf dem schmutzigen Fußboden. Dann entdeckte er die Beine seines alten Studienfreundes jedoch. „Yo-Yosuteru...“, stöhnte er. Der Hüne richtete die Taschenlampe wieder direkt auf die Augen seines Gefangenen. Schließlich hockte er sich auf den Boden und funkelte ihn wütend an. Kogoro Mori, dessen Augen wegen des Lichtstrahls nur zu einem schmalen Spalt geöffnet waren, blickte ängstlich zurück. „Du enttäuschst mich, Kogoro...“, seufzte Uragiri und bewegte die Taschenlampe in seiner Hand etwas nach rechts. „ich hätte mir wirklich gewünscht, dass wir uns unter anderen Umständen wiedersehen.“ Langsam gelang es Mori, etwas mehr von seiner Umgebung zu erfassen. Er befand sich in einem kleinen Raum, der aber eine relativ hohe Decke hatte und so Platz vortäuschte. Es gab keinerlei Möbel, wenn man von einem kleinen Stuhl absah, der aber nicht so wirkte, als wenn er der Last eines erwachsenen Mannes standhalten könnte. Allerdings war sich Mori mit seiner Einschätzung nicht hundertprozentig sicher, da die Deckenlampe des Raums sehr schwach war und ihn nicht besonders viel erkennen ließ, während Uragiris Taschenlampe nutzlos auf den Boden strahlte. Doch auch an seinem Körper erfasste Mori neue Details. Seine Nase war scheinbar gebrochen und später von Uragiri verbunden worden. Der Klotz in seinem Gesicht fühlte sich unter dem Verband unangenehm warm an. „Was ist mit meiner Nase passiert?!“, stöhnte er. Auf Uragiris Gesicht schien sich eine Art Lächeln anzubahnen: „Das ist eine Strafe. Dafür...“, er ging auf Kogoro zu und gab ihm einen harten Tritt in die Seite. „...dass du eine Freund verraten hast! Und dafür...“ - ein weiterer Tritt - „...DASS DU WICHSER MIT DIESEN SCHEISSKERLEN GEMEINSAME SACHE MACHST!“ Uragiri war, soweit erkennbar, zornesrot angelaufen. „Was soll das?!“, schimpfte Mori „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“ Uragiri wirkte für einen kurzen Moment überrascht, antwortete dann aber in einer höhnischen Stimmlage: „Nein, natürlich nicht. Du doch nicht. Und ihr gottverdammtes Spezialhandy hast du bestimmt auf der Straße gefunden.“ Mit einem Handy ebendieser Bauart sprachen die beiden Männer in diesem Moment mit der Frau. „Wir schaffen's einfach nicht. Kommen einfach nich' an ihn ran. Sie kriegen seine Position doch sicher auch gesendet. Können sie nicht mal 'nen Heli darüber schicken? Der hilft uns vielleicht den Weg zu finden.“ Der Ton der Antwort ihrer Vorgesetzten war an Hochnäsigkeit kaum zu überbieten: „Ich denke darüber nach. Wie lange ist es überhaupt her, dass sie Mori verloren haben?“ Die Männer zuckten zusammen: „Ääh... Eine Stunde.“ In Wahrheit hatten sie Mori vor knapp fünf Stunden verloren. Als das Gespräch beendet war, stöhnte der kleinere der Beiden: „Wir hätten's ihr doch gleich sagen sollen...“ Der andere seufzte: „Ja. Aber jetzt ist es zu spät. Hoffentlich kommen 'se uns nicht auf die Schliche...“ „Was hast du denn für ein Problem? Wo ist das Problem, wenn ich einen Auftrag von denen annehme. Du hast ja schließlich auch mal für sie gearbeitet.“ Uragiri kniff die Augen zusammen: „Für sie gearbeitet?“ Er keuchte laut und atmete schwer: „Ich?“ Mori reagierte überrascht: „Sie sagten, du hättest Firmengelder unterschlagen. Stimmt das etwa nicht?“ Die Antwort des Hünen verheimlichte seine Verärgerung nicht: „Ich glaub dir kein Wort, Mori. Tu nicht so, als hättest du nicht genau gewusst, dass -“ Ein Zucken fuhr durch Uragiris ganzen Körper und mehrere Speichelfäden tropften aus seinem Mund „- dass ich - WAS ZUR HÖLLE?!“ Er stürzte auf den Boden, während seine Hand vollkommen unkontrolliert loszuckte. Plötzlich schob sich der Zeigefinger zurück in die Hand, sodass er nur noch ein kleiner Stummel war. Dann erlitten der Mittel- und der Ringfinger das gleiche Schicksal. Die Hand begann noch schneller zu zucken, während Uragiri in ein animalisches Geschreie verfiel. Kogoro Moris Augen weiteten sich beim Anschauen der schrecklichen Szene. Plötzlich schwieg Uragiri und seufzte erleichtert auf. Der Schmerz schien aufgehört zu haben. Dann platzte die Hand. Während sich Bluttropfen und Knochenstückchen im ganzen Raum verteilten, starrten die beiden Männer entsetzt auf Uragiris blutigen Armstumpf. Die Kaffeemaschine hatte ihre Arbeit getan. Shiho Miyano seufzte, während sie sich das heiße Getränk eingoss. Was sollte sie tun? Ihr war klar, dass sie es bemerken würden. Und wenn sie es dann bemerkt hatte, würden sie Fragen stellen. Warum sie es nicht gemerkt hatte. Und dann würden Köpfe rollen. Ihrer. Oder der ihrer Schwester. Doch wenn sie es meldete, was würde dann passieren? Würde diese Organisation sie einfach in Ruhe lassen? Sie lachte kurz und humorlos auf. Natürlich würde es nicht einfach vergeben und vergessen werden. Irgendjemand würde bluten müssen. Und sie würde alles tun, damit es nicht sie war. Oder ihre Schwester. Das Scheinwerferlicht des Helikopters bewegte sich langsam über Beton und Asphalt. Dann entdeckten die Piloten etwas. „Hier muss es sein! SPIRIT 1 an Basis: Wir haben ihn!“ Sie hatte sich entschieden. Sie würde den Verlust melden. Langsam ging sie am lieblos eingerichteten Tisch des Pausenraums ihres Labors vorbei und griff nach dem schnurlosen Telefon, dass dort in einer Ladestation stand. Wie alle Geräte, die von der Schwarzen Organisation zwecks interner Kommunikation verwendet wurden, handelte es sich um eine Spezialanfertigung. Als solche verfügte es über alle Ver- und Entschlüsselungmechanismen, die nötig waren, um einen Zugriff auf das interne Kommunikationsnetz des Verbrechersyndikats zu erlangen und war selbstverständlich abhörsicher. Miyano drückte einige Tasten. Nachdem sie die Nummer eingegeben hatte, schwebte ihr Finger einige Zeit über dem grünen Hörer. Soll ich das wirklich tun?, fragte sie sie sich selbst. Dann entschied sie sich, die Frage zu bejahen. Ihr Finger drückte auf die Taste, die ein elektrisches Signal versandte und somit eine Verbindung zu ihm herstellte. Zu Gin. Der langhaarige Mann ließ sein Mobiltelefon sechsmal klingeln, bevor er sich dazu herabließ, den Anruf anzunehmen. „Was gibt’s, Sherry?“ „Ich...Wir haben ein Problem!“ Gins Stimme, die selbst in einer normalen Gesprächssituation bösartig klang, wechselte abrupt in eine weitaus gefährlicher klingende Stimmlage: „Welcher Art?!“ „Einer der Prototypen f-für das APTX ist...weg. Ich vermute, U-Uragiri hat ihn...“ „WAS?! Seit wann?!“ „Ich habe es vor – ähhh - vor einer halben Stunde be-bemerkt.“ Die Gefahr, die seine Antwort verströmte, schien in ihrem Ohr widerzuhallen: „Dann kommt dein Anruf eine halbe Stunde zu spät. Diese Misere verändert die ganze Situation grundlegend.“ Bisher war der Fall Uragiri eine Bagatelle gewesen. Zwar hatte man ihm eine gewisse Menge des APTX-Prototypen verabreicht, doch der Wirkstoff wäre bei einer medizinischen Untersuchung nicht nachweisbar gewesen. Selbstverständlich lag der Fall ganz anders, wenn Uragiri ihm Besitz eines derartig belastenden Beweismittels war. Das war auch der Grund, wieso Gins nächste Äußerung Miyano überraschte. Sie hatte wüste Drohungen erwartet, keine pragmatischen Fragen. „Hast du die Überwachungskameras kontrolliert?“ Der Gedanke war ihr gar nicht in den Sinn gekommen: „Nein.“ „Ich bin gleich im Labor. Bis dahin fasst du nichts an, ist das klar?!“ „Ja!“ „Übrigens...“, seine Stimmlage bekam eine gehässige Note „...mit dieser Entwicklung dürfte noch etwas klar sein.“ Sie erschrak: „Was?!“ „Dass dieser Fall definitiv eine Nummer zu groß für Kogoro Mori geworden ist...“ Gin verfiel in ein boshaftes Lachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)