Eines Freundes Freund zu sein von Niekas (Ludwig & Feliciano) ================================================================================ Kapitel 1: Eines Freundes Freund zu sein ---------------------------------------- Dies war kein Abend, um sich darüber zu streiten, ob Beethoven Deutscher oder Österreicher gewesen war. An diesem Abend ging es nicht um den Mann, sondern um seine Musik. Und davon konnten alle etwas haben. Sie hatten nicht nur Beethoven gespielt, natürlich nicht. Sie waren quer durch alle Musik gegangen, die sie kannten, ohne lange über die Auswahl nachzudenken. Nach einigem Hin und Her hatte Gilbert seine alte Querflöte heraus geholt. Sein Zusammenspiel mit Roderichs Klavier hatte erstaunlich gut geklappt, wenn man von einigen Zwischenfällen absah. („Ey, Sissi, du hast den Einsatz vermasselt!“ „Herrgott, bist du deppert oder was? Du hast noch einen Takt Pause!“) Es war seltsam, dachte Ludwig, dass Gilbert Flöte spielte. Ausgerechnet. Nicht Pauke oder Trompete, wie man es vielleicht erwartet hätte. Erzsébet hatte ihre Geige dabei und eine Art Brett, das Ludwig nicht genauer definieren konnte. Es kam nicht zum Einsatz. Feliciano hatte auf seiner Gitarre gespielt, Bella ciao, und sich gefreut, als alle das „Bella, ciao“ im Chor mit nuschelten. Den Rest der Zeit über hatte er auf einem der weichen Sofas in der Ecke gesessen und mit leicht geöffnetem Mund zugehört, wie die anderen spielten. Ludwig wünschte sich, er wäre ein bisschen näher bei ihm gewesen. Er selbst saß in einer Ecke des Raumes, neben dem Fenster, das den Blick in die Nacht freigab. Sein Cello wurde mit der Zeit schwer. Er seufzte leise, als er zum unzähligen Mal an diesem Abend zu seinem Bogen griff. Roderich nickte ihm zu, bevor er zu spielen begann. Es war ein Kanon, weshalb Ludwig sich Zeit lassen und ihm ein wenig Vorsprung geben konnte. Erzsébet war als zweite dran. Ludwig fiel erst ein, als die Melodie sich schon von dem simplen Grundaufbau zu lösen begann. Er brauchte nicht auf die Noten zu sehen, er kannte den Kanon auswendig. Seine Augen wanderten durch den Raum. Roderich saß sehr aufrecht, versunken in seiner Musik. Erzsébet hatte den Kopf zur Seite geneigt. Gilbert nahm sich gerade eine Auszeit und fläzte sich neben Feliciano auf dem Sofa. Er raunte ihm etwas zu und grinste. Feliciano blinzelte und wandte sich zu Ludwigs Überraschung ihm zu. Bevor Ludwig das Gesicht abwenden konnte, hob er die Hand und winkte. Es brachte Ludwig derart aus dem Konzept, dass sein Bogen einen seltsamen Schlenker nach unten machte und seine Melodie abbrach. Roderich und Erzsébet spielten ein paar Sekunden lang zweistimmig, bevor auch sie abbrachen. „Was war das denn, Ludwig?“ „Verzeihung“, murmelte Ludwig und sah zu Boden. Er wollte nicht, dass alle sahen, wie rot er geworden war. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass Feliciano verwirrt blinzelte. „Saupreiß“, urteilte Roderich trocken und blätterte durch ein paar Blätter, die auf dem Flügel lagen. „Barbaren, alle miteinander.“ „Nun lass ihn in Ruhe, Sissi“, sagte Gilbert grinsend und drohte ihm mit der Flöte. Zwar wirkte die Geste nicht sehr gefährlich, aber es war grundsätzlich bedenklich, ihm metallene Gegenstände in die Hand zu geben. Roderich schnaubte. „Ode an die Freude“, sagte er dann. „Wer spielt mit?“ „Hey, das kann ich ja sogar!“, sagte Gilbert und stand auf. „Aber was heißt das schon“, fügte er großspurig hinzu, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte. „Ich bin großartig. Natürlich kann ich das. Mozart, nicht wahr?“ „Beethoven“, korrigierte Erzsébet ihn beiläufig und drehte an den kleinen Schrauben ihrer Geige. „Dann halt Beethoven! Ist doch eh alles dasselbe“, winkte Gilbert ab. „Machst du nicht mit, West?“ Ludwig schüttelte den Kopf. „Ich passe“, brummte er. „Oh, West! Lass mich doch nicht so hängen!“, maulte Gilbert. „Ruhe jetzt“, sagte Roderich ernst. „Ich gebe euch den Einsatz.“ „Also, was mir an unseren kleinen Konzertabenden so gar nicht passt, ist, dass früher oder später Sissi das Kommando übernimmt.“ „Wenn du es tun würdest, würden wir auch auf keinen grünen Zweig kommen.“ „Sei still und fiedel, Lisbeth.“ „Ich sagte Ruhe, Saupreiß!“ Ludwig ließ sie streiten und verstaute seinen Bogen, der für ein so großes Instrument seltsam kurz und plump wirkte, in dem Kasten zu seinen Füßen. Er überlegte kurz, ob er sich zu Feliciano hinüber setzen sollte, ließ es dann aber bleiben. Stattdessen blieb er, wo er war. Auf der vorderen Kante seines Stuhls, das Cello zwischen die Knie geklemmt. Feliciano saß am anderen Ende des Raumes auf dem Sofa und lauschte mit leicht gerunzelter Stirn Roderichs Vorspiel. Als Gilbert und Erzsébet gleichzeitig einsetzten, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hatte die Melodie erkannt. Seine Füße baumelten vor und zurück, wobei er allerdings darauf achtete, nicht auf den Boden zu treten, um keinen Lärm zu machen (Roderich hatte ihn heute schon deswegen zurecht gewiesen). Zu Ludwigs Überraschung begannen seine Lippen, sich zu bewegen. Fast, als würde er mitsingen. Doch kein Laut drang an Ludwigs Ohren außer dem Klang der Instrumente. Kein Wort, das zu verstehen gewesen wäre. Natürlich nicht, dachte er. Feliciano kann kaum Deutsch. Gibt es eine italienische Fassung des Textes? Eine englische? Ja, das sehr wahrscheinlich. Aber woher kennt er sie? Nicht einmal ich kenne den Text über die erste Strophe hinaus. Freude, schöner Götterfunken... ja, und dann? Aber vielleicht kennt auch Feliciano nur die erste Strophe. Oder er denkt sich den Text gerade aus. Auch das würde ich ihm zutrauen. Er saß da und bemerkte nicht, dass er den Blick nicht von Feliciano hätte lassen können, selbst wenn er gewollt hätte. Jetzt wünschte er sich, er habe sich anders entschieden und sich doch zu ihm hinüber gesetzt, bevor sie zu spielen begannen. Dann müsste er jetzt nicht allein hier sitzen. Aber nun, da sie das Stück angefangen hatten, konnte er nicht mehr einfach aufstehen und das Zimmer durchqueren. Es würde die anderen stören. Roderich würde die Fassung verlieren, seine Musik musste perfekt sein. Und wie sollte er lautlos das Cello beiseite legen und aufstehen? Nein, es war unmöglich. Er musste sitzen bleiben. Sie beendeten den ersten Teil des Stücks und gingen zur Wiederholung über. Gilbert runzelte irritiert die Stirn, fuhr sich blitzschnell mit der Zunge über die Lippen und spielte weiter, bevor jemand etwas bemerken konnte. Es war die zweite Strophe, dachte Ludwig. Und Feliciano... sang weiter. Er stockte nicht und wurde auch nicht unsicherer, im Gegenteil. Seine Stimme wurde eher lauter, jetzt deutlich zu hören durch den Klang der Instrumente, nicht aufdringlich, aber beharrlich. Seine Augen waren wie so oft fast geschlossen, seine Beine baumelten verträumt vor und zurück. Und er sang. Es war Deutsch, stellte Ludwig verwirrt fest. Ein altertümliches, unhandliches Deutsch. Dennoch kamen ihm die Worte seltsam vertraut vor. Natürlich taten sie das, dachte er, er hörte den Text ja nicht zum ersten Mal. Vor langer Zeit musste er ihn gehört haben, gelesen, vielleicht ausgesprochen. Genau erinnerte er sich nicht. „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein. Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund...“ Feliciano musste die Worte auswendig gelernt haben, dachte Ludwig. Er fragte sich, ob er überhaupt wusste, was er da sang. Was es bedeutete, was er sagte. Eines Freundes Freund zu sein... War Feliciano sein Freund? Jedem anderen mochte es lächerlich vorkommen, dass Ludwig sich diese Frage stellte. Entweder, weil jeder es für selbstverständlich hielt, dass zwei so gegensätzliche Persönlichkeiten wie sie beide niemals Freunde sein könnten. Oder weil er es (wie die, die Ludwig ein wenig näher standen) für ebenso selbstverständlich hielt, dass Gegensätze sich eben doch manchmal anzogen. Feliciano und er kannten sich seit so langer Zeit, und dennoch hatte Ludwig zu oft das Gefühl, nichts über ihn zu wissen. Es war schwieriger, als viele dachten, einen Freund zu finden. Jemanden, dem man vertraute. Dem man alles erzählen konnte. Aber was konnte man Feliciano schon erzählen? Vieles würde er nicht verstehen. Würde es nicht ernst nehmen. Er nahm ohnehin kaum etwas ernst, einer der größten Unterschiede zu Ludwig. Feliciano war sorglos, dachte nicht nach. Mit ihm zusammen zu sein, war gut für Ludwig. Manchmal regte Feliciano ihn furchtbar auf mit seiner Nutzlosigkeit, manchmal brachte er ihn zum Lachen. Es war ein gutes Gefühl. Wieso, dachte Ludwig, fühlte es sich dann so schlecht an, wenn er länger darüber nachdachte? Seine Beziehung zu Feliciano war, wenn man genauer hinsah, nichts als oberflächlich. Wie konnte es auch anders sein mit jemandem, der anscheinend so wenig Ernst besaß wie Feliciano? Er verschwendete vermutlich keinen Gedanken daran, wie seine Beziehung zu Ludwig aussah. Er lebte sie einfach. Vielleicht gab es Ludwig deshalb so zu denken, was er gesagt oder eher gesungen hatte. Ein Freund. Ein wahrer Freund – gab es so etwas überhaupt? Konnte Feliciano so jemand sein? Konnte Ludwig so jemand sein? Vielleicht nicht, dachte Ludwig. Vielleicht wäre ihm nicht einmal das genug. Er wollte mehr. Plötzlich schämte er sich dafür, dass er Feliciano angestarrt hatte, als er da gesessen hatte mit seinem Cello zwischen den Beinen. (Himmel, wie viele Instrumente gab es noch, die man zwischen den Beinen spielte? Oh, die Bilder in seinem Kopf.) Vielleicht könnte so vieles anders sein, wenn... wenn einige Dinge anders wären. Vielleicht. Es musste mehr geben als den Freund eines Freundes, dachte Ludwig. Wer ein holdes Weib errungen... Er sah Erzsébet an, die die grünen Augen auf ihre Geige gerichtet hielt und den Bogen darüber führte. Roderich malte Schnörkel und Verzierungen um die Töne. Die beiden harmonierten wie üblich hervorragend. „Ein holdes Weib errungen“ – besser konnte man ihre Beziehung kaum beschreiben. Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt... Komm schon, Ludwig, irgendjemanden hast du doch. Irgendwer muss da sein. Zuerst dachte er an seine Hunde, aber Tiere hatten keine Seelen. Feliciano? Gilbert? Nein. Da war niemand, den er sein nennen könnte. Niemand. Wirklich niemand. Ein Lächeln lag auf Felicianos Gesicht. Seine Stimme drang selbstbewusst durch die Töne, dazwischen hindurch, darüber hinweg. „...und wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund.“ Ludwig saß da und konnte sich nicht rühren. Wer's nie gekonnt. Niemand sah ihn an, sie waren mit ihrer Musik beschäftigt. Roderichs blasse Finger huschten über die Tasten. Gilberts Stirn war leicht gerunzelt, doch er wirkte nicht verbissen, nur ernst. Erzsébet wiegte sich leicht hin und her, während sie spielte. Niemand bemerkte etwas. Wer's nie gekonnt... Er spürte, wie eine Träne über seine Wange lief. Es war ein unangenehmes Gefühl, nass und warm. Er wollte sie beiseite wischen, aber er konnte nicht. Niemand sollte etwas bemerken. Seine Sicht verschwamm immer weiter, während mehr Tränen in seine Augen stiegen. Er ahnte, dass es so nicht weitergehen konnte, dass sie es irgendwann bemerken würden, aber gleichzeitig klammerte er sich verzweifelt an die Hoffnung, dass er unentdeckt bleiben würde. Er wollte niemandem erklären müssen, was los war. Wieso konnte er es nicht? Wieso war da niemand, den er sein nennen konnte? Plötzlich fühlte er etwas, etwas anderes als die Nässe auf seinem Gesicht. Einen weichen Arm, der sich um seine Schultern legte und über seinen Arm strich. Das kalte Gefühl, ertappt worden zu sein, machte sich in ihm breit. Langsam hob er den Kopf, obwohl er es nicht wissen wollte. Nicht wissen wollte, wer ihn entdeckt hatte. „Es ist wunderschön, nicht wahr?“, flüsterte Feliciano und lächelte. Tränen standen in seinen Augen, er wischte sie mit dem Ärmel beiseite. Ludwig starrte ihn an. „J... ja“, stimmte er zu, ohne zu verstehen, wovon Feliciano sprach. Seine Stimme war rau. „Dieses Stück ist eines meiner liebsten“, erklärte Feliciano leise und nickte zu den Musizierenden hinüber. „Es bringt mich jedes Mal zum Weinen.“ Erst da wurde Ludwig klar, dass er von der Musik sprach. „Ja... es ist... schön“, erwiderte er lahm. Sein Herz schlug schnell. Niemand hatte etwas bemerkt. „Ich wusste gar nicht, dass du weinst, Ludovico.“ „Nicht oft.“ „Nein, ich weiß. Ich habe noch nie gesehen, dass du weinst. Deswegen dachte ich immer, du kannst es gar nicht.“ Ludwig hielt es nicht für nötig, etwas darauf zu antworten. Er wandte den Blick ab und zuckte zusammen, als Feliciano über seine Wange wischte. „W-was machst du denn da?“ „Ich wische die Tränen weg“, erklärte Feliciano hilfsbereit, beugte sich hinunter und fuhr fort, mit seinem schon etwas feuchten Ärmel durch Ludwigs Gesicht zu wischen. „So muss man das nämlich machen, wenn man weint. Vertrau mir, ich kenne mich aus!“ „Ich verstehe. Ich denke, ich kann das auch allein...“ „Aber ich helfe dir gern, Ludovico! Du hilfst mir so oft, also helfe ich dir auch! So macht man das doch unter Freunden, oder?“ Er reckte sich an dem Cello vorbei, das Ludwig noch immer festhielt, und lächelte. Ludwig spürte, wie er rot wurde. Eines Freundes Freund zu sein. „So!“, sagte Feliciano zufrieden und richtete sich wieder auf. „Jetzt ist es... aaah! Aiuto, Ludovico! Aiuto!“ Verwirrt drehte Ludwig den Kopf und seufzte im nächsten Moment. Feliciano hatte es geschafft, sich mit den Haaren in den Schrauben des Cellos zu verfangen. „Ludovico!“, heulte er und tastete nach seinen eingeklemmten Haaren. „Es ziept! Mach es weg, per favore! Hilf mir! Aiuto!“ „Halt still, dann tut es auch nicht weh.“ „Aiuto!“ „Ich sagte, halt still!“ „Was soll denn das?“, erklang Roderichs wütende Stimme. „Mensch, West, könnt ihr eure Spielchen nicht woanders abhalten?“ Verwirrt hob Ludwig den Kopf. Roderich, Gilbert und Erzsébet hatten ihr Spiel beendet (oder abgebrochen) und starrten Feliciano und ihn an. „Oh... das tut mir Leid“, sagte er zerknirscht und wandte sich wieder Feliciano zu. „Aber wir haben hier ein kleines Problem.“ „Ja, so seht ihr aus!“, feixte Gilbert und kam näher. „Was ist jetzt schon wieder passiert?“ Feliciano gab eine Art Quietschen von sich, als Ludwig mit einem Ruck eine letzte Strähne befreite. „So. Da.“ Unsicher tastete Feliciano nach seinem Kopf. „Grazie, Ludovico“, sagte er dann und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Keine Ursache“, brummte Ludwig und betrachtete ein paar rotbraune Haare, die noch an dem Cello festklemmten. „No, wenn ihr euer... was auch immer das war jetzt beendet habt“, sagte Roderich streng und sah sie über seine Brille hinweg an, „können wir ja jetzt fortfahren.“ „Ach, Sissi! Heute Abend ist der Wurm drin, im Ernst. Wieso setzen wir uns nicht alle hin und machen uns einen schönen Abend?“ „Aber...“ „Ich finde die Idee gar nicht schlecht“, mischte Erzsébet sich ein und legte eine Hand auf Roderichs Schulter. „Danke, Lisbeth. Ich weiß, dass du mich liebst.“ „Du kannst von Glück sagen, Gilbert, dass ich mit der Geige so viel zu tragen hatte, dass ich meine Bratpfanne zu Hause lassen musste.“ „Also gut“, sagte Roderich und stand auf. „Entspannen wir uns ein wenig. Ich habe noch Torte in der Küche.“ „Torte?“, fragte Ludwig skeptisch und begann, sein Cello einzupacken. „Um diese Uhrzeit?“ „Für Torte ist es nie zu spät, Ludovico!“, erklärte Feliciano ihm strahlend. „Ich möchte ein Stück! Was ist es für eine Art von Torte?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)