Days von Chizuru ================================================================================ Kapitel 9: tag 50 ----------------- What a way to live my life I'm hiding from the battles I don't want to fight Was war das passende Wort für das Gefühl, wenn man alles verloren hatte und das Leben einen noch weiter unten sehen wollte? Verzweiflung? Hoffnungslosigkeit? Oder gar Ironie? Nein, das beschrieb es nicht einmal annähernd. Man konnte so viele dramatische Worte dafür finden, aber dieses Gefühl beschreiben zu wollen, war schlichtweg unmöglich. Man musste es selbst spüren. Seit dein Ersatz in der Band war, sah ich Reita kaum noch. Wenn er nicht bei mir hockte, war er in der PSC, um zu proben. Auch wenn ich mich fragte, wer an meiner Stelle spielte. Vermutlich hatten sie bereits einen neuen Gitarristen, weswegen Reita auch nicht mehr versuchte mich umzustimmen. Irgendwo tat der Gedanke weh. Dass jemand an meiner Stelle bei Gazette sein würde. Der Band, der ich so verdammt viel verdankte. Andererseits, war es den anderen zu verübeln? Sie wollten auch nur ihren Traum leben und nicht aufgeben, wie ich es getan hatte. Doch das schlimmste war die Einsamkeit, vor der ich mich so sehr gefürchtet hatte. Erst jetzt wurde mir klar, wie alleine ich war. Wen hatte ich denn schon, außer die Band? Wer würde bei mir sein, wenn sie auf einer Tour oder im Studio waren? Wer würde mich nachts halten, damit ich nicht an mir selbst zerbrach? Reita würde nicht ewig bei mir bleiben, egal ob ich mir das wünschte. Er hatte sein eigenes Leben, genau wie ich. Dennoch fiel mir bei dem bloßen Gedanken daran das Atmen mit jeder Sekunde schwerer. War es egoistisch, nicht allein sein zu wollen? Oder war es letzten Endes normal? „Worüber denkst du nach?“, riss mich plötzlich Reitas Stimme aus meinen sinnlosen Überlegungen, die sich ohnehin nur im Kreis drehten. „Über nichts“, antwortete ich. Ich wollte ihn damit nicht belasten, er musste wegen mir schon genug ertragen. „Hmm“, machte er nur und setzte sich neben sich. Irgendwie spürte ich, dass ihm etwas auf der Zunge brannte, denn sein Blick wich meinem immer aus und er schien nervös zu sein. „Worüber denkst du nach?“, stellte ich ihm dann dieselbe Frage, wie er mir. „Ich glaube ich bin dir genug auf die Nerven gegangen.“ Er brauchte nicht mehr sagen, ich wusste worauf er hinaus wollte. Und wie ich das wusste. „Deshalb gehe ich wieder zu mir, meine Wohnung vermisst mich schon“, lachte er dann etwas, aber mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Ich war wie gelähmt, alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen, als ob jemand seine Faust in mich gerammt hätte und sie nun quälend langsam herumdrehte, bis nichts mehr dort war, wo es sein sollte. Meine Welt stürzte ins Chaos. Ein weiteres Mal. Jetzt würde ich wirklich alleine sein. Zum ersten Mal seit so langer Zeit. Das, was bis eben noch eine grausame Befürchtung war, wurde plötzlich zur Realität. Beinahe war es schon Ironie. Wäre er geblieben, hätte ich mir darüber keine Gedanken gemacht? Oder war es letztlich so, dass man dann anfing über etwas nachzudenken, wenn man spürte, dass es bald zur Realität werden würde? „Kou? Alles in Ordnung?“ Reita klang besorgt und ich zwang mich dazu, die Gedanken beiseite zu schieben, wenigstens für einen Moment. Er sollte meine Zerrissenheit nicht bemerken. „Ja... ja... natürlich. Ich… das kam nur unerwartet, aber es ist natürlich okay!“, redete ich mich schnell raus und zu meinem Erstaunen sah es sogar so aus, als würde Reita meiner Lüge glauben. Nichts war okay. Rein gar nichts. Wie sollte ich es schaffen, ohne Reita an meiner Seite, der so lange meine Stütze war? Der die düsteren Gedanken von mir fernhielt, wenn sie drohten mich aufzufressen? „Du hast von mir bestimmt langsam auch genug, aber ganz los wirst du mich nicht, Kou! Wenn ich Zeit hab, schau ich vorbei, ja?“ Reita lächelte, aber noch immer wollten meine Mundwinkel sich einfach nicht bewegen. Weil meine Stimme versagte, nickte ich lediglich. Ich hatte nicht genug von ihm. Ich würde niemals genug von ihm haben. Dazu war er mir viel zu wichtig geworden. Versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich immer noch genau so sehr wie am Anfang. Er war mir nur als Freund wichtig geworden, sehr wichtig sogar. Reita war die ganze Zeit für mich dagewesen und irgendwie war ich von ihm abhängig geworden. Ich wusste nicht, wie ich ihm das jemals danken sollte. Kein Dank der Welt reichte dafür aus. Ein letztes Mal schlossen sich Reitas schützende Arme um mich und ich konnte nicht anders, als mich an ihm festzuhalten und zu hoffen, er würde mich nie mehr loslassen und für immer bei mir bleiben. Was für ein kitschiger, unrealistischer Wunsch. Doch die Realität kam und mit ihr die Kälte, vor der er mich immer beschützt hatte. „Mach keine Dummheiten, Kou. Ich ruf dich an, okay?“ Sein sanftes Lächeln schien so surreal in dieser von Trümmern übersäten Welt, dass ich für einen Moment vergaß zu atmen. „Okay“, brachte ich leise hervor. Dann fiel die Tür hinter Reita ins Schloss. Seicht atmend ließ ich meine Fingerspitzen über das Holz wandern, während mein Blick immer trüber wurde. Die Stille war so drückend, dass ich selbst meinen unregelmäßigen Herzschlag hören konnte. Ich war allein. Allein in dieser viel zu großen Wohnung, ohne Hoffnung, dass es sich irgendwann wieder ändern könnte. Warum ausgerechnet jetzt? Wo ich doch gerade dabei war, mich wieder etwas zu erholen. Ich wandelte auf dem schmalen Pfad zwischen dem völligen Absturz und der Hoffnung, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können. Und nun wurde ich zurückgestoßen. Wurde hunderte, nein tausende Schritte zurückgeworfen. Es war, als ob sich ein Schalter in mir umgelegt hatte und für einen kurzen Moment verlor ich tatsächlich den Verstand. Laut aufschluchzend schlug ich immer wieder gegen die Tür, vollkommen außer acht lassend, dass ich mich dabei verletzen könnte. Es war mir egal. Es war mir so verdammt egal. In meinem blinden Rausch, bekam nicht nur die Tür meinen grenzenlosen Schmerz zu spüren. Alles, was in Reichweite war, wurde dazu missbraucht, mein Herz zu betäuben – irgendwie mit der Trauer fertig zu werden. Jede Scherbe, jeder Splitter, der sich tief in meine Haut bohrte. Einfach alles. Und doch reichte es nicht. Ich konnte all das Leid nicht einfach aus mir herausspülen wie Tränen. Ein letzter Schlag, dann sackte ich hilflos wimmernd auf dem Boden zusammen. Ich musste ein jämmerliches Bild abgeben, wie ich inmitten all dieser Trümmer saß, die einmal mein Leben gewesen waren und auf ein Wunder wartete, das niemals kommen würde. Wie konnte ich nur zu so einem Wrack werden, nur weil ich alleine war? Wo ich doch die Einsamkeit so sehr geliebt hatte, bevor du in mein Leben getreten warst. Im nächsten Moment musste ich über mich selbst lachen. Gott, wie schwach ich geworden war! Früher hätte ich mich für solche Gedanken selbst geschlagen, aber heute erscheinen sie mir völlig normal. Ich will nicht, dass diese Schwäche ein Teil von mir wird. Ich will einfach nur endlich aus diesem Albtraum erwachen, um da weiter zu machen, wo plötzlich die Zeit für mich stehen geblieben war. War das denn zuviel verlangt? Es würde sich nichts ändern, wenn ich nicht endlich lernen würde, aus diesem Albtraum etwas zu machen, wofür es sich zu leben lohnt. Egal wie schrecklich er auch sein mochte, ich würde niemals aufwachen. Warum also sollte ich mich dem Schmerz hingeben, anstatt zu versuchen ihn wenigstens etwas zu stillen? Die Welt würde sich für mich nicht aufhören zu drehen, damit ich bei dir sein könnte. Ich musste sie selbst anhalten und mir zu meinem Glück verhelfen. Das war ich allen schuldig. Den anderen, mir selbst und vor allem dir. Ich weiß, dass es hart wird. Dass ich noch viele Rückschläge erleiden werde und noch genau so oft hier sitzen werde, inmitten meiner zerbrochenen Welt und mich fragen würde, wofür ich eigentlich kämpfte. Aber wenn ich jetzt nicht damit anfangen würde, meine Welt zu flicken, würde in meinen eigenen Tränen ertrinken. Mein Leben war an seinem absoluten Tiefpunkt angekommen und der einzige Weg, den ich jetzt noch gehen konnte, war der nach oben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)