Falte die Flügel auf und Flieg von asio_otus ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Gesang der Vögel wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Sie kündigten das Erscheinen der Sonne an. Nur noch wenige Augenblicke trennten uns von ihren ersten Strahlen. Immer mehr Vögel stimmten in den Gesang ein. Sie sangen von der Luft, dem Morgen, der bald erscheinenden Sonne, die uns Kraft gab, von dem, was der Tag uns bringen mag und von dem Glück ein Teil dieser Welt zu sein. Jede Stimme passte sich an, so dass eine wohltuende Melodie die Wälder und Felder durchströmte. Eine Melodie, die die Söhne und Töchter der Natur sanft aus ihrem Schlaf weckte. Das Lied hörte sich jeden Morgen anders an und doch irgendwie gleich. Es gab keine Vorgaben, keine Noten, keine Texte. Nur einen Titel: "Erwachen". Dieser wurde aber von keinem Vogel je genannt. Nein, die Vögel redeten nicht darüber. Sie übten auch nicht. Sie konnten es einfach. Tief in ihrem Inneren kannten sie die Melodie ohne sie je gehört zu haben. Ein Phänomen, welches wir noch nicht entschlüsseln konnten. Eines von vielen. Die Menschen glauben, dass wir Toninos alle Geheimnisse der Vögel kennen müssten, da wir ihnen sehr ähnlich sind. Doch das ist Schwachsinn. Nur weil wir Flügel und Federn haben, heißt das noch lang nicht, dass wir Vögel sind und so denken wie sie. Aber es stimmt schon. Wir haben sehr viele Gemeinsamkeiten in unserer Lebensweisen mit ihnen. Um genau zu sein, genau so viel wie mit den Menschen. Einige unserer Art beherrschen das Lied des Erwachens und stimmen jeden Morgen mit ein. Die meisten jedoch lauschen ihm lieber – so wie ich. Es gibt nichts Schöneres als in der Morgendämmerung in den Baumwipfeln zu sitzen und sich von dem Gesang verführen zu lassen. Die Sonne erschien und tauchte das gesamte Land in wärmendes Licht. Das Lied versickerte und zurück blieb nur der gewöhnliche, halb so laute Sing-Sang der quasselnden Vögel. Es wurde Zeit fürs Frühstück. Ich kletterte in das tiefe Geäst der Bäume, hangelte mich von einem Ast zum andern, von einem Baum zum andern, bis ich unser Nest erreichte. Ich sollte es lieber Baumhaus nennen, denn ein offenes Nest, wie die Amseln es bauten, war es nicht. Kaum erreichte ich den kräftigen Ast, auf welchem es errichtet war, kamen mir auch schon meine jüngsten Geschwister entgegen. "Pavek, Pavek. Hast du es gehört? Hast du sie singen hören?", Maike, Lala und Jazu sprangen aufgeregt auf und ab. Mir blieb nur einen Moment um zu nicken, bevor Jazu anfing überhastig zu berichten: "Weißt du was heute für ein Tag ist? Heute dürfen wir das erste Mal mit den anderen Kindern drüben in der alten Eiche klettern! Das wird toll! Willst du mit?" "Jazu, dein Bruder muss in die Schule, um zu lernen. Er kann nicht mit euch mit.", meine Mutter, ähm… unsere Mutter antwortete wieder einmal für mich. Eigentlich machte sie das so gut wie immer. Echt nervig. "Kommt, lasst uns frühstücken!", fügte sie noch hinzu. Nach dem Frühstück machte ich mich auf dem Weg zur Schule. Es war ein wenig anstrengend, da diese sich außerhalb des Waldes in den Bergen, besser gesagt in einer Felswand lag. Wenn man flog brauchte man maximal zehn Minuten. Für mich war es jedes Mal ein absoluter Sportakt. Ich war als einziger Tonino nicht fähig zu fliegen. Ich habe es nie gelernt. Egal wie oft meine Eltern, Lehrer, Ärzte versucht haben es mir beizubringen, es hat nicht geholfen. Ich habe es nie gelernt. Ich zweifelte oft an mir selbst. So schwer war das doch nicht, oder? Es liegt uns eigentlich im Blut! Meine Eltern waren mit mir bei vielen Ärzten. Doch alle hatten keine Lösung. Ich war gesund. Mir fehlte nichts. Und doch konnte ich nicht fliegen. Mittlerweile sind sechzehn Jahre vergangen ohne dass ich einmal selbstständig in der Luft war. Mir blieb nichts anderes übrig als zu klettern und zu laufen. Für meinen Schulweg brauchte ich eine geschlagene Stunde. Ein Grund, weshalb ich dort nicht gern hinging. Der andere Grund war der, dass mich dort alle nur hänselten und auslachten. Ich hatte keine Freunde. Ein tapferer Einzelgänger. Sehr oft schwänzte ich einfach die Schule. Ich kam vom Weg ab und genoss das rege Treiben im Wald. Der Wald bot mir Schutz. So auch an diesem Morgen. Ich hörte ein ängstliches Fiepen vom Grund des Waldes, aus dem Untergehölz. Ich machte mich also auf, dem Fiepen entgegen. Das Fiepen war nun ganz nahe, doch ich konnte nichts sehen. Ich untersuchte den Boden ab. Und da, zwischen den Brennnesseln, da saß etwas kleines weißes Flauschiges. Ein Küken! "Es muss aus dem Nest gefallen sein.", dachte ich mir und schaute automatisch nach oben in die Baumwipfel. Auf den ersten Blick sah ich nichts. Ich schaute mir nun erst mal das Küken an. Es sah nicht so aus, als sei es verletzt. Unaufhörlich fiepte es mich an. Ich vermutete, dass es ein Bussardküken sein müsste. Wo waren bloß die Eltern? Von ihnen fehlte jegliche Spur. Vorsichtig hob ich den kleinen Piepmatz auf und verstaute ihn in meinem Beutel. Dann kletterte ich den Baum hoch, um das Nest zu suchen. Nach stundenlangem Suchen gab ich auf. Hier war kein Horst. Nicht mal ein Altvogel erschien. Möglicherweise wurde der Horst durch irgendetwas zerstört. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als das Küken mit zunehmen und aufzupäppeln. Was hätte ich sonst tun sollen? In meinem Lieblingsbaum einer alten Gelb-Kiefer baute ich meinem kleinen Freund einen neuen Horst. Er schien sich sichtlich wohl zu fühlen in seinem neuen Heim. Nun musste ich dem Kleinen noch was zum Essen besorgen. Ich machte mich also auf zur Jagd. Toninos sind leidenschaftliche und begabte Jäger, solange sie fliegen können. Wir lernen das Jagen kurz nachdem wir fliegen gelernt haben. Ich aber habe das Jagen vor dem Fliegen gelernt und habe somit auch meine ganz eigene Jagdmethode. Dazu zählt Geduld, Abwarten und Zuschlagen. Auf einem geeigneten Ast in sieben Metern Höhe stellte, beziehungsweise hockte ich mich und wartete mucksmäuschenstill ohne mich zu bewegen. Ein Kaninchen tauchte auf. Aber dieses Interessierte mich nicht. Es war fiel zu groß für das kleine Küken. Also weiter warten. Nach etlichen Minuten der Stille tauchte plötzlich ein weiteres Säugetier auf. Es war ein Erdhörnchen. Jetzt hieß es den richtigen Moment erwischen! Und schon war er da: Ich sprang vom Ast und stürzte auf das kleine Lebewesen runter. Mein linker Fuß packte das Tierchen, mit meinem rechten federte ich den Sprung ab und rollte mich anschließend ab. Währenddessen stieß ich dem Erdhörnchen einer meiner Krallen in den Schädel. Sekunden später war es bereits tot. Ich kehrte zum Horst zurück. Dort angekommen balgte ich meinen Fang ab. Das heißt, ich enthäutete es. Danach entfernte ich den Kopf und den Verdauungstrakt. Die restlichen Organe legte ich vorerst beiseite. Die Milz verfütterte ich gleich an meinen kleinen Freund. Dann teilte ich den Rest der Beute in zwei Hälften. Die eine war für den kleinen Bussard, die andere für mich. Ich hatte einen riesen Kohldampf, da ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ich gab dem kleinen noch die Leber, das Herz und den Brustkorb. Das sollte fürs erste reichen. Und tatsächlich schien er zufrieden zu sein. Froh darüber aß ich meine Hälfte. Toninos essen sowohl rohes als auch gekochtes oder gebratenes Fleisch. Es gab aber nichts Besseres als frisch geschlagene Beute. Das Fleisch war noch warm und das Blut kaum geronnen, den Puls noch leicht zu spüren. Unbeschreiblich köstlich. Nach meinem Mahl packte ich den restlichen Teil für den Bussard beiseite. Der Kleine sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, sich selbst zu bedienen. Ich verbrachte den Tag in meiner Kiefer, ganz in der Nähe meines Schützlings. Dieser schlief die meiste Zeit. Dreimal fütterte ich ihn noch. Die letzte Mahlzeit erhielt er mit Fell, damit er über Nacht ein Gewölle bilden konnte. Bevor ich mich auf dem Heimweg machte, verdeckte ich das Nest mit einem Ast. Darauf legte ich meine Weste, damit Raubtiere durch den Geruch hoffentlich abgeschreckt werden. Und der Kleine sollte auch nicht erfrieren. Zuhause angekommen erwartete mich auch schon meine missgelaunte Mutter: "Zum Kuckuck nochmal, wo warst du?" "In der Schule", antwortete ich. "Pavek Casco von Albatra lüg mich nicht an!", sagte sie energisch während sie mich am Arm packend zu sich ran zog. Ich glaube, sie war sauer. "Dein Lehrer hat mir soeben etwas ganz anderes erzählt. Er meinte, du seist heute gar nicht erst in der Schule erschienen. Und anscheinend ist das schon das zehnte Mal in diesem Monat. Was sagst du dazu?", sie schaute mich eindringlich an. Jep, sie war sauer. Im Hintergrund sah ich Prof. Longwood an unserem Tisch sitzen. "Wenn er das sagt, so wird es wohl stimmen.", meinte ich leise. "Ist das alles? Willst du uns nicht erzählen wo du dich eigentlich rumgetrieben hast?", sie wurde immer lauter. "Nein", gab ich von mir. "Komm Junge! Setzt dich zu mir!", diesmal sprach Prof. Longwood ruhig und geduldig, bevor meine Mutter vor Wut ausbrechen konnte. Ich setzte mich, so wie mir gesagt wurde. "Pavek, irgendwas stimmt mit dir nicht. Was ist los? Was bedrückt dich?" Ich schwieg. Nach einer Weile gab ich kleinlaut bei: "Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur mal wieder verlaufen." "Das passiert dir in letzter Zeit erstaunlich oft.", bemerkte der Professor, "kannst du dir erklären warum?" "Ich weiß nicht, der Wald sieht in letzter Zeit so anders aus. Früher kannte ich ihn, jeden Winkel, als hätte ich ihn selbst errichtet. Doch zurzeit fühl ich mich wie ein Fremder, der erst seit kurzem angereist ist." Ich erschrak. Wie leicht mir diese Worte doch von den Lippen kamen, als entsprächen sie der Wahrheit. Vielleicht war dieses genau der Fall und ich habe es noch gar nicht bemerkt. "Unsinn! Keiner der Toninos kennt den Wald so gut wie ich. Warum sollte mir dieser auf einmal nach 16 Jahren fremd sein? Das ergab keinen Sinn!", redete ich mir ein. Bevor ich allerdings noch weiter Gedanken darüber verlieren konnte, spürte ich nur noch diesen stechenden Schmerz auf meiner rechten Wange, der sich bis zu den Ohren hin zog. Er war so gewaltig, dass für einen Moment, mein Gehirn aussetzte. Als es wieder einigermaßen funktionstüchtig war, musste ich feststellen, dass meine Mutter direkt vor mir stand und mir anscheinend eine Ohrfeige erteilt hatte. Dazu vernahm ich allmählich den Satz: "Pavek, hör endlich auf uns anzulügen!", welcher bereits eine Weile im Raum schweben musste. "Mrs. Albatra, Gewalt löst unser Problem nicht.", hörte ich Prof. Longwood sagen. Ich versuchte mich zu sammeln, meine Gedanken wieder zu ordnen: "Meine Mutter hatte mich gerade geschlagen, weil ich ihrer Meinung nach lüge. Prof. Longwood sitzt an unserem Esstisch, weil ich heute nicht in der Schule erschienen bin. Ich hatte mich im Wald verlaufen und war deshalb nicht in der Schule. Und wo war jetzt das Problem?" Neben meinen Gedanken hörte ich ein Fiepen in meinem Kopf. "Der Bussard! Deshalb war ich nicht im Unterricht. Hatte ich mich dann überhaupt verlaufen?" Meine Gedanken blieben wirr. Und je mehr ich versuchte über das Geschehene nachzudenken, desto öfter musste ich an mein kleines Küken denken. Es fühlte sich bestimmt einsam. Ich merkte, dass Prof. Longwood mich besorgt anstarrte und auf irgendetwas wartete. Als nichts geschah fragte er mich: "Hast du mich verstanden? Hast du gehört was ich gesagt habe?" Was wollte er von mir? "Ich befürchte nein.", gestand ich, da er mich noch mehr verwirrte, als ich eigentlich schon war. "Alles in Ordnung mit dir?", wollte er diesmal wissen. Worauf ich wahrheitsgetreu sagte: "Ich bin etwas verwirrt." Prof. Longwood stand auf und war im Begriff zu gehen. Er drehte sich allerdings noch mal zu mir um und sagte: "Geh ins Bett, Junge. Wir sehen uns morgen im Unterricht." Zu meiner Mutter meinte er nur: "Es hat keinen Sinn ihn heute noch weiter zu Löchern." Damit ließ er sie genau so verwirrt zurück wie mich. Kapitel 2: ----------- Am nächsten Tag stand ich ganz früh auf. Mein Kopf schmerzte noch immer. Ich erinnerte mich an die jüngsten Ereignisse des vorigen Abends. Doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich hätte am liebsten heute erneut die Schule geschwänzt. Dann hätte ich genügend Zeit für mein Küken. Allerdings war dies keine so gute Idee. Noch einmal würde Prof. Longwood nicht so friedlich zu uns kommen. Er wollte mich heute in der Schule sehen, soviel stand fest. So blieb mir nichts anderes übrig als vor der Schule mich um meinen Schützling zu kümmern. Ich schlang also schnell mein Frühstück runter und machte mich auf dem Weg zum Horst. An einem geeigneten Platz machte ich Halt. Ich setzte mich wieder in einen Baum und wartete. Der Kleine brauchte ja auch was zum Essen. "Sie an! Heute gibt’s Wachtel.", dachte ich mir als ich mein Opfer im Blick hatte. Kurz darauf war das Vögelchen auch schon tot. Nun schnurstracks zum Küken. Lahnend erwartete mich der Kleine auch schon. Ich machte die Wachtel zurecht und gab ihm auch gleich schon mal die Organe und ein gerupftes Flügelchen. Er schlang alles ganz artig hinunter. Den Rest verstaute ich wieder sorgfältig. Allzu lang konnte ich nicht wegbleiben. Der Kleine brauchte Nahrung, sonst verhungerte er mir noch. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als trotzallem mindestens eine Stunde zu schwänzen. Während ich mich auf dem Weg zur Schule befand, entschied ich, dass ich die letzte Stunde vor der Mittagsstunde schwänzen werde, um zu meinem kleinen Schützling zurück zu kehren. Der Unterricht war extrem langweilig. Ich musste die ganze Zeit an meinen kleinen Bussard denken. Fieberhaft suchte ich in Gedanken nach einem Namen. Doch da gab’s noch ein kleines Problem, welches ich erst noch lösen musste: Ich wusste nicht mal ob ich ein männliches oder ein weibliches Tier adoptiert hatte. War es überhaupt möglich dies heraus zu finden? Bis jetzt sahen für mich alle Bussarde gleich aus. Ich hatte noch keine markanten Unterschiede feststellen können. In der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden begab ich mich also in die Schulbibliothek. In der kurzen Zeit blieb mir nichts anderes übrig, als das nächst mögliche Greifvogelbuch zu schnappen und zu hoffen, dass da was drin stand, was mir weiterhelfen würde. Die nächste Stunde hatte ich bei Prof. Longwood. Er wollte mit mir nach dieser Stunde noch einmal reden. Wir gingen in sein Büro, um ungestört zu sein. "So, Pavek, erzähl mal!", meinte er kurz nachdem wir uns gesetzt hatten. "Was soll ich ihnen erzählen?", fragte ich ihn. "Zum Beispiel was du gestern gemacht hast, nachdem du dich verlaufen hast!" "Ich hab den Weg nach Hause gesucht.", meinte ich. "Und dass hat den ganzen Tag gedauert?", Prof. Longwood war erstaunt. "Äh, anscheinend schon." Ihm schien meine Antwort nicht zu gefallen. Er sah mich skeptisch an. "Pavek. Ich kann dich nicht zum Reden zwingen. Aber ich vermute mal, dass du ein Problem hast. Wenn dies der Fall ist, so würde ich dir gerne helfen. Ich kann dir aber nicht helfen, wenn du nicht mit mir darüber redest." Ich schwieg. Nach einer Zeit sprach Prof. Longwood wieder, diesmal ernster: "Na gut. Du willst es nicht anders. Du kommst nun wieder regelmäßig zum Unterricht! Desweitern wirst du morgen Nachmittag bei mir Nachsitzen. Sollte ich dich noch mal beim Schwänzen erwischen, so muss ich dich der Schule verweisen!" Er legte eine Pause ein und meinte dann mit Nachdruck: "Dann kannst du das Studium an den Nagel hängen und den Ornithologen auch." In diesem Moment fragte ich mich nur: "Woher weiß er, dass ich mal Ornithologe werden will?" "Du kannst gehen." Das ließ ich mir nicht dreimal sagen. Trotz Prof Longwoods Drohung schwänzte ich die Stunde vor der Mittagspause, um zu meinem Küken zu kommen. Ich beeilte mich. Der Kleine erwartete mich auch schon sehnsüchtig. Während ich ihm die Reste der Wachtel verfütterte, überlegte ich mir wie ich sowohl bei ihm sein konnte, aber auch nicht den Unterricht missen würde. Ich konnte ihn ja schlecht mitnehmen. Tiere, v.a. junge hungrige Greifvogelküken gehörten nicht in die Schule. Er würde durch sein ständiges lahnen auffallen. Lahnen nennt man übrigens den Bettelruf nach Futter. Mir kam der Gedanke auf, einen zweiten Horst in der Nähe der Schule zubauen, damit ich nicht ganz so lang zu meinem Küken bräuchte und mir somit die Mittagspause an Zeit reichen würde. Da mir nichts Besseres einfiel setzte ich diesen nach der Schule in die Tat um. Ich suchte nach einem geeigneten Baum nahe dem Waldrand. Ich würde trotzdem noch knapp ne halbe Stunde für den Weg hier her brauchen. Aber außerhalb dem Schutz des Waldes wollte ich kein Horst bauen. Müde, fertig und hungrig kam ich dann endlich bei meinem Bussard an. Er hatte bereits auf mich gewartet und sperrte weit den Schnabel auf. Der Kleine war anscheinend genauso hungrig wie ich. Ich gab ihm seinen Teil meiner soeben erlegten Beute. Den Rest aß ich selbst. Während wir so aßen, kramte ich das Greifvogelbuch aus meiner Tasche raus und blätterte darin rum. Die einzelnen Rassen waren sehr gut beschrieben. Aber das half mir alles nichts. Mein Bussard war noch zu klein um irgendetwas Konkretes sagen zu können. Ich konnte nicht mal sagen, welcher Bussard es nun war. Schließlich sind fast alle Küken am Anfang weiß. Was nun? Sollte ich warten, bis er groß genug ist? Sollte ich ihm einfach auf gut Glück einen Namen geben? Es war bereits dunkel geworden. Das Küken hatte sich in meinem Shirt gekauert und schlief. Ich packte es vorsichtig zurück in den Horst. Nachdem ich mit dem Ast und einem getragenen Kleidungsstück das Nest zugedeckt hatte, machte ich mich auf den Nach-Hause-Weg. Am Baumhaus angekommen schlich ich mich hinein. Auf Zehenspitzen tapste ich an meiner Mutter vorbei und in mein Zimmer. Ich hatte keine Nerven für eine Diskussion, wie sie gestern der Fall war. Ein Glück, meine Geschwister schliefen bereits. Sie konnten mich also nicht auffliegen lassen. Ich verkroch mich ebenfalls in mein Schlafgemach. Es dauerte keine fünf Minuten und ich war im Tiefschlaf. Ein neuer Tag, neues Glück? Wie auch immer, ich war bereits mit meinem Bussard auf dem Weg zum zweiten Horst. Dort angekommen gab’s erst mal Frühstück für den Kleinen. Er schlang sein Essen, als würde es nichts mehr geben. Ganz schön verfressen, das Kleine. Der Unterricht war langweilig. Der Stoff zu simpel und doch gab es einige auf denen Gesichter die Fragezeichen nur so prangen. Nichts alldem ich konnte mir nicht erlauben, gedanklich abzuschweifen. Prof. Longwood beobachtete mich. Das würde ein langwieriger Tag werden. Noch dazu verbrachte ich den einzig freien Nachmittag mit ihm. Ätzend. Ich hätte so viel Zeit mit meinem Bussard verbringen können. Die ersten beiden Stunden gingen allmählich vorbei. Zur Pause meldete ich mich bei dem Professor ab: "Ich würde gern das Buch wieder zurück in die Bibliothek bringen. Wäre das OK?" Er beäugte das Buch beiläufig, meinte dann: "Nur zu, solang du wieder rechtzeitig da bist. Verlauf dich nicht!" Den letzten Teil sagte er mit Nachdruck. Er meinte es tatsächlich ernst. Ich musste aufpassen, sonst flieg ich doch noch von der Schule. Der Rest des Vormittag verlief weiterhin sehr ruhig. Zur Mittagspause meldete ich mich ebenfalls ab. Prof. Longwood war etwas erstaunt: "Wo willst du denn hin?" Ich zuckte mit den Schultern: "Nur so ein Bisschen die Gegend anschauen." "Das hast du wohl in den letzten 10 Jahren versäumt?" Longwood schaute noch ungläubiger, "warum jetzt auf einmal?" Ich schwieg. "Sei rechtzeitig wieder da", er gab überraschenderweise nach. So schnell wie möglich begab ich mich zum Horst. Das Bussardküken lahnte erbärmlich. Ich kramte hastig den restlichen Teil des Frühstücks heraus. Dieses verfütterte ich an den Kleinen. Mehr Zeit hatte ich nicht. Ich musste zurück. Pünktlich erreichte ich das Büro von Prof. Longwood. Ich klopfte. Der Professor bat mich herein. Er zeigte auf einen Stuhl, der neben einem Tischchen stand und ich setzte mich. "Ich hab dir da ein Buch hingelegt, welches dich interessieren könnte. Ich muss hier noch was erledigen.", er widmete sich daraufhin wieder seinen Unterlagen. Ich betrachtete das Buch. Es war unauffällig matt braun. Nicht besonders groß, etwa mausdick. Arabische Schriftzeichen schmückten den Einband und ein Falkenkopf war in Gold eingraviert. Schnell erkannte ich: Dies war kein Buch von Toninos. Der Autor Otto zu Hohenflug, klang nach einem Menschen. Der Titel des Buches lautete: „Von der Kunst, mit Vögeln zu jagen.“ Ok, ich muss wohl noch kurz einwerfen, dass Toninos und Menschen – obwohl wir so ziemlich dieselben Lebensgewohnheiten haben – generell nicht miteinander leben, sondern eher nebeneinander. So ist es sehr selten, dass sich ein menschlicher Gegenstand in Obhut eines Toninos befindet. Andersherum achten Toninos auch penibel genau darauf, dass keiner ihrer Gegenstände/Erfindungen oder ähnliches in Menschenhand gelangt. Ja, man kann sagen, wir sind da etwas eigen. Aber nun zurück zum Buch. Ich hielt also diesen Schatz in den Händen. Ungläubig. Eine Weile verharrte ich so. Bis ich es wagte das Buch aufzuschlagen. Ich war so im Bann dieses Werkes, dass ich nicht einmal bemerkte, wie Prof. Longwood mich anscheinend eindringlich beobachtete. Bemerkenswert – die Menschen fangen Greifvögel, um mit ihnen zu Jagen. Dabei bauen sie auf die Instinkte der Tiere auf. "Interessant, nicht?" Schreckhaft zuckte ich zusammen. Prof. Longwood war neben mich getreten und schaute mir über die Schulter. Ich schaute ihn an. Mit leuchtenden Augen brachte ich nur ein kleines "Ja" heraus. In mir loderte nur eine Frage: "Woher hat er dieses Buch?" Doch ich traute mich nicht ihn zu fragen. Er entfernte sich wieder von mir. Ein Augenblick der Stille trat ein. Nun atmete er tief ein und teilte mir mit: "Wenn du willst, dann leihe ich dir das Buch. Sei aber vorsichtig damit." Ich spürte, wie mein Herz anfing zu toben. Ich war so aufgeregt – fast wie am ersten Schultag. Ob mir das Buch im Umgang mit dem Küken helfen kann? Der Professor fragte mich nun, während er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte: "Woher kommt auf einmal dein Interesse für Greifvögel?" Mir verschlug die Sprache. Weiß er von dem Küken? Nein, das kann nicht sein. "Ähm", ich zögerte, nach einer Antwort ringend, "nun … wir haben dieselben Jagdmethoden." "Was blöderes ist dir nicht eingefallen", dachte ich mir. Dem Professor gefiel meine Antwort anscheinend ebenso wenig. "Ich weiß nicht genau. Es war auf einmal da.", warf ich noch hinterher. "Ich wollte schon lang mal wieder einen alten Freund besuchen. Er ist ein Meister, wenn es um Greifvögel geht. Hast du Lust mich zu begleiten?", schlug er mir plötzlich vor. Ich war … perplex. "Ja", die Freude und Aufregung ließ sich kaum unterdrücken. "Gut. In zwei Tagen. Da hast du keine Schule. Wir werden früh aufbrechen. Es ist ein langer Weg – selbst im Flug. Wir werden also mindestens einen Tag brauchen. Ich befürchte: länger.", erklärte Longwood. Als er sah, wie sich meine Miene verschlechterte, fragte er: "Was? Ist das ein Problem für dich?" "Nun ja …", ich überlegte einen Moment und antwortete dann: "Meine Mutter, wissen sie…" "Ich werde deine Mutter informieren. Keine Sorge sie wird zusagen.", unterbrach er mich. Es gab noch ein Problem: mein Küken! Bloß, wie erklär ich ihm das? "Da ist noch was.", fing ich an. Mir blieb wohl nichts anderes übrig. Ich holte tief Luft, bevor ich ihm die ganze Story mit dem Küken anvertraute, warum ich mich für Greifvögel interessierte und selbst warum ich die Schule geschwänzt hatte. Als ich damit fertig war, war ich erleichtert. Endlich war es raus! Einen Moment passierte gar nichts. Aus heiterem Himmel fing der Professor dann lauthals an zu Lachen. Ich legte den Kopf schief und schaute ihn fragend an. Was gab es da zu lachen? So witzig war die Geschichte doch gar nicht? Es vergingen Minuten. Dann verstummte das Lachen. "Es tut mir Leid! Es ist nur… Die ganze Zeit hab ich versucht etwas aus dir heraus zu bekommen und auf einmal … wegen eines Ausflugs wohl bemerkt! … bröckelt deine Fassade. Zu komisch. … Und als du vorher "ein bisschen die Gegend" anschauen wolltest, bist du zu deinem Küken gegangen. Hab ich recht?" "Ja." Er japste noch immer nach Luft. Doch nun wurde er wieder ernst: "Du kannst dein Küken selbstverständlich mit nehmen." 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