Schwarz: Initiation von JinShin (mit wildest_angel) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Beurteilungen, Testergebnisse, Trainingsberichte… Er nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen. Seit Stunden brütete er nun schon über den Akten, las und verglich, und kam doch nur wieder zu dem Entschluss, der, wenn er ehrlich war, von Anfang an festgestanden hatte. Von dem Moment an, als die SZ-Ältesten ihn zu sich beordert hatten, um ihm mitzuteilen, dass er von nun an ein eigenes Team leiten sollte. Bisher war er ein Springer gewesen, hatte je nach Bedarf bei den bestehenden Gruppen mitgearbeitet, was ihm auch sehr gelegen kam. Er war ein Einzelgänger, schon immer gewesen, und so hatte er noch nebenbei einen Überblick über die einzelnen Rosenkreuzgruppen erhalten. Sein Name tauchte in unzähligen Missionsberichten auf, was ein weiterer Vorteil war. Und die Rechnung war aufgegangen: Er war den Ältesten positiv aufgefallen. Von nun an würde er von ihnen direkt seine Anweisungen erhalten, er würde keinem Team mehr zugewiesen werden; in Zukunft würde er die Aufträge auf eigene Faust erledigen. Sein eigener Herr sein… zumindest im Rahmen der Möglichkeiten. Darauf hatte er die ganze Zeit hingearbeitet. Allerdings konnte er als Einzelner nicht viel bewirken, soviel hatte er schnell begriffen. Er hatte die Zusammensetzung der Teams studiert, so dass ihm gleich klar war: Ohne einen Telepathen ging gar nichts. Zumindest nicht, wenn man so hohe Ansprüche an die Ergebnisse seiner Arbeit stellte wie Brad Crawford. Und er hatte auch sofort einen bestimmten Telepathen im Kopf, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum ausgerechnet diesen. Er kannte ihn noch von seiner Ausbildungszeit hier im Rosenkreuz-Institut, er hatte hohes Potential, er war jung… nun, vielleicht _zu_ jung, gerade mal sechzehn. Er war ein ruhiger Junge, der nicht weiter aufgefallen war, außer eben dadurch, dass er großes Talent besaß und sich ähnlich schweigsam gab wie Crawford selber. Er wusste also selbst nach der Einsicht der Akten nicht, warum es gerade der sein sollte. Aber er hatte noch in keinem anderen Team gedient, sodass Crawford sich einbildete, ihn noch nach seinen Vorstellungen formen zu können. Eigentlich war es auch egal. Wenn sein Bauchgefühl ihm sagte, der ist es, dann wäre er schön blöd, sich nicht darauf zu verlassen. Er konnte zwar nur wenige Minuten in die Zukunft sehen, aber er hatte auch ein ganz gutes Gespür für langfristige Verläufe. Er klappte die Akten zu, setzte die Brille wieder auf und trank den restlichen Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Er bedankte sich höflich bei der Sekretärin, dann machte er sich auf den Weg, seinen Auserwählten zu suchen. Er fragte niemanden, aber er stellte sich in Gedanken vor, er würde es tun, um die Antworten vorauszusehen, und so seine Informationen zu erhalten, ohne zu offenbaren, was er wollte. Ein altes Spiel von ihm, das viel Konzentration verlangte. Es funktionierte, weil ihn niemand ansprach und in ein Gespräch verwickelte. Hier und da ein Gruß, das war alles, was an Konversation stattfand. Er hatte hier keine Freunde, denn er hatte sich stets arrogant und eigenbrötlerisch gezeigt. Dennoch wurde er geachtet, denn er galt als äußerst zuverlässig. Es dauerte nicht lange und er wusste, wo er den Telepathen finden würde. Mehr als zehn Jahre... Mehr als zehn verdammte Jahre war er nun schon hier. Weit mehr als die Hälfte seines Lebens, fast schon drei Viertel davon. Schuldig lag auf der schmalen Pritsche, die sein Bett darstellte, und starrte trostlos die Risse in der Farbe der Decke an, deren Muster er in- und auswendig kannte. Der Rosenkreuz-Stützpunkt war seine persönliche Hölle, aus der es kein Entrinnen zu geben schien. Der Junge war geschafft und fertig; die Tests, denen er heute einmal mehr unterzogen worden war, waren anstrengend, schmerzhaft und zehrten an seinem Körper und seinem Geist gleichermaßen. Er hatte schnell gelernt, niemandem zu vertrauen und sich an niemanden zu binden. Das hatte hier nur unschöne Folgen... Oft genug hatte er andere Kinder in seinem Alter zerbrechen sehen, weil ihnen nicht oder zu spät klar geworden war, dass Freundschaft, Hoffnung oder Freude hier keinen Platz hatten. Er hatte diesen Fehler nicht begangen. Seine Taktik war gewesen, den Forschern und Trainern ohne Widerworte zu geben, was sie von ihm sehen wollten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Natürlich wusste er, dass er als einer der fähigsten Telepathen hier gehandelt wurde - doch das wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten hatte zum Glück noch niemand erkannt. Ebenso wenig allerdings seine Schwächen, was beides nur von Vorteil war. Einen Augenblick lang ließ seine Konzentration nach, was zur Folge hatte, dass seine Schutzschilde sich im Bruchteil einer Sekunde in Nichts auflösten und hunderte von Gedankenstimmen mit der Wucht und Lautstärke eines Orkans über ihn hereinbrachen. Schuldig kniff die Augen zusammen und presste die Kiefer aufeinander, während er versuchte, die Barriere wieder herzustellen. Gott, daran musste er wirklich noch arbeiten... In dem Moment, in dem er es schaffte, seine Abwehr wieder aufzubauen, erreichte ihn ein fremder Gedanke, der ihn selbst betraf. Stirnrunzelnd richtete er sich auf und konzentrierte sich auf den unbekannten, mentalen Strom. Wie jedes Mal verdunkelten sich dabei seine Augen, leuchteten in einem giftigen Grün auf - und wie jedes Mal senkte er die Lider halb, um niemandem dieses kleine Detail zu offenbaren, das anzeigte, wann er seine Kraft nutzte. Das war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er das sogar machte, wenn er, wie jetzt, allein war. Doch es nutzte nichts, er war zu ausgelaugt heute, er hatte nicht mehr die nötige Konzentration, um wirklich zu erkennen, was da jemand von ihm wollte. Also würde er sich wohl überraschen lassen müssen, was die Teufel wieder ausgeheckt hatten, um ihn weiter zu foltern... Crawford hatte schon die Hand auf der Klinke, um die Tür zu öffnen, da besann er sich noch einmal anders. Er klopfte an und wartete. Im Inneren des Zimmers runzelte der Junge die Stirn. Was ging denn jetzt bitte ab? Seit wann wurde hier angeklopft? Das war etwas derart Ungewöhnliches, dass ihm unwillkürlich ein kalter Schauer über den Rücken rann. Mit einem tiefen Einatmen unterband er das Erschauern, straffte die Schultern und strich sich die sehr eigenwilligen Haare zurück auf den Rücken, dann schluckte er noch einmal und meinte dann leise und fast schon misstrauisch: "Ja?" Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis die Klinke nach unten gedrückt wurde. Unwillkürlich straffte sich Crawford, bevor er langsam die Tür öffnete. Die Klinke fühlte sich kalt an, und er merkte, dass seine Handflächen feucht waren. Auch sein Herz pochte in seinen Ohren, und er wunderte sich kurz, dass er so aufgeregt war. So wichtig war ihm, ausgerechnet mit Schuldig zusammen zu arbeiten? Erstaunlich… Nach außen hin ließ er sich natürlich nichts anmerken, seine Miene war kühl und mit einer Prise Überheblichkeit gewürzt wie immer. Bedächtig trat er ein und nahm sich einen Moment Zeit, die schlanke Gestalt auf der Pritsche zu betrachten. Schuldig wirkte müde. Aus den Augenwinkeln nahm Crawford die Kargheit des Zimmers war. Alles in allem ein trostloser Anblick. Er war froh, dem Ganzen entkommen zu sein. „Mein Name ist Brad Crawford“, begann er in seiner dunklen, ruhigen Tonart. Zufrieden stellte er fest, dass ihm die Aufregung nicht anzuhören war. Er gab sich Mühe, beiläufig zu klingen, als er weiter sprach: „Ich brauche einen Telepathen für einige Spezialaufträge.“ Einen Telepathen… der Junge sollte sich nur nicht einbilden, er sei an ihm als Person interessiert. „Hast du Lust?“ Er ging bewusst unkonventionell vor mit dieser Frage und auch mit dem Anklopfen. Er hatte das Gefühl, je mehr er sich von den Rosenkreuz-Gepflogenheiten abhob, umso besser standen seine Chancen auf eine gute Zusammenarbeit. Und es gab keine Alternative – er wollte Schuldig und sonst keinen, soviel war klar. Skeptisch beobachtete der junge Telepath den Mann, der auf seine Aufforderung hin in sein Zimmer kam. Vom ersten Moment an wusste er, wen er vor sich hatte - Crawford war etwas wie eine Legende hier. Dennoch ließ er ihn sich erst einmal vorstellen und dann sagen, was er überhaupt wollte. Spezialaufträge... Schuldig vermied es, sich aufgeregt auf der Unterlippe herumzuknabbern. Er sah den Schwarzhaarigen einfach nur schweigend an - das leuchtende Grün seiner Augen wohlweislich unter den halbgesenkten Lidern versteckt. Einen Augenblick lang war er versucht, nachzufragen, um welche Aufträge es sich handeln würde, doch er wusste, dass die ihm angeborene Neugier hier nicht gern gesehen war und noch weniger akzeptiert wurde. Eine Sekunde lang dachte er noch nach, wog rasend schnell das Für und Wider ab - und nickte schließlich. "Von mir aus", bestätigte er auch noch mal akustisch und stand dann auf. "Wann?" Crawford hoffte, dass ihm seine Erleichterung nicht allzu deutlich anzusehen war. Wie viel Schuldig wohl von seinen Gedanken mitbekam? Nun, das würde er schon noch merken. Das war der Nachteil mit Telepathen. Aber das galt für alle Teams, die von Telepathie profitieren wollten. Er hatte sich dafür entschieden, da musste er nun also durch. „Also, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich möchte diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen“, antwortete er leise, nur für Schuldigs Ohren bestimmt, und selbst für die kaum hörbar. Lauter fügte er hinzu: „Ich muss noch die Formalitäten erledigen. Wenn ich ein bisschen Druck mache, müssten deine Papiere bis heute Abend fertig sein. Du kannst in Ruhe deine Sachen packen oder was du sonst noch erledigen willst. Ich würde sagen, wir treffen uns um achtzehn Uhr an der Waffenkammer. Überleg dir schon mal, was du brauchst.“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, drehte sich Crawford um und verließ das Zimmer. Innerlich rieb er sich die Hände. Das war ja gut gelaufen. Jetzt stand noch das Gespräch mit dem Direktor an, aber er rechnete nicht mit Schwierigkeiten. Schließlich hatte SZ ihm freie Hand bei der Auswahl seines Teams gegeben. Wobei das Team erstmal nur aus zwei Personen bestehen sollte, eines nach dem anderen. Vergrößern konnte man sich immer noch bei Bedarf. Schweigend hörte Schuldig dem Älteren zu und nickte zum Schluss nur knapp. Es war keine Frage, dass er dem Befehl des Amerikaners folgen würde. Und genau das war es auch gewesen: ein Befehl, um 18 Uhr an der Waffenkammer zu sein. Was er brauchte, war keine Überlegung wert. Er war ein recht guter Schütze, wenn er eine Pistole in der Hand hatte. Und genau so eine würde er mitnehmen. Wobei er auch schon beim nächsten Punkt war. Mitnehmen. Schuldig sah sich in der kleinen Zelle um und schnaubte freudlos auf. Es gab nichts, was er mitnehmen wollen würde... Die paar Klamotten, die er besaß, ließen sich rasch in eine kleine Tasche verstauen. Persönliche Gegenstände gab es hier ja kaum, also musste er auch nicht großartig packen. Außerdem - wer wusste schon, wie schnell er wieder hier landen würde. Wozu sich also die Mühe machen? Sein Blick fiel auf das schmale Regal über seinem Bett. Ein einziges Buch stand darauf. Okay, das würde er mitnehmen. Die letzte Erinnerung an zuhause, an seine Familie. Seine Mutter. Er verscheuchte den Gedanken mit einem hastigen Kopfschütteln, legte sich wieder auf sein Bett und wartete. Die Waffenkammer befand sich im Keller, erstes Untergeschoss. Er war eine viertel Stunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt. Selbst Sergej, Hüter der Waffenkammer, war noch nicht da. Crawford lehnte sich an die kühle und raue Wand, schob seine Brille zurecht, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Kurz nach halb sechs kam wieder Bewegung in den Jungen. Mit einem Seufzen schwang er die Beine über die Bettkante, stand auf und streckte sich, während er sich durch die Haare wuschelte. Dann griff er nach der Tasche, die neben der Tür stand, und verließ ohne einen letzten Blick zurück das Zimmer. Rasch lief er durch die verwinkelten Gänge und stand um fünf Minuten vor sechs vor der Waffenkammer. Überrascht bemerkte er, dass Crawford schon da war, und zog ganz automatisch den Kopf ein wenig ein. Unpünktlichkeit wurde hart bestraft und obwohl sich Schuldig eigentlich sicher war, rechtzeitig da gewesen zu sein, rechnete er jetzt mit Strafe. "Entschuldige", murmelte er verlegen und senkte schuldbewusst den Blick zu Boden. "Ich wollte nicht zu spät kommen." Innerlich machte er sich schon auf den Schlag gefasst, der jetzt unweigerlich kommen musste. Erstaunt wölbte Crawford die Augenbrauen und blickte auf den reumütigen Jungen hinab. „Na, dann… Herzlichen Glückwunsch.“ Demonstrativ schob er den Ärmel seines Jacketts hoch und sah auf die Uhr. „Es ist kurz vor sechs. Wofür entschuldigst du dich?“ Irritiert blinzelte Schuldig den Größeren an. Den Sinn der Worte hatte er durchaus verstanden, doch konnte er noch nicht so ganz glauben, dass es jetzt das gewesen sein sollte. Er versuchte sich an einem wackligen Lächeln, das sich ungewohnt auf seinem Gesicht anfühlte. "Ich... dachte nur..." Er brach ab. Unwichtig. Es schien nicht so, als hätte er den Amerikaner verärgert. Er entspannte sich ein klein wenig, doch die antrainierte Vorsicht blieb hartnäckig in seinem Hinterkopf. Versuchsweise drückte er die Klinke der Tür zur Waffenkammer, doch sie war -eigentlich wie erwartet- verschlossen. Na toll. Und er hatte keine Ahnung, wie er sich jetzt verhalten sollte, nachdem er ja auch keinen Befehl bekommen hatte, irgendetwas zu tun. Unsicher lehnte er sich ebenfalls an die Wand, allerdings ließ er vorsichtshalber die Tür als Abstand zwischen ihnen. Schweigend warteten sie. Minuten vergingen, und Sergej war noch immer nicht in Sicht. Crawford seufzte genervt und blickte zur Uhr. Es war schon zehn nach! „Verdammt, wo bleibt er denn?“ fragte er unwillig, dann fügte er scherzend hinzu: „Wir könnten versuchen, das Schloss zu knacken. Aber damit verärgern wir Sergej… Allerdings ärgert er uns auch…“ Er zog einen Dietrich aus der Innentasche seines Jacketts und hob ihn hoch. Er grinste Schuldig an. „Willst du oder soll ich?“ Das lausbubenhafte Grinsen des Schwarzhaarigen hatte etwas Erlösendes für den jungen Telepathen. Von einer Sekunde auf die andere fühlte er sich freier, weniger unter Zwang und Regeln, die ihn umbringen wollten. Unbewusst und vor allem komplett ungeübt grinste er zurück, seine Augen blitzten munter auf, und er schnappte sich den Dietrich. Das Schloss stellte keine wirkliche Schwierigkeit dar und war innerhalb weniger Sekunden geöffnet. Er stieß die Tür auf und machte eine spöttisch-einladende Handbewegung. "Bitte sehr, nach dir", grinste er ein wenig breiter, ein leises Glucksen schloss seine Worte ab. All das entging seiner sonst so strengen Wachsamkeit allerdings und so zeigte er dem Amerikaner in ein paar Sekunden mehr von sich, als die Forscher, Trainer und Lehrer in den vergangenen Jahren zu sehen bekommen hatten. Der Junge schien mit einem Mal wie ausgewechselt, und Crawford beglückwünschte sich dazu, dass er sich entschieden hatte, so zwanglos mit ihm umzugehen, und nicht versucht hatte, den Chef rauszuhängen. Er wollte keine Mitarbeiter um sich, die sich nur duckten und sich vor lauter Angst nicht trauten, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Das war… ineffektiv. Und so machte es ihm auch selbst viel mehr Spaß. Er beobachtete interessiert, wie geschickt Schuldig das Schloss öffnete. Ein weiterer Pluspunkt für ihn, zu dem, ohne Zögern den Dietrich gegriffen zu haben. Und zu dem, pünktlich gewesen zu sein. Ganz im Gegensatz zu Sergej, wie er mit leichter Verärgerung dachte. Allerdings barg jedes Ärgernis auch seine guten Seiten… „Danke schön“, sagte er nach einer kurzen Verbeugung, womit er auf Schuldigs flapsigen Ton einging, trat ein und sah sich um in Sergejs Heiligtum. Der Raum war nicht groß, nur ungefähr zwanzig Quadratmeter, aber das waren Quadratmeter, die es in sich hatten, und die mit Regalen bis an die Decke angefüllt waren mit allen möglichen Waffen aus aller Welt und in allen Raffinessen. Lediglich an der Rückwand war ein schmaler Durchgang freigelassen worden, von dort führte ein schmaler Gang zum Schießstand, wo man nach Belieben die Schätze austesten konnte. Crawford war allerdings mit seiner Beretta ganz zufrieden, er hatte eine ganz andere Idee. Er konzentrierte sich kurz auf die nächsten paar Minuten, was man als aufmerksamer Beobachter an seinem leicht verschleierten Blick erkennen konnte. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagte er leise und jetzt wieder völlig ernst zu seinem jugendlichen Begleiter und ging beim Sprechen schon einmal zielstrebig zu einem der Regale, in denen die Munition gelagert wurde, wie er von seinen früheren Besuchen hier wusste. Seine Augen flogen über die Kartons, dann griff er sich den passenden heraus. „Weißt du schon, was du willst?“ Vorsichtig öffnete er die Pappschachtel, nahm sich zwei Handvoll Patronen heraus und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Dann stellte er den Karton wieder zurück, allerdings ganz unten unter den anderen. Bevor Sergej bemerken würde, dass etwas fehlte, würde der Verdacht nicht mehr auf Crawford fallen. Schuldig war schon oft genug hier gewesen, um zu wissen, was sich wo befand. Nach einem raschen Überblick -rasch vor allem, weil sein Begleiter ihm sagte, dass sie nicht viel Zeit hätten- holte er eine Schachtel mit einer silbernen Heckler&Koch aus dem Regal, ließ die Schatulle aufschnappen, steckte sich die Pistole in den Hosenbund und stellte die leere Schachtel zurück in das Regalfach. Ebenso schnell hatte er die passende Munition eingeschoben und stand breit grinsend bereit, um die Waffenkammer ebenso schnell und unbemerkt zu verlassen, wie sie hereingekommen waren. "Ich bin soweit", meinte er überflüssigerweise. Auch wenn er normalerweise den Mund gehalten hätte, schien es ihm im Augenblick richtiger zu sein, zumindest etwas Kommunikation zu betreiben. Wenigstens über das, was ihre 'Arbeit' anging, denn als genau das sah er diese Aktion hier. Crawford bemerkte überrascht, dass der Junge sein Verhalten anscheinend zum Anlass nahm, sich ebenfalls zu bedienen. So war das eigentlich nicht gedacht gewesen, aber es war verständlich, dass er es so interpretierte. Crawford nahm sich vor, an seinen Formulierungen noch zu arbeiten… Er ließ den Jungen machen. Warum auch nicht? Sollte er ruhig zwei Knarren haben – eine offizielle und eine private. Hatte Brad schließlich auch. Er hatte vor kurzem bei einer Mission einem der Opfer die Waffe abgenommen. Und gerade die Gelegenheit genutzt, sich mühelos Munition zu besorgen. Man wusste nie, wozu das noch gut sein konnte. Irgendwann würde man vielleicht mal einen Job erledigen wollen, ohne jemandem Spuren zu liefern, die eine Zuordnung des Täters ermöglichten. Und niemand würde sie beide verdächtigen. Es war sogar wahrscheinlich, dass Sergej den Verlust, wenn er ihn denn irgendwann bemerkte, gar nicht melden würde, um selbst keinen Ärger zu bekommen. Falls Sergej klug genug war… Wovon Crawford allerdings ausging. Sergej war ein gerissener Hund. Und er würde in Kürze hier auftauchen. „Dann jetzt schnell“, sagte er und schob den Jüngeren auf den Gang hinaus. Er hatte sich als geschickt mit dem Dietrich erwiesen, aber jetzt ging Crawford lieber auf Nummer sicher und verschloss die Tür wieder auf die gleiche Art, wie sie sie geöffnet hatten. Und keine Sekunde zu früh – er hatte sich gerade wieder aufgerichtet, da bog Sergej hastigen Schrittes um die Ecke. Der große Ukrainer war etwa Mitte vierzig und trug seine schon leicht angegrauten Haare kurz geschoren, was ihm ein brutales Aussehen verlieh (was wahrscheinlich auch so beabsichtigt war). Er verfügte über keinerlei nennenswerte Psi-Kräfte, war aber ein absoluter Waffenfreak und ein wahrer Experte auf seinem Gebiet – auch darin, die kuriosesten Teile aus aller Welt zu besorgen. Bevor er Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, blaffte Crawford ihn schon an: „Deine Ausreden interessieren uns nicht! Wir warten jetzt schon fast eine halbe Stunde und verlieren durch dich wertvolle Zeit! Also beeil dich jetzt lieber!“ So leicht ließ sich Sergej nicht einschüchtern. „Jetzt reg dich ab, Crawford. Du bekommst schon, was du willst… scheiße…“ Ein wenig nervös schien er doch zu sein, zumindest bekam er das Schloss nicht gleich auf. Irgendetwas hakte da… aber er schob es auf seine Hast und machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Kurz darauf standen Brad und Schuldig erneut in der Waffenkammer. Brad bekam die Munition für seine Beretta. Schuldig eine zweite Knarre mit ebenfalls reichlich Munition. Alles wurde sorgfältig in Sergejs Unterlagen eingetragen. Als sie wieder draußen waren, grinste Brad den Jungen an: „Na, perfekt, oder? Jetzt müssen wir nur noch zum Direktor, uns artig verabschieden, deine Papiere abholen, und dann können wir dieses Drecksloch endlich verlassen.“ Bisher war er ganz zufrieden mit seiner Wahl – Schuldig war geschickt, spontan, und schien keine Probleme damit zu haben, Rosenkreuz zu hintergehen. Perfekt. Als Sergej auftauchte, fiel wieder die kalte, unnahbare Maske über Schuldigs Gesicht. Die ausdruckslose Miene hatte er inzwischen so gut drauf, dass nicht einmal der kalte Schauer, der bei dem Anblick des Ukrainers unwillkürlich über den Rücken lief, eine Chance hatte, sich in irgendeiner Form widerzuspiegeln. Er ließ sich von dem Herrn der Waffen eine kurzläufige Sig Sauer geben, schob den Karton mit Munition dazu in die Tasche, in der sich seine anderen Habseligkeiten befanden - und achtete sehr darauf, dass die silberne HK nicht im kalten Neonlicht aufblitzte und damit Sergej auffiel. Es dauerte endlose Minuten, in denen sich der Junge ebenso unwohl fühlte, als wäre er in einem der unterirdischen Labore, bis sie die kleine, stickige Kammer wieder verließen. Mit viel Mühe unterdrückte er ein erleichtertes Aufatmen. Was dann jedoch kam, ließ ihn trocken schlucken. Zum Direktor... Ergeben schloss Schuldig die Augen, riss sie allerdings bei Crawfords letzten Worten wieder auf und sah ihn überrascht an. Drecksloch? Ein kleines, verstecktes Schmunzeln huschte über seine Züge, und der kalte, übelkeiterregende Kloß in seinem Magen schrumpfte zu einem dumpfen Druck. Da schien doch tatsächlich außer ihm noch jemand die Organisation wie die Pest zu hassen... Erfreuliche Feststellung. Das Gespräch mit dem Direktor dauerte nicht lange und Schuldig hatte sich so gut im Griff, dass er den Drang, den alten Mann einfach umzubringen, erfolgreich niederkämpfte und sich schweigend anhörte, was er zu sagen hatte. Natürlich hatte er auf Durchzug geschaltet - es interessierte ihn nicht im Geringsten, was der Andere ihm zu sagen hatte. Seine Unterlagen wurden dem Amerikaner übergeben, was nichts anderes bedeutete, als dass Crawford jetzt für ihn verantwortlich war. Okay, nichts anderes hatte Schuldig erwartet. Trotzdem würde sich der Schwarzhaarige erst mal als würdig erweisen müssen, ihm zu sagen, was er zu tun hatte - und dann die gewünschten Resultate zu bekommen. Schuldig war als Telepath das Beste, was es derzeit gab, und das wusste er haargenau. Dass Rosenkreuz zugestimmt hatte, ihn Crawford zu überlassen, konnte nur bedeuten, dass der Amerikaner unglaublich viel Macht und Einfluss besaß. Nun, er würde ja sehen, ob Crawford damit auch umgehen konnte... und ob er es wert war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Beim Direktor gab es das übliche Geschwafel. Sie sollten dem Institut keine Schande machen, blabla. Crawford wusste, dass der Direktor ihn mochte, dafür hatte er gesorgt, und auch jetzt beherrschte er den Smalltalk so gut, dass man ihm seine Verachtung für den alten Mann nicht anmerkte. Nie hatte Crawford ihm die Grausamkeiten der ersten Tage und Wochen hier im Institut vergessen und verziehen schon gar nicht. Dabei war es Crawford noch gut ergangen, das war ihm durchaus bewusst. Präkognition in solcher Präzision wie bei ihm war äußerst selten, dazu verhielt er sich brav und tat zuverlässig, was von ihm verlangt wurde – und so entwickelte er sich zu einem wahren Juwel für das Institut. Er hatte nicht lange warten müssen, bis die höchsten Funktionäre auf ihn aufmerksam wurden, was weitere Vergünstigungen für ihn nach sich gezogen hatte. Und Crawford hatte die Gelegenheiten, die sich boten, stets zu nutzen gewusst. Vor dem Institut parkte sein schwarzer Mercedes CL Coupé. Ein Druck aufs Knöpfchen, und mit einem Aufleuchten der Blinklichter löste sich die Verriegelung des Zweitürers. „Hier.“ Er drückte Schuldig die Papiere in die Hand. „Offiziell bist du jetzt achtzehn.“ Der junge Telepath verbarg seine Aufregung so gut es ging, als sie durch einen Bereich der Anlage gingen, die er noch nie gesehen hatte: den Ausgang. Das Herz wummerte ihm im Hals und so langsam realisierte er, was tatsächlich geschah: er verließ Rosenkreuz. Mit unglaublich viel Beherrschung behielt er das Tempo bei, mit dem er neben Crawford her ging - viel lieber wäre er gerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Doch das wäre dann doch eine Spur zu unpassend gewesen. Doch er konnte nicht verhindern, dass er tief durchatmete, als die schweren Eingangstüren hinter ihnen mit einem dumpfen Geräusch zufielen und sie ausschlossen. Einmal mehr lief ihm ein Schauer über den Rücken und verursachte eine Gänsehaut, doch diesmal war nichts Unangenehmes daran. Schuldig spürte, wie eine ungewisse Nervosität in seinem Magen aufbrandete und seine Nerven zum Flattern brachte; das breite Grinsen, das sich auf sein Gesicht schleichen wollte, hielt er mit enorm viel Mühe zurück. Überrascht sah er auf den schicken Wagen, dessen Blinker nun hektisch aufflackerten, und er schluckte leicht. Die Aufregung, die vorher ein leichtes Grollen in seinen Eingeweiden gewesen war, wuchs sich zu einem wilden Kribbeln aus, als ihm aufging, wie wenig er von dem wusste, was ihn nun erwartete. Wie es wohl sein würde, das, was man allgemein 'Leben' nannte? Diese Frage beschäftigte ihn so intensiv, dass er gar nicht mitbekam, wie Crawford ihm seine Papiere unter die Nase hielt. "Hä?", machte er nicht so wirklich geistreich - fuck, da schien er jetzt was verpasst zu haben... Im Bruchteil einer Sekunde griff er in Crawfords Geist und holte sich die letzten zehn Sekunden aus seiner Erinnerung. Dann runzelte er kurz die Stirn, griff nach dem Ordner, in dem sich seine Unterlagen befanden und schlug ihn mit zittrigen Fingern auf. "Achtzehn?", nuschelte er unbewusst und sah dann mit großen Augen zu dem Schwarzhaarigen auf. Das Grinsen, das die ganze Weile unter der Oberfläche gelauert hatte, brach nun endgültig durch, und er strahlte den Älteren regelrecht an. Dann senkte er den Blick wieder auf seine Papiere, blätterte sie rasch durch und verzog dann das Gesicht. "Okay", murmelte er mit einem bitteren Unterton, riss ein Blatt energisch aus dem Ordner, faltete es zusammen und schob es in seine Hosentasche, seine Augen blitzten dabei giftgrün auf. Das hier ging niemanden etwas an, auch den Amerikaner nicht - seine Geburtsurkunde. Die anderen Unterlagen waren auf ein Pseudonym ausgestellt und hatten nichts mit seiner wirklichen Identität gemein. Wer er tatsächlich war, würde nie wieder irgendwer erfahren. Noch immer in die Akten vertieft, öffnete er die Beifahrertür und setzte sich in das Auto. Erst als er das Aufschnurren des Motors hörte, schlug er die Mappe zu, hob den Blick wieder an und wandte den Kopf zu Crawford. "Und jetzt?", wollte er leise und beinahe ein wenig eingeschüchtert wissen. "Wohin fahren wir jetzt?" Crawford lenkte den Wagen sicher und gekonnt, wenn auch äußerst schwungvoll, die enge, serpentinenförmige Straße den Berg hinunter. „Jetzt fahren wir zu meinem… unserem Appartement in München. Ich hoffe, wir haben noch ein paar Tage Zeit bis zu unserem ersten Auftrag.“ Er fragte sich, was Schuldig aus seinen Unterlagen gerissen hatte, und bereute, dass er sie ihm gleich ausgehändigt hatte, ohne vorher selbst noch einen Blick hinein geworfen zu haben. Na, egal. Jeder hatte ein Recht auf seine kleinen, privaten Geheimnisse. Er hoffte nur, dass Schuldig das genau so sah. Er hasste es, wenn jemand ständig ungefragt in seinen Gedanken herum schnüffelte. „Was nicht heißt, dass wir frei haben…“ Er griff zur Seite und zog einen kleinen Kauderwelsch-Band aus dem Handschuhfach, den er Schuldig auf den Schoß warf. „Ich möchte, dass du Japanisch lernst. Möglichst schnell. Und – kannst du Auto fahren? Nein? Das musst du auch lernen. Und, Schuldig…“ Er warf einen kurzen, eindringlichen Blick zur Seite. „Erspare uns beiden den Ärger und versuche nicht, weg zu laufen. Du weißt, wohin das führt.“ Menschenmaterial, das nicht einsatzfähig war, wurde gnadenlos in den Untergeschossen des Instituts für Experimente verbraten, im wahrsten Sinne des Wortes. Das war ein offenes Geheimnis. Dabei ging es Crawford weniger um Schuldigs persönliches Schicksal. Vielmehr wollte er nicht unangenehm auffallen. München... Schuldigs Magen zog sich schmerzhaft zusammen und sein Gesicht nahm einen leichten Grünstich an. Doch er atmete tief durch und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Dabei half ihm, dass ihm Brad das zerfledderte Wörterbuch in den Schoß warf. Er betrachtete es einen Moment nachdenklich, seine Mundwinkel hoben sich zum Anflug eines sarkastischen Grinsens an, dann nahm er das Buch und warf es achtlos auf den schmalen Platz hinter seinem Sitz. "Brauch ich nicht. Ich lerne Sprachen anders", erklärte er, in seinem Ton schwang eine unbewusste Arroganz mit. Wenn die Menschen sprachen, blitzten meist die passenden Bilder zu ihren Worten in ihren Gedanken auf, und er hatte gelernt, sich diese Tatsache zu Nutze zu machen. Auf diese Weise lernte er eine Sprache innerhalb weniger Tage, wenn er unter Menschen war. Das war ein kleiner Trick, den er den Forschern nicht verraten hatte... Bei Crawfords nächstem Satz allerdings verabschiedete sich jegliche Überheblichkeit und jeder Sarkasmus aus seiner Miene, und er strahlte wie ein Christbaum. "Autofahren?" Die grünen Augen leuchteten vor Begeisterung und von einer Sekunde auf die andere beobachtete er die Bewegungen des Amerikaners, das Zusammenspiel der Pedale und der Schaltung. "Nein, keine Sorge", antwortete er daher eher beiläufig auf die Warnung des Älteren. "Ich weiß, was dann passiert." So dumm war er nicht, auch wenn er sich gern so stellte. Und auch wenn er sein Leben eigentlich schon aufgegeben hatte, so wollte er es nicht unbedingt auf den Folterstühlen von Rosenkreuz verlieren. Noch dazu bot sich ihm ja jetzt die Möglichkeit, tatsächlich zu 'leben' und nicht nur vor sich hinzuvegetieren wie bisher. Und diese Chance würde er sich bestimmt nicht entgehen lassen. Dafür war er viel zu neugierig - und viel zu hungrig. Von Schuldigs Reaktion auf die Nennung ihres Zielortes bekam Crawford nichts mit – zu beschäftigt war er damit, den Wagen auf der Straße zu halten und gleichzeitig das Wörterbuch hervor zu kramen. Was dann kurze Zeit später achtlos auf dem Rücksitz landete. Schuldigs Erklärung, Sprachen anders zu lernen, kommentierte Crawford lediglich mit einem Wölben der Augenbraue. Es war ihm ja egal, wie der Jüngere das anstellen wollte, allein das Ergebnis zählte. Man würde sehen… Auf die letzte Äußerung antwortete er in fließendem Japanisch: „Gut, dann sind wir uns ja einig.“ Gutgelaunt drückte er am Radio herum, auf der Suche nach einem hörbaren Sender. Je weiter sie sich vom Institut entfernten, desto freier konnte er wieder atmen. Trotz aller Privilegien, trotz aller Vollmachten, immer noch verspürte er tief in sich die alte Furcht, wieder in einem der sterilen, fensterlosen Zellen im Untergeschoss eingeschlossen zu werden. Schnell gab er auf und machte die CD an, die sich noch im Laufwerk befand, und ein rockiger, etwas schleppender Rhythmus tönte aus den Boxen, Schlagzeug und E-Gitarre begleitet von Geige und Dudelsack. „… wir sind frei wie die Vögel, wir sind vogelfrei…“ erklang die Stimme des Sängers von Schandmaul. Crawford klopfte auf das Fach zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. „Hier sind noch mehr CDs, falls du was anderes hören willst…“ Ein breites Grinsen war Schuldigs Reaktion auf Crawfords Japanischkenntnisse. Natürlich konnte er noch nicht antworten, jedenfalls nicht auf japanisch, doch die Bedeutung der Worte hatte ihn wie ein hungriges Tier angesprungen. "Sehe ich genauso", gab er lässig zurück und räkelte sich dann stolz im Beifahrersitz. Hach ja, er war einfach genial... Als der Ältere die CD einschaltete, runzelte der junge Telepath erst die Stirn, doch dann hörte er einfach den Texten zu. Okay, sicher hätte er sich etwas anderes aussuchen können - doch er kannte sich ohnehin nicht mit solchen Dingen aus. Und wenn Crawford diese Musik gefiel, war es so gut wie alles andere auch. Trotzdem holte er die CDs aus dem Fach und betrachtete sich die Cover. Eines war dabei, das dem Jungen sofort ins Auge stach, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war: lediglich eine violette Fläche mit einem orangefarbenen Strudel in der Mitte. Schuldig öffnete die Hülle, entnahm die CD und schob sie in den Player. Im nächsten Moment dröhnten schwere Bässe und scharfe Gitarrenriffs durch den Wagen, und eine dunkle, rockige Stimme begann in einem aufreizenden Tonfall auf Englisch zu singen. Schuldig strahlte - er hatte etwas gefunden, das ihn bis ins Innerste berührte. Noch einmal schlug er die Hülle auf, besah sich das Booklet und grinste bis über beide Ohren. Dann schaute er zu Crawford. "Ich wusste nicht, dass du der Typ für Hardrock bist..." Mit dem überbreiten Grinsen wedelte er mit der CD vor dessen Nase herum. Er drehte ein wenig am Lautstärkeregler und stellte ihn von angenehmen 15 auf mächtige 33, lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen. Okay, München konnte kommen... „Hey!“ Er packte die Hand, die da vor seiner Nase herum wedelte, und schob sie wieder in Schuldigs Hälfte des Autos zurück. „Ich muss auch was sehen!“ Er regelte die Musik wieder auf ein Maß zurück, das Worte verständlich machte. Dann allerdings erwiderte er das Grinsen: „Du weißt verdammt wenig darüber, was für ein Typ ich bin, weißt du.“ Er drehte die Musik wieder hoch, schob seine Brille zurecht und klopfte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt mit. Als sie endlich die schmale, kurvige Zufahrtsstrasse hinter sich ließen, steigerte er das Tempo, konzentrierte sich ganz aufs Autofahren und fuhr jetzt im "Präkog-Modus“, wie er das für sich nannte; eine Fahrweise, die nichts für schwache Nerven war, da er so schnell fuhr, wie es die Straße und der Verkehr hergaben, und scheinbar halsbrecherische Überholmanöver an unübersichtlichen Stellen vollführte, da er ja wusste, ob ihnen jemand hinter der Kurve entgegen kommen würde oder nicht. Das gleiche galt für rote Ampeln, einmündende Straßen, kreuzende Fußgänger… Ab und zu warf Brad einen kleinen Seitenblick auf Schuldig. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Beifahrer von ihm eine Panikattacke erlitt. Oder ihm womöglich ins Auto kotzte – wobei, das hatte Crawford bisher immer rechtzeitig zu verhindern gewusst! Da hatte der Amerikaner bei Schuldig jedoch schlechte Papiere. Der Junge erkannte die Gefahr nicht, in die Brad sie brachte. Naja, oder nicht brachte. Je nachdem, wie man es sehen wollte. Im Gegenteil: die Geschwindigkeit machte ihm unglaublichen Spaß, und er schielte immer wieder auf den Tacho, um festzustellen, ob es vielleicht noch schneller ging. Eines nahm er sich in dieser Zeit, in der sie über die Straßen rasten wie nicht gescheit, allerdings vor: Wenn er selber ein Auto haben würde, würde das auf jeden Fall noch schneller sein als dieser Mercedes hier. Er hopste also im Takt der aufpeitschenden Musik auf seinem Sitz herum und grinste von Mal zu Mal breiter, wenn sie wieder jemanden überholten. Allein das hier war schon besser als alles, was er erwartet hatte. Und irgendwie war er Crawford furchtbar dankbar dafür, das erleben zu dürfen. Die Nervenprobe hatte der Junge also auch überstanden. Sehr schön. Auf der Autobahn wurde die Fahrt ruhiger; er blieb auf der linken Spur und fuhr weiterhin schnell, aber seine Konzentration ließ langsam nach. Er war anstrengend, der „Präkog-Modus“, und über lange Zeit konnte er diesen Zustand nicht aufrecht erhalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)