Weil Lilien keine Dornen haben von Shinosuke (Rosen allerdings schon) ================================================================================ Weil Lilien keine Dornen haben „Es ist gleich wieder soweit, oder?“ „Noch fünf Minuten.“ In fünf Minuten würde es vier Uhr sein. Genau vier Uhr. Für die Mitarbeiter des Floristen an der Hauptstraße hieß das, dass in fünf Minuten ein Mann kommen würde. Er kam immerhin jeden Tag und man konnte die Uhr nach ihm stellen. Herr Martin kam schließlich mit der U-Bahn. Die müsste mittlerweile bloß noch eine Station von dem Blumenladen entfernt sein und dann würde Herr Martin hier aussteigen, in seinem geschäftigen Schweigen die Treppe hinaufgehen, die ihn aus dem Gewölbe der städtischen Metro führte und die Straße entlang gehen. Bis zu dem Floristen. Irgendwo hinten im Laden schlug eine uralte Uhr zur vollen Stunde und wie auf Kommando sahen die beiden Mitarbeiter zur Tür. Kevin war erst seit ein paar Wochen hier. Er arbeitete in dem Blumenladen, um sich die Universität zu finanzieren und war immer vollkommen gebannt, wenn Herr Martin pünktlich um vier Uhr den kleinen Laden betrat. Er stand dann immer von dem Hocker auf, auf dem er sich ausruhte, wenn er mal wieder nicht mehr stehen konnte, und sah zur Tür. So wie heute. Herr Martin schob die Tür gemäßigt auf und die kleine Glocke an der Tür erklang keine halbe Minute nach der, die gerade im Hinterzimmer die neue Stunde verkündet hatte. „Guten Tag, Herr Martin.“, grüßten Kevin und sein älterer Kollege Jens wie einstudiert. Im Grunde genommen war es ja auch einstudiert, immerhin übten sie es an jedem Tag, an dem sie gemeinsam Schicht hatten. „Hallo, Jungs.“, antwortete Herr Martin lächelnd. Irgendwie schien Herr Martin jeden Tag gut drauf zu sein. Er betrat den Laden mit einem Lächeln und verließ ihn mit einem Lächeln. Er war immer freundlich und lachte viel. Kevin war sich sicher, dass Herr Martin wohl sehr glücklich sein musste. „Was kann ich heute für sie tun?“, fragte Jens, der sich von Herrn Martins Lächeln immer leicht anstecken ließ. Herr Martin lachte. „Sie geben die Hoffnung nicht auf, dass ich eines schönen Tages mal etwas Neues kaufe, oder?“, fragte er und kleine Grübchen zierten sein junges Gesicht. Wie alt Herr Martin war, wussten weder Kevin noch Jens, noch die anderen beiden Mitarbeiter des Blumenladens, aber er sah sehr jung aus. Seine blonden Haare waren immer ordentlich geschnitten und er war immer gut rasiert. Aber obwohl alles an ihm, vom Haar bis zu seiner Haut durchaus nicht alt wirkte, waren es seine Augen, die ihn wirklich jung machten. In ihnen lag ein warmes Funkeln, das sich perfekt in das Himmelblau fügte, das sie zu einem richtigen Hingucker für die Damenwelt machte. Dieses Funkeln erinnerte Kevin immer wieder an das, was er ohnehin von Herrn Martin dachte: Nämlich dass Herr Martin wohl sehr glücklich sein musste. „So lange, bis sie sich etwas Neues aussuchen.“, antwortete Jens grinsend. „Also? Womit kann ich dienen?“, fragte er und Herr Martin sah ihn mit diesem offenherzigen Lächeln an, mit dem man jemanden ansieht, der es gut mit einem meint, obwohl man das eigentlich gar nicht will. Natürlich zeigt man das nicht so, also lächelt man. „Eine Lilie, bitte.“ Jeden Tag kaufte Herr Martin um vier Uhr hier eine Lilie. Danach ging er, um am nächsten Tag wiederzukommen. Genau um vier Uhr und um eine Lilie zu kaufen. Lächelnd. Jens kam hinter dem Tresen hervor, auf dem auf der einen Seite die Kasse stand und auf der anderen Seite hübsche Gestecke auf Wunsch frisch gebunden wurden. Kevin musste das noch üben, bis man es als die Kunst verkaufen konnte, die es war. Sein älterer Kollege ging gerade zu einem Regal und zog eine hübsche weiße Lilie aus einem Topf. „Soll ich sie einpacken?“, bot Jens routiniert an. Er hatte Kevin oft gesagt, dass er das immer anbieten musste, also bot er es auch Herrn Martin an. Genauso wie er ihn jeden Tag fragte, was er denn haben wolle, obwohl er sehr gut wusste, dass Herr Martin immer eine Lilie kaufte und dass er sie nie eingepackt haben wollte. „Nein, danke.“, sagte Herr Martin also wie bereits erwartet. Er hob abwehrend die Hände, um seine Antwort zu bekräftigen. „Das macht dann 70 Cent.“, sagte Jens, der den Betrag immer schon in die Kasse tippte, bevor Herr Martin den Laden betrat. „Ich weiß.“, lächelte Herr Martin und zog sein Portemonnaie aus der Tasche. Er öffnete es und suchte zwei Geldstücke heraus, die er Jens dann reichte. „Danke schön. Möchten sie die Quittung?“, fragte Jens freundlich. Herr Martin lächelte höflich. „Nein, danke.“ Er nahm die Lilie von Jens entgegen und schenkte ihm und Kevin eins seiner Lächeln. „Auf Wiedersehen.“, sagte er freundlich und drehte sich zur Tür um. „Bis morgen.“, sagten die beiden Verkäufer im Chor und sie sahen Herrn Martin nach, wie er den Laden verließ und wieder in die Richtung der U-Bahn-Station die Straße entlangging. Das ging jeden Tag so, bis Kevin Herrn Martin einmal noch nach vier Uhr sah. An einem Ort, an dem er mit diesem ihm so glücklich erscheinenden Mann nicht gerechnet hatte: Auf dem Friedhof. Er begleitete Jens, der sich dort auf den Wunsch einer Kundin um eine Grabbepflanzung kümmerte. Während Jens sich ausgiebig mit ihr unterhielt, ließ Kevin seinen Blick schweifen und da entdeckte er Herrn Martin. Er stand vor einem Grab, seine tägliche Lilie in der Hand. Nach einem kurzen Blick zu Jens ging der junge Florist auf seinen Stammkunden zu. „Herr Martin?“, fragte er und der Mann sah auf, um Kevin anzulächeln, obwohl er gerade noch betrübt und ernst ausgesehen hatte. Zum ersten Mal fiel Kevin der Schatten auf, der über diesem warmherzigen Lächeln lag. „Ah, hallo. Hast du schon Feierabend?“, fragte Herr Martin freundlich. „Nein.“, antwortete Kevin kopfschüttelnd. „Jedenfalls noch nicht so richtig. Ich bin noch mit Jens hier. Beruflich.“, erklärte er und sein Gegenüber nickte. „Also dafür sind die Lilien?“, erkundigte Kevin sich vorsichtig. Herr Martin nickte langsam und sein Blick wanderte in die Ferne. „Ganz genau.“, sagte er langsam, beinahe ein wenig sehnsüchtig. „Ich bringe sie jeden Tag zu meiner verstorbenen Frau.“ Kevin war erleichtert, dass er nicht hatte fragen müssen. „Sie waren verheiratet?“, erkundigte er sich beinahe ungläubig und Herr Martin lachte kurz. „Ist das so unglaublich?“ „Nein, ich meine, ja schon… Sie sehen noch so jung aus.“, sagte er zögerlich, aber Herr Martin nahm es recht locker auf. „Nun, danke.“, lächelte er. Es entstand eine irgendwie peinliche Stille, die Kevin mit einer weiteren Frage durchbrechen wollte. „Jens sagt, sie kommen schon seit Jahren täglich in den Laden, um die Lilien zu kaufen.“ Er zögerte. „Haben sie nie versucht, sich neu zu verlieben?“ Herr Martin wandte den Blick ab, behielt sein Lächeln aber bei, als seine Augen auf dem Grab seiner Frau einen Ruheort gefunden hatten. „Nein. Nicht ein Mal.“, sagte er und er klang zufrieden damit. So als wollte er es auch gar nicht anders haben. „Warum nicht?“, fragte Kevin und sah den Mann vor sich neugierig an. Es faszinierte ihn, mit welcher Ruhe und Selbstverständlichkeit sie, die sie sich so gut wie gar nicht kannten, so vertraut sprachen. Herr Martin zögerte. Er sah auf die Lilie in seiner Hand und beugte sich hinab, um sie auf das Grab zu legen. Dann erhob er sich und sah Kevin mit einem Blick an, der sowohl seine Trauer, als auch den Frieden zeigte, den er mit sich und der Welt geschlossen hatte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Weil Lilien keine Dornen haben. Rosen allerdings schon.“ Mit diesen Worten ließ er Kevin allein zurück. Obwohl sie sich fast täglich sahen, verlor keiner der beiden je wieder ein Wort über diese Unterhaltung. Herrn Martin gab es nur von vier Uhr bis kurz nach vier und Kevin entschied, dass das wohl das Beste für ihn war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)