Midsummernight-Princess von RhapsodosGenesis (Eine Dunkelheit im Herzen) ================================================================================ Kapitel 37: Mit dir - Midna --------------------------- Link stach zu. Er fühlte, wie er gegen etwas Hartes stieß, etwas, was nachgab. Etwas, was zerbarst. Er fühlte, wie er in etwas hinein gezogen wurde, etwas, was nachgab. Etwas, was zerbarst. Er fühlte, wie er von Dunkelheit umgeben war, etwas, was nachgab. Etwas, was zerbarst. Er glaubte, fliegen zu können – nein, er fiel. Er fiel in ein tiefes Loch. Er glaubte, eingehen zu können. Doch wo hinein? Wo war er? Bilder. Ausschnitte. Erinnerungen? Seine Erinnerungen? Dunkelheit umgab diese Erinnerungen. Nein. Diese Erinnerungen waren Dunkelheit. Nein. Diese Erinnerungen waren in Dunkelheit. Nein … Das war keine Dunkelheit … Es war … Dämmerlicht … Und mit dieser Erkenntnis schoss er auf die erste Erinnerung zu. Doch er fühlte sich nicht. Er wusste nur. Er bestand nur. „Du bist so schwach!“, schalt das kleine Mädchen, welches genau genommen genau ihre Größe hatte, vor ihr sie, „Wirklich – unglaublich! Ich denke, ich muss dich wohl noch härter trainieren, um mich neben dir nicht schämen zu müssen!“ Sie grinste dann und tätschelte sanft ihren Kopf. Und ihre Stimme war plötzlich sanft und ohne Spott. „Kleiner Scherz. Du bist echt stark – wenn du nicht gegen mich spielst, zumindest! Aber das wird schon noch!“ Shan sah ihre Schwester an. Es hätte ihr eigenes Spiegelbild sein können, das sie da anschaute. Aber es war ihre Zwillingsschwester – Midna! Midna war so stark und so klug, obwohl sie genau gleich alt wie Shan war! Manchmal fühlte sie sich ein wenig dumm neben ihr. Doch niemand sagte etwas deswegen – nur Midna zog sie manchmal auf. Sie lachte munter darüber. „Dann werde ich dich überholen!“, stimmte sie ihr zu. „Midna?“ Shan schaute zu der Person, die näher auf die beiden Schwestern zukam. Es war ihr Magiemeister Leos. Er unterrichtete die jungen Bewohner des Dämmerlichts bereits in ihren magischen Fertigkeiten, sodass sie bereits kleine und große Wunder vollbringen konnten. Midna sah ihn ebenfalls an. Er blieb kurz vor ihnen stehen und schaute zwischen ihnen hin und her. „Midna?“, wiederholte er zögerlich. „Midna ist anwesend!“, sagten beide zeitgleich – und grinsten ihn frech an. Er seufzte. „Ihr beide seht einfach zu gleich aus!“, befand er übertrieben genervt – dann umspielte seine violetten Lippen allerdings ein belustigtes Lächeln, „Und ihr wisst es eiskalt auszunutzen.“ Die Mädchen kicherten. Midna ergriff dann das Wort: „Ihr wollt mit Midna sprechen? Warum?“ Der Mann stemmte die Arme in die Hüften. „Ich habe gehört, dass Midna bereits wieder einen neuen Rekord gebrochen hat, was magische Leistung im Unterricht angeht – und dass sie soeben von Zanto überholt worden ist.“ Shan und Midna sahen sich schockiert an. „Schon wieder?“, wiederholte Shan, „Wieso sind Zanto und Midna so stark?“ Sie verschränkte beleidigt die Arme. „Ich will auch so stark sein!“ Leos lächelte aufmunternd. „Keine Sorge, Shan, irgendwann wirst du bestimmt ebenfalls stark sein.“ Danach wandte er sich wieder Midna zu. „Würdest du jetzt bitte kommen? Wir möchten gerne probieren, ob du und Zanto zusammen etwas Außergewöhnliches zustande bringen könnt.“ „Darf Shan mitkommen?“, fragte Midna dann. „Natürlich darf sie das“, antwortete er, während er sich umdrehte und davon ging. Kichernd liefen die beiden Mädchen mit demselben feurig orangen Haar hinter ihm her und liefen durcheinander, sodass er – falls er vorhatte, ein Gespräch zu beginnen – erst das Ratespiel durchnehmen musste. Shan fand es aber trotzdem irrsinnig toll, dass Midna so berühmt war. Und sie war stolz auf ihre Schwester! Obwohl sie auch gerne so begabt gewesen wäre … Aber die Zeit würde kommen, oder? Shan … Midna … In ihrer Kindheit … Zanto … Wo befand er sich hier …? Doch ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, zog die nächste Erinnerung an ihm. Midna stand mit einem Bein auf dem Tisch und beugte sich dramatisch über ihr erhöhtes Knie, wobei ihr etwa rückenlanges, offenes Haar frei nach unten fiel und jedes ihrer wilden Worte zu unterstützen schien. Die Aufmerksamkeit aller galt ihr. Ihr Blick schweifte durch die Schülermenge, welche sich um den ganzen Tisch versammelt hatte, und ehrfürchtig zu Midna aufsah. Jeder hing an ihren Lippen – egal, was sie sagten. Shan saß alleine auf einem Platz weit weg von Midnas Freundeskreis. Sie und Zanto waren die einzigen Schüler der Klasse, die sich nicht an Midna heranmachten, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bot. Doch ihre Beweggründe unterschieden sich. Shan wollte ihrer Schwester nicht im Weg stehen. Zanto wollte seiner Konkurrentin keinen Respekt zollen. Ihr Blick wanderte zu dem Jungen in seiner Robe, der eifrig in ein Buch starrte. Er lernte schon wieder. Eigentlich hätte er das gar nicht nötig gehabt – doch Shan schien es, als wolle er die ganze Zeit über überall besser sein und alles wissen. Er war ein mächtiger und begabter Magier. Er war ein schlauer Schüler. Und doch war er nur gleich gut wie Midna. Shan glaubte, dass ihn das enorm stören musste. Doch … was sollte er dagegen tun? Das Schicksal platzierte die Menschen, wie es sie platzieren wollte. Höher. Tiefer. Gleich tief. In ihrer Brust schnürte sich etwas zusammen. „Oder an letzter Stelle …“, murmelte sie - nur für sich selbst hörbar. Sie erhob sich und ging ungesehen an der Schülermenge, die Midna umgab, vorbei – hinaus aus der Klasse. „Und – oh wie hab ich ihn geschlagen!“, ertönte Midnas spannende und sehr dramatisch geschilderte Erzählung, „Den Magiemeister!“ Jubel und Glückwünsche ertönten. Midna brach die Rekorde in allen Wellenlängen und Bereichen. Wo auch immer es einen Rekord gab, den man brechen konnte, brach Midna diesen Rekord. Und nachdem Zanto das mitbekommen hatte, übertrumpfte er ihn um ein kleines Stückchen. Und wenn Midna es erneut versuchte, so vernichtete sie Zantos Rekord wieder um ein Bisschen. Und das trieben die beiden wiederum solange, bis sie am exakt gleichen Punkt angekommen waren. An einem Punkt, den vor ihnen nie jemand erreicht hatte. Ganz oben. Sie schritt den Gang entlang. Was sollte sie in der Pause auch sonst tun? Immerhin sprach sowieso niemand mit ihr. Außer er verwechselte sie einmal wieder mit Midna. Aber sie war nicht Midna. Sie würde nie Midna sein. „Midna? Was tust du denn hier? Ich dachte, du hättest gerade einen Rekord gebro …“, das Mädchen, das vor ihr stand, brach ab. Wahrscheinlich hatte Shans erzürnter Blick sie zum Verstummen gebracht. „Tut mir leid!“, rief sie panisch aus und rannte schnell davon. Als sie außer Sicht- und Hörweite war, seufzte Shan entnervt. Sie hatte längeres Haar als Midna. Sie hatte sich extra das Haar wachsen lassen. Wieso bemerkte es niemand? Sie blieb stehen. Warum sah sie niemand? Warum sah jeder nur Midna? Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Weil Midna so umwerfend ist“, beantwortete sie sich wütend zischend ihre Frage. Und der Gong kündigte das Ende der Pause an. Link wurde aus dieser Welt herausgerissen, verließ Shans Erinnerung, trieb in die Dunkelheit, die Dämmerlicht war, und wurde in das nächste Ereignis gezerrt. „Ach komm schon! So schlimm kann es doch gar nicht sein, für mich gehalten zu werden!“ Midna, noch immer in ihrer Schulmeisterrobe, grinste sie an, als hätte sie gerade einen unglaublich tollen Scherz gemacht. „Wundervoll“, antwortete Shan mit so viel Negativität in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. „Hey, ich lass mir heute auch noch die Haare schneiden! Weißt du – diese Frisur steht mir einfach!“ Midna kicherte. „Ich bin so froh, dich als Vortester zu haben! So weiß ich immer, was zu mir passt und was nicht!“ Midna lächelte. Shan sah sie schockiert an. Nein … bitte nicht … Diesen massiven Unterschied bemerkten immerhin die meisten … Die Verwechslungsrate war seit ihrem Haarschnitt ein wenig gesunken …! Aber sie brachte die Worte nicht heraus. Wenn Midna sagte, ihr würde dieser Haarschnitt so gut gefallen, dass sie ihn selbst annehmen wollte, war es ein Kompliment. Ein Riesenkompliment. Und Shan würde dann ab Morgen Komplimente erhalten – solche, die an Midna adressiert waren. „Ah, danke, dass du so viel in mir siehst“, entgegnete Shan scherzhaft. War es überhaupt ein Scherz? Sie wusste es selbst nicht genau. Es entsprach der Wahrheit. Was sah Midna in ihr? Sah sie einen wandelnden Spiegel? Oder sah sie Shan? Sie sprach mit ihr, als sei sie mehr, als ein Schatten, mehr, als nur ein Spiegelbild … Doch Shan kam nicht dazu, sie zu fragen. Sie konnte es nicht. Sie hatte Angst. Angst vor der Antwort. „Du sagst mir dann, wie du die Frisur findest!“, befahl Midna amüsiert, „Dann siehst du auch einmal, wie du damit aussiehst.“ Sie lachte. Shan lachte mit. Ja, sie würde es sehen … Und ja, sie würde hören, wie andere es sahen … Doch niemand würde sie sehen. Die Empfindung „Schmerz“ packte Link. Und Verdruss. Und Neid. Eifersucht. Doch die nächste Erinnerung ließ all diese Gefühle verschwinden, um ihn mit neuen Eindrücken zu erfüllen. Shan saß in ihrer Magierrobe auf einer Holzbank neben einem Holztisch. Beides fiel im Dämmerlicht kaum auf. Sie hielt ein Buch in der Hand und las halbherzig darin. Es entsprach einfach nicht ihrem Geschmack. Doch was die Geschichtsmeisterin ihnen sagte, das musste getan werden. Ob es einem gefiel oder nicht. Ob es etwas zu lesen war oder nicht. „Hey, Midna!“, rief jemand von weit her, „Hey! Hörst du uns? Bald ist die Exkursion! Du sagst uns dann doch, wie es gewesen ist, oder?“ Die beiden Schüler, die auf sie zu rannten, blieben vor ihr stehen. Sie konnte die Aufregung förmlich sehen, obwohl sie sich nicht die Mühe machte, aufzusehen. Sie kannte die Stimmen der beiden, die Namen allerdings nicht. Weshalb sollte sie sich auch die Mühe machen, etwas über sie herauszufinden? Sie bemühten sich auch nicht, ihren Namen zu lernen. „Was ist los?“, fragte einer der beiden, „Redest du nicht mit uns?“ „Haut ab, ihr blinden Vollidioten“, zischte sie die beiden an – und widmete ihnen einen bösen Blick über den Rand ihres Buches. „Oh“; war der einzige Kommentar, ehe die beiden das Weite suchten. Sollten sie sie doch alleine lassen … Sie taten doch nichts lieber. Nein. Eine Sache würden sie gerne mit ihr tun. Sie mit Midna tauschen. Sie zu Midna machen. Dann gäbe es zwei Midnas. Dann gäbe es zwei perfekte Magierschulmeisterinnen. Wütend klappte sie ihr Buch zu. Wieso …? Wieso hatte sie nur diese Entscheidung getroffen, sie zu sein? Wieso war sie, wie sie war? Sie zog die Beine an sich und legte ihren Kopf auf die Knie. Warum konnte sie nicht wirklich Midna sein? Wieso musste sie diese nichts könnende Shan sein? Untalentiert. Unerträglich. Ungesehen. Trauer und Komplexe umgaben Link. Er wünschte sich, fliehen zu können. Er wünschte sich, jemanden finden zu können, der ihn verstand. Doch die nächste Erinnerung ersparte es ihm, weiterhin diesen Schmerz der Einsamkeit zu empfinden. Shan stand vor dem Spiegel, der sie scheinbar mit der anderen Welt dort oben – es hieß, dort würde die Sonne scheinen – verband. Ihr war es nicht erlaubt, in die andere Welt zu treten. Lediglich zehn Leuten war es vergönnt, in die Sonne zu treten. Es waren diejenigen Leute, die über dem Durchschnitt lagen – beziehungsweise über dem besseren Durchschnitt. Selbstverständlich waren Zanto und Midna ebenfalls dabei. Sie würden von der Sonne beschienen werden. Die zehn Schüler waren bereits vor einer Weile losgegangen. Keiner erwartete ihre Rückkehr alsbald – immerhin war der Magiemeister bei ihnen. Sie waren die einzigen Schüler innerhalb von fünf Jahrgängen, welchen es erlaubt war, das Dämmerlicht je zu verlassen. Es war nicht, weil die Ältesten ihnen nicht vertraut hätten – nein. Es geschah aus Sicherheitsgründen. Die Sonne war tödlich für sie. Man brauchte bereits Energie, um zwischen den Welten zu wechseln. Aber man verbrauchte Unmengen an Energie, um dem Licht entgegenzutreten. Für Midna und Zanto würde es kein Problem darstellen, sich abzuschirmen. Der Rest würde es auch überleben. Aber die anderen – der Durchschnitt, Leute wie Shan – würden es nicht ertragen können. Sie waren schwach. Die anderen der Schwächlinge waren derweil abgezogen. Sobald sich herumsprechen würde, dass Midna zurückgekehrt war, würden die Leuten Schlange stehen, um zu sehen, wie es ihr ging. Shan wartete hier auf Midna. Sie hatte es versprochen. Midna hatte ihr – nur ihr allein – anvertraut, dass sie große Angst vor der Sonne hatte. Shan verstand, was sie meinte. Sie waren im Unterricht durchgegangen, was bei starker Lichteinwirkung mit ihnen geschah. Sie würden verblassen – und letztlich daran sterben. Sie waren Verfluchte des Lichts. Ihnen war es nicht erlaubt, je in das Licht zu treten. Doch Shan wollte es so gerne. Sie stellte sich die Wärme der Sonne so einladend und bezaubernd vor – anders, als die Welt der immerwährenden Dunkelheit, die nicht einmal vollständig verdunkelt war. Eine Zwischenwelt. Eine unvollständige Welt. Der Spiegel veränderte sich, als Shan ihn betrachtete – er leuchtete auf. Ein Schüler kam hervor. Er sah blass und fertig aus. Dann sah er Shan. „Midna? Du bist schon zurück?“, fragte er schwach, dann lächelte er genauso schwach, „Huh, dann bin ich gar nicht so schlecht im Rennen …“, fügte er hinzu. Sie zuckte mit den Schultern. „Midna ist noch nicht zurück.“ „Oh, tut mir leid“, entschuldigte er sich sofort, wobei er ein wenig errötete – und er eilte davon. So fertig … Er ging nicht in ihre Klasse, doch sie kannte ihn. Er war eigentlich relativ stark und immer gut drauf … Es war wirklich verwunderlich, dass er so verletzlich wirken konnte. Ob Midna ebenso verletzt wurde? Sorge regte sich in ihr … Aber … das Antlitz der Sonne … War dieser Anblick es nicht wert, sich so zu schwächen? Immerhin gab es Menschen, die ständig dieser Schwäche unterlagen und die Sonne niemals zu Gesicht bekommen würden. Menschen wie sie. Das Bild der Sonne erschien, als Link die Erinnerung verließ. Doch das Bild zerbarst, als die nächste Erinnerung an ihm sog. Midna saß am Rande des Dämmerlichts. Sie lehnte sich zurück, sodass sie danach mehr lag als saß. Shan setzte sich steif neben sie und schaute auf sie herab. Midna war die Anstrengung, der sie ausgesetzt war, anzusehen. Doch ihre violetten Lippen umspielte weiterhin ihr schelmisches Lächeln. Ihre Augen blitzten hellwach und munter. Nur ihrer Hautfarbe erging es ein wenig schlechter als üblich. Aber bis die anderen Schüler eintrudelten, würde sich das lösen. Shan hatte Midna gleich mit hierher genommen, nachdem sie gekommen war. Zanto war länger geblieben als Midna, also würden die meisten noch glauben, dass Midna nicht bereits hier war. „Leos hat gesagt, dass ich mich sehr gut gehalten habe! Ich bin immerhin den ganzen Tag – von Vormittag bis Abend – dort geblieben! Und so schlimm sehe ich gar nicht aus, hat er gemeint“, erzählte sie ihr locker, „Zu Zanto hat er das gleiche gesagt. Auch wenn er länger da war. Ich hätte es aber auch noch geschafft. Bestimmt.“ Dabei verzog sie das Gesicht ein wenig. „Es ist wirklich schlimm, wenn man sich von jemandem nicht abhebt.“ Shan wandte den Blick von Midna ab. Ja, Midna, das war ihr klar. Immerhin kannte sie diese Situation zu gut. Doch Midna hob sich von Shan ab. Sie hob sich selbst in weite Höhen. Shan konnte das nicht. Sie war eine kleine, schwache Version von Midna. „Aber es war wirklich erstaunlich dort oben! Grünes Gras – das sieht ganz anders aus, als auf den Bildern! Von der Sonne ganz zu schweigen!“ Midnas Freude brachte Shan zum Lächeln. Also war die Sonne doch schön. „Aber mir ist diese Dunkelheit wirklich lieber …“, fügte Midna dann leise hinzu und sie setzte sich direkt neben Shan. „Ich hätte es dir wirklich vergönnt, wenn du die andere Welt auch gesehen hättest.“ Überrascht schaute Shan ihre Schwester an. „Tatsächlich?“ „Ja! Dann würdest du einmal wissen, was Anstrengung ist!“ Sie grinste. „Ja, würde ich wohl“, pflichtete Shan ihr bei und unterdrückte ein Seufzen. Und sie dachte schon, dass Midna verstehen würde … „Kleiner Scherz, Dummerchen“, fügte Midna ernst hinzu, „Es war ehrlich sehenswert. Ich glaube, dir hätte es sogar besser als anderen gefallen. Ich weiß ja, dass du die Schatten nicht ausstehen kannst … Oben war alles – von Licht durchflutet!“ Midna strahlte, als sie diese Worte aussprach. Dann zog sie eine Grimasse. „Aber es würde dir einfach zu sehr schaden, als dass wir einen verbotenen Versuch unternehmen könnten …“ Shan schaute ihre Schwester erstaunt an. „Du hast ehrlich mit dem Gedanken gespielt, mich hoch zu schmuggeln?“, rief sie verblüfft aus. Midna nickte stolz. „Natürlich! Die zukünftige Königin wird immerhin keinen Ärger bekommen – aber mein Pflichtbewusstsein und die Sorge um meine liebe Schwester halten mich davon ab!“, ergänzte sie ihre Worte. Ein Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. Shan lächelte zurück. Ihr wurde warm ums Herz. Midna hatte sich ernsthafte Gedanken um sie gemacht. In letzter Zeit – seit sich Midnas Magiekünste so sehr von allen abhoben – kam ihr Midna verändert vor. Früher, vor so langer Zeit, kam es ihr so vor, als wären sie dieselben Personen gewesen. Nicht nur äußerlich, auch innerlich. Dieselben Gedanken. Dieselben Worte. Doch dann hatte Midna Freunde gefunden. Sie hatte Shan außen vor gelassen. Shan verstand nicht, warum sie das getan hatte. Aber diese Freunde hatten es nur auf Midnas Ruhm abgesehen. Auf Gefallen, die die spätere Königin ihnen schulden könnte. Einige zumindest. Das hatte Midna ihr auch gesagt. Doch sie hatte auch zugegeben, dass es Spaß machte, mit diesen Leuten abzuhängen. Aber sie hatte Shan nie angeboten, mit ihr zu kommen. „Danke für deine Sorge“, sagte Shan lächelnd – und aufrichtig. „Irgendwann wird es für dich sicher eine Möglichkeit geben!“, fuhr Midna selbstbewusst fort, „Immerhin wächst die Kraft mit dem Alter.“ „Wieso bist du dir dann so sicher, dass du die Königin wirst und nicht Zanto?“, wechselte Shan das Thema. Midna zog die schön geschwungenen Augenbrauen zusammen – und wirkte mürrisch. „Weil Zanto Zanto ist. Er kann doch nicht wirklich etwas. Er ist ein Außenseiter, der einfach nur der Beste sein möchte. Ihm sind doch alle anderen völlig egal. Er möchte nur König werden, um zu demonstrieren, dass er mich schlagen kann. Aus Eigennutz – für nichts anderes!“ Shan zuckte mit den Schultern. „Es gilt aber das Gesetz des Stärkeren.“ „Dann muss ich mich wohl anstrengen, stärker zu bleiben!“, antwortete Midna optimistisch. Seit er hier war, fühlte er zum ersten Mal wahre Freude. Glück. Es umfloss ihn. Und mit ihm Midnas Abbild. Shan war alleine in ihrem Zimmer. Midna würde bald zur Königin gekrönt werden. Dann würde sie völlig einsam hier leben … Niemand würde hier bei ihr bleiben … Midna hatte ihr gesagt, dass es nicht in ihrer Macht liegen würde, ob sie sich eine solch schwache Beraterin zulegen durfte oder nicht … Midna wollte sie doch auch nicht alleine lassen … Aber es musste sein … Immerhin würde sie Königin werden. Sie erhielt sogar die Ausbildung dazu. Shan seufzte, als sie sich vom Bett erhob. Dabei bemerkte sie, dass ein Zettel unter ihrer Matratze hervorlugte. Was das wohl sein würde? Sie zog ihn hervor. Es war ein Stück Papier … „Wir verstanden uns gut. Vorzüglich sogar. Manches erzählten wir uns, anderes verschwiegen wir. Ist es denn nicht überall so? Hat nicht jeder seine Geheimnisse? Doch ich hasste niemanden mehr als sie. Ihr alleine galt der Grundstein für meinen unsäglichen Hass. Es war kein Hass, für dessen Stillung ich morden würde. Ich mordete prinzipiell nicht. Es war nur ein Hass, der in meiner Seele verankert war und nicht entkommen konnte. Früher haben wir uns oft einen Spaß daraus gemacht. Doch jetzt war es kein Witz mehr. Mit dem Alter ändert man sich. Und damit auch der Humor. Ist das denn nicht witzig?“, las sie leise murmelnd vor, ehe sie verstand, was sie da in ihren Händen hielt. Sie drehte das Papier um. Auch auf der Hinterseite war noch etwas geschrieben. Sie hob ihre Matratze hoch und entdeckte auch den ganzen Rest ihres Zettelhaufens. Es waren alte Aufzeichnungen von ihr. Sie hatte sie gemacht, weil sie ihre Gefühle festhalten wollte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie je las – darum hatte sie sie in die Matratze gelegt … Jetzt wurde die Matte wohl langsam alt und gab Dinge preis, die niemand hätte sehen sollen … Sie hoffte, dass niemand unter ihrer Matratze war, aber … Was sollte da auch jemand tun? Sie war immerhin kaum eine Shan. Noch immer … Nichts hatte sich geändert … Auch wenn Jahre seit ihrem letzten Eintrag vergangen waren … Es war dasselbe wie damals … Hass und Liebe … Unentschlossenheit … Midna … Vielleicht würde sie ihre Gefühle irgendwann wieder auf diesen belanglosen Papieren festhalten, sie zerknüllen und unter ihr Bett werfen – in der Hoffnung, dass ihre Probleme über Nacht verschwinden würden … Aber … wenn Probleme so leicht gelöst werden würden, hätte sie sie schon längst gelöst … Sie seufzte schwer. Wieso …? Er fühlte Verdruss und Scham. Scham darüber, dass sie an Wunder glaubte … Doch er sah Bilder auf sich zukommen. Bilder einer älteren Shan … Einer Shan, die immer wieder neue solche Papiere herstellte … „Heute ist der große Tag, meine Freunde, mein Volk!“, verkündete der ehemalige König des Schattens mit hoch erhobenen Armen, „Der Tag der Entscheidung ist angerückt!“ Er machte eine kurze Pause, sodass die versammelten Leute ihren Applaus abgeben konnten. Das komplette Volk der Schatten war angetreten. Der Thronsaal war völlig überfüllt. Auch die Säle dahinter schäumten vor Leuten über. Doch jeder wollte diesen Tag erleben. Den Tag, an dem ihr neuer Herrscher gekürt wurde. Midna. Oder Zanto? Auch nach der Schulzeit waren die beiden immer noch stark. Gleich stark. Midna machte sich durch ihren offenen und lustigen Charakter immer mehr Freunde, sammelte Beliebtheit. Zanto hingegen überzeugte durch Wissensdurst und Intelligenz. Midna war natürlich ebenfalls so klug, doch sie konnte nicht jede Frage hundertprozentig beantworten – während Zanto fleißig lernte und studierte. Immer weiter. Auch nach der Schule. Bis er jede Frage beantworten konnte. Aber er achtete nicht auf das Volk. Midna hingegen schloss Freundschaft mit allen. Mit jeder Altersgruppe. Denn sie sollte Königin werden. Shan stand in keinem der Säle, sondern stand in einer Kammer neben dem Thronsaal. In Midnas Kammer. Die beiden Schwestern waren alleine dort. Zanto war vermutlich völlig einsam in einer anderen Kammer. Die Worte des Königs waren deutlich zu hören. Der alte Mann war krank. Er sorgte sich um einen Nachfolger. Darum war die Krönung vorverlegt worden. Die Entscheidung würde vermutlich aber schon längst feststehen. „Es ist ein unfairer Kampf“, platzte Shan heraus, als sie gegen die Steinwand gelehnt zu Midna sah. Midna sah wunderschön aus. Sie hatte die zeremonielle Festtagskleidung angelegt – einen schwarzen Kapuzenmantel, der viel von ihrem Körper zeigte, und auf dem die Zeichen des Gelübdes eingenäht waren, welche auch auf ihren Handschuhen leuchteten. Und auf ihrem Kopf hatte sie genug Platz für das Kronengestell des Herrschers. Sie wirkte ein wenig angespannt, sah aber überrascht zu Shan, als diese das sagte. „Zweifelst du jetzt etwa an mir?“, fragte Midna und verschränkte die Arme. Doch ihre Größe verlor sie nicht. Ihre Haltung blieb. Man sah, dass sie darin ausgebildet wurde, sich wie eine Königin zu benehmen. Trotz Shans Ähnlichkeit zu ihr – die nicht verwirkt war, in all den Jahren nicht -, konnte sie mit der Autorität ihrer Schwester nicht mithalten. Mit der Größe allerdings schon. Auf den Zentimeter genau. „Nein … Aber an der Methode“, fuhr Shan fort, „Zanto glaubt noch immer, er hätte eine Chance …“ „Zanto ist ein Einfaltspinsel – egal, wie weit sein Wissen reicht“, richtete Midna über ihn. Ihre Stimme klang kalt. „Ja, schon …“, gab Shan – jetzt nicht mehr so mutig wie zuvor – zu, „Aber … er … er ist gefährlich, Midna!“ Jetzt grinste sie wieder und dieses schelmische Funkeln kehrte in ihren Blick zurück. „Gefährlicher als ich? Soll ich dir meine Magie demonstrieren?“ Shan schüttelte schnell den Kopf. „Nein, danke, nicht nötig! Aber … du solltest es Ernst nehmen … Er glaubt wirklich, dass er reale Chancen auf den Thron hat … Ich habe gestern mit ihm gesprochen … Er klang so überzeugt …“ Midna zuckte mit den Schultern. „Er hat es nicht verstanden. Und solchen Hohlköpfen muss man ihren Platz eben zeigen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und sein Platz ist nicht am Thron.“ „Die beiden Anwerber, die ihr bestimmt kennt, sind gleich auf!“, rief der König draußen aus, „Zumindest, was ihre Stärke betrifft! Ein sehr seltenes Ereignis – und eine sehr schwere Entscheidung … Beide sind meine Kinder, bei denen mir scheint, ich hätte sie selbst großgezogen! Dies macht mein Vaterherz umso schwerer. Und deshalb muss ich differenzieren – ich muss des Volkes Glück wählen! Denn all mein Volk ist mein Kind! Deshalb fällt meine Entscheidung …“ Eine Spannungspause. „… auf Midna.“ Ihre Schwester grinste siegessicher, ehe sie aus dem Raum trat und ihre Danksagung begann. Shan machte sich Sorgen. Midna nahm das zu locker … Sie vergaß, dass Zanto gleich stark war wie sie. Genauso gefährlich. Bloß, weil er keine Krone hatte … Sie warpte sich selbst in die Kabine von Zanto. Er war nicht da. Wo war er bloß? Link glaubte, den Rest der Geschichte zu kennen, ihm kam die Situation bekannt vor, aber … Etwas war anders … Es war Shan … Wie passte Shan in diese Geschichte …? Die Erinnerung riss an ihm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)