Tod und Geburt von chaoticgirl ================================================================================ Kapitel 1: Tod und Geburt ------------------------- „Guten Abend, darf ich mich zu Ihnen setzen?“ „Oh, guten Abend. Natürlich, gerne. Lieber Sie, als die zwei Typen, die schon die ganze Zeit zu mir rüber starren.“ „Was hat Sie allein in diese Bar verschlagen, wenn ich fragen darf?“ „Hm... ich denke, es war Langeweile. Heute Abend ist mein Freund mit Freunden los gezogen und im Fernsehen lief auch nichts, da dachte ich, ich schaue mal, ob diese neue Bar hier etwas taugt. Und bei Ihnen?“ „Tja, ich sollte eigentlich nicht allein hier sitzen. Aber es sieht so aus, als ob mich mein Blind Date versetzt hätte.“ „Oh, mein Beileid. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht, jetzt haben wir beide jemand Neues kennen getroffen. Wer weiß, vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?“ „Ja, das ist gut möglich. Mein Name ist übrigens Maria.“ „Klara. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Ebenfalls. So, du hast es also nicht nötig, dich mit Fremden in Bars zu treffen, du bist vergeben?“ „Ja. Seit etwa zwei Jahren.“ „Dann ist es also etwas Ernstes?“ „Ja. Ich denke schon. Wir lieben uns sehr. Und du bist die Pechmarie und noch auf der Suche?“ „Ja. So kann man es sagen. Mein Freund ist vor drei Monaten zu neuen Ufern aufgebrochen.“ „Zu neuen Ufern?“ „Ja. Ist gestorben.“ „Oh, das tut mir sehr Leid... war er... war er krank?“ „Nein. Doch. Nicht... nicht im herkömmlichen Sinn ,krank'. Er – er war depressiv. Er hat sich vor meinen Augen vor einen Zug geworfen.“ „Mein Gott, das ist schrecklich! Wie geht es dir jetzt?“ „Ich... versuche, weiterzuleben. Ohne ihn...“ „Es war nicht deine Schuld.“ „... vielleicht...“ „Nein! Ernsthaft! Es war nicht deine Schuld!“ „Meinst du wirklich?“ „Auf jeden Fall! Es war seine Entscheidung. Und was auch immer ihn dazu getrieben hat, es war zu viel, um damit leben zu können. Es hat ihn gequält. Du solltest für ihn beten und erleichtert sein, dass er nun nicht mehr leiden muss.“ „Was – was redest du da?! Mich freuen?!“ „Einen wunderschönen guten Abend, Ladies. Dürfen wir euch auf einen Drink einladen?“ „Verpisst euch! Wir unterhalten uns hier!“ „W-was?“ „Komm schon, Mark, wenn die Hühner lieber gackern, als sich mit uns zu vergnügen, ist da ihr Problem!“ „Vollidioten! Was ich sage will, Maria, ist, dass wir aufhören müssen, den Tod als etwas Schreckliches und Kaltes zu betrachten. Manche Menschen sehen in ihm Erlösung.“ „Erlösung? Wie kann er etwas Erlösendes sein?“ „Der Tod ist nur für die Hinterbliebenen schrecklich, weil sich ihr Leben zum Teil drastisch ändert. Aber wenn der Tod nicht ungewollt, nicht durch Fremdeinwirkung kommt, dann sollten die Zurückgebliebenen versuchen, nicht zu verzweifeln, sondern... ich weiß, das klingt hart, aber sie sollten erleichtert sein. Dass der Tod nicht eine Strafe, sondern eine Erlösung war...“ „Wie kannst du so etwas... so etwas sagen?“ „Weil ich es selbst erlebt habe. Eine... eine gute Freundin von mir... hat die Hölle auf Erden durchlebt. Sie war unglücklich und voller... voller negativer Gefühle, sodass sie die Sonne nicht mehr sehen konnte, die Wärme nicht mehr spürte. Es war auch die Hölle für mich, sie war wie eine Schwester für mich.“ „... du sagst ,war'.“ „Ja, ,war'. Auch sie hat letztendlich ihr Leben aufgegeben. Und es aus freiem Willen beendet. Ich war... erleichtert. Es war eine Erlösung.“ „Du benutzt sehr oft dieses Wort... ,Erlösung'.“ „Weil es das ist, was diese Menschen erhoffen und was sie hoffentlich nach ihrem Tod finden: Erlösung. Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber wenn das Leben zur Qual, zur Folter wird, ist es dann fair von uns, zu wünschen, dass diese Personen weiterleben? Nur, damit wir keine Lücken füllen, nicht trauern müssen?“ „Ich... ich weiß nicht...“ „Aber ich. Es ist furchtbar, wenn ein Mensch vor seiner Zeit aus dem Leben gerissen wird, aber wenn dieser nichts als Kälte und Leid, körperliche oder seelische Qualen leiden muss, sollte man ihn dann für seinen Wunsch zu sterben verurteilen? Die Art und Weise, auf die sich dein Freund umgebracht hat, vor deinen Augen und auf die Gefahr hin, andere Menschen zu verletzen... die gefällt mir natürlich nicht.“ „So... habe ich das Ganze noch nie betrachtet. Ich habe ihn all die Zeit gehasst, weil er mir das angetan hat, weil ich seinetwegen nicht nur alleine war, sondern auch noch Alpträume hatte. Und erst die mitleidigen Blicke, von Freunden und Bekannten, die dann hinter meinem Rücken getuschelt haben... aber, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss, das beginne ich erst jetzt zu verstehen... aber, was ist, wenn er hätte geheilt werden können? Ich hab ihm schon hundertmal gesagt, er soll doch endlich zu einem Therapeuten gehen, er soll sich behandeln lassen! Vielleicht würde er dann heute noch leben?!“ „Das meinte ich damit, als ich sagte, wir sollten versuchen, sie nicht zu verurteilen. Vielleicht hätte er geheilt werden können. Vielleicht aber auch nicht. Es macht jetzt keinen Unterschied mehr. Versuch nicht, ihn zu verstehen, so etwas kann man nicht verstehen, wenn man es selbst nicht erlebt hat. Versuch, seine Entscheidung zu akzeptieren und Frieden mit ihm zu schließen. Dann kannst auch du wieder in Frieden leben.“ „... Danke, Klara. Ich habe jetzt eine neue Sicht erhalten. Du hast Dinge angesprochen, über die ich mir bisher nie Gedanken gemacht habe. Wie lange hast du gebraucht, um dir über all das klar zu werden?“ „Ich habe es auch erst nach und nach begriffen, dadurch dass meine Freundin und ich uns sehr... nahe standen. Näher, als sich zwei Menschen normalerweise stehen. Ich habe praktisch mit ihr gelitten, die gleichen Schmerzen verspürt und bin daran verzweifelt, dass ich ihr nicht helfen konnte. Es war auch für mich eine – jetzt muss ich es schon wieder sagen – eine Erlösung, als sie ging. Mein Leben ist dadurch befreiter geworden, jetzt, da ich weiß, dass ihre Tortur ein Ende hat. Ich wurde praktisch durch ihren Tod neu geboren.“ „Erstaunlich... aber ich denke, ich verstehe, was du meinst. Jetzt fühle ich mich auch etwas... leichter. Ich glaube, ich werde da erst mal gründlich darüber nachdenken müssen. Auf jeden Fall möchte ich dir sehr danken! Es – es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen, Klara. Wirklich.“ „Auch Danke, dass du mir zugehört hast und nicht gleich alles entsetzt abgeblockt hast.“ „Ehm... wie... wie hat sich deine Freundin eigentlich umgebracht? Wenn ich fragen darf?“ „Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.“ „Oh, ich verstehe... Ich denke, ich werde jetzt heim gehen. Schönen Abend noch, auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Maria.“ Die junge Frau stand auf, zahlte dem Barkeeper ihren und Marias Drink, den diese völlig vergessen hatte, nahm ihren Mantel und ging vor die Tür. Sie atmete tief die kühle Luft ein machte sich dann fröstelnd auf den Weg nach Hause. Auf den menschenleeren Straßen war niemand mehr unterwegs und die meisten Fenster waren bereits dunkel. Vor ihrem Haus blieb sie unter dem gelblichen Licht einer Laterne stehen und blickte versonnen hinauf auf das hell erleuchtete Fenster, von dem sie wusste, dass es zu ihrem Schlafzimmer gehörte und dass sie, wenn sie es betreten würde, ihren Freund vorfinden würde, der auf dem Bett lesend auf sie wartete, wie er es immer tat, wenn sie noch unterwegs war. Sie schob sich gedankenverloren die Ärmel ein Stückchen höher und strich sich über die dicken Narben an ihren Handgelenken. Dann dachte sie an die Zeit vor ihrem Tod und lächelte bei dem Gedanken daran, wie sehr es sich von ihrem jetzigem Leben, dem nach ihrer Wiedergeburt, unterschied. Und sie dankte Gott erneut für den Mut, den er ihr damals gegeben und den sie gebraucht hatte, um ihr Leben zu beenden, um dann von neuem anfangen zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)