Bloodline von PlanTeaWolf ([MadaItaSasu]) ================================================================================ Prolog: Hunger -------------- Es war weit nach Mitternacht. Nicht ganz drei Stunden, dann würde die Sonne aufgehen. Kalt umwehte ihn der nächtliche Wind. Spielte mit seinem langen, pechschwarzen Haar. Ließ es so noch etwas wilder aussehen als es ohnehin schon war. Doch davon ließ er sich nicht stören. Auch nicht von der fast absoluten Finsternis, die herrschte. Vom Mond war kaum noch mehr als eine schmale, silberne Sichel zu sehen, deren Licht kaum nennenswert war. Ebenso schienen die Sterne viel blasser als sonst – fast so als wären alle miteinander erloschen und sandten nun ihr letztes Licht gen Erde. Auch die Laternen waren schon längst gedämpft worden, spendeten somit auch kein Licht mehr. Für wen auch? Um diese Zeit war niemand mehr auf den Straßen unterwegs. Hatte niemand mehr unterwegs zu sein. Und für streunende Tiere würde es garantiert nicht brennen gelassen werden. Doch ihm sollte das nur recht sein. So war es viel angenehmer, die Straßen zu durchwandern. Ohne dieses helle Licht. Ohne die lärmenden Menschenmengen. Ohne die ganze Hektik, die diese mit sich zu bringen pflegten. So waren ihm die Nächte am liebsten. Wenn nichts und niemand ihn störte. Wenn er ganz für sich sein konnte. Wenn er seinen Gedankengängen nachhängen konnte. Wenn er einfach über das sinnieren konnte, was ihm gerade in den Sinn kam. Und doch gab es Momente, da war er alledem überdrüssig. Momente, in denen er doch nichts gegen etwas Gesellschaft einzuwenden hätte. Sicher, unmöglich wäre es nicht, jedoch auch alles andere als einfach. Kopfschütteln ging er die dunkle Pflastersteinstraße weiter entlang. Dabei hallten die Geräusche seiner Schritte von den schmuddeligen Fassaden der Häuser wieder. Das einzige Geräusch neben dem leisen Pfeifen des Windes und dem noch leiseren Rascheln seiner Kleidung. Gesellschaft… Es würde besser ohne welche sein. So war es schon immer und so würde es auch immer sein; dessen war der schwarzhaarige Mann sich sicher. Bislang war er alleine immer am besten zurecht gekommen. Doch noch ahnte er nicht, dass sich dies alles in dieser Nacht ändern sollte. Noch beschlich ihn nicht mal auch nur der Hauch einer vagen Vermutung. Doch er würde es noch früh genug feststellen. Gut zwei Stunden waren inzwischen vergangen. Nicht mehr lange, dann würde die Nacht vorüber sein. Doch diese restliche Zeit würde er noch genießen. So wie er es jede Nacht tat. Seit Wochen. Monaten. Jahren. Dekaden. Es war zu seiner Angewohnheit geworden, von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang durch die Straßen zu wandern. Doch etwas war anders. Ganz anders als in allen vorherigen Nächten. Obwohl es noch nicht mal eine Stunde her war verspürte er wieder diesen mächtigen Hunger. Diese Gier. Doch erklären konnte er es sich nicht. Sowas war ihm in all den Jahrzehnten, die er nun schon so lebte, noch nie passiert. Es war das erste Mal, dass er sich so… unbefriedigt fühlte. Und es schien, als würde das Verlangen in ihm mit jedem Atemzug wachsen. Mit jedem Schritt schlimmer werden. Darüber verwirrt blieb er stehen. Schaute sich um. Konzentrierte sich etwas um herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte. Und kam auch drauf. In der Luft lag ein Geruch, den er so noch nie wahrgenommen hatte. Ein Geruch, der zwar auf menschlicher Basis beruhte, aber dennoch unbekannt und fremdartig erschien. Einen Moment lang zögerte der Langhaarige. Sollte er dieses Aroma ergründen? Seine Quelle suchen? Oder es lieber sein lassen? Seine Vernunft sprach für Letzteres, schließlich würde es inzwischen sicherlich nicht mehr ganz eine Stunde dauern, bis ein neuer Morgen anbrechen und die Nacht fürs Erste ablösen würde. Doch etwas tief in ihm sträubte sich dagegen, von diesem Duft abzulassen. Und dieses Etwas war stärker als seine Vernunft. Also setzte er sich wieder in Bewegung, schneller als zuvor – wenigstens dazu hatte seine Besinnung sich durchsetzen können. Nach knapp zehn Minuten blieb er dann abermals stehen, denn auch der Duft stoppte hier. Aufmerksam sah er sich um. Suchte die Umgebung nach dem Ursprung ab. Trotz der hier herrschenden absoluten Dunkelheit konnte er sehen. Erkennen, wo er sich befand. Selbst die Ratte, die dicht an den Mauern der Kirche, vor der der Schwarzhaarige sich befand, vorbeihuschte, erkannte er klar und deutlich. Und auch die gesuchte Quelle dieses fesselnden Duftes blieb ihm nicht lange verborgen. Direkt neben der kleinen Treppe, die zu den eisernen Türen der Kapelle führte, kauerte sie. Oder vielmehr er, denn bei besagtem Ursprung des Aromas handelte es sich um einen Jungen. Sicherlich war er nicht viel älter als fünfzehn, zumindest wirkte er nicht so. Was vielleicht aber auch daran lag, dass er einen recht ausgezerrten Eindruck machte. Die helle Haut an Armen, Beinen und Gesicht war deutlich verdreckt. Sein kurzes, bläulich schwarzes Haar stand am Hinterkopf wirr ab, während sein Pony strähnig in seinem Gesicht klebte. Die Knie hatte er dicht an seinen hageren Leib gezogen, seinen Kopf auf sie gebettet und die Arme so fest wie möglich um sie geschlungen. Die Kleidung, die er trug war alt und zerschlissen. Vermutlich auch nicht sonderlich dick und wärmend; alles andere als das Richtige für solch eine kühle Herbstnacht wie sie es heute war. Sein deutlich sichtbares Zittern bestätigte diesen Eindruck nur. Alles in allem bot der Kleine also einen wirklich bedauernswerten Anblick. Sofern man so etwas wie Bedauern überhaupt empfand. Doch dies tat der Mann – der noch immer ungerührt inmitten des Kirchhofs stand – nicht. Und trotzdem war es ihm nicht egal, ob der Junge hier erfror, verhungerte oder einen anderen armseligen Tod starb. Die Gleichgültigkeit, die er gegenüber Fremden sonst empfand blieb aus. Verwirrt war er darüber aber nicht wirklich. Er vermutete, dass der Geruch, der von dem Jungen ausging, schuld daran war. Sicherlich brachte der dadurch angeregte Hunger ihn nur so durcheinander, dass die üblichen Gefühle in solch einer Situation ausblieben. Während er mit dieser Reflexion beschäftigt war, hatte der Langhaarige nicht registriert, dass ihn inzwischen ein Paar tiefschwarze Iriden anblickten. Hatte nicht registriert, dass der Junge, der so reglos dasaß, den Kopf gehoben hatte und ihn nun eingehend musterte. Erst nach einigen Augenblicken schaltete er. Erwiderte den Blick des Sitzenden. Starrte ihn stumm an. Und entgegen seiner Erwartung schaute der Junge nicht weg, sondern fixierte ihn weiterhin. Sowas war ihm in seinem gesamten Leben erst ein Mal passiert – wenn er sich recht entsann. Die Mühe, diese Überraschung zu kaschieren machte er sich erst gar nicht. Wozu auch? In wenigen Momenten würde es den Kleineren ohnehin nicht mehr interessieren. Dessen war der Langhaarige sich sicher. Zumindest glaubte er, dass er sich sicher war. Bis er feststellte, das der Kurzhaarige ihn weiterhin anschaute. Ohne den geringsten Funke Angst in den Augen. Ohne einen Ausdruck von Trance. Ganz anders als Andere nach kurzer Zeit schauten, wenn ihre Blicke denen des schwarzhaarigen Mannes begegneten. Doch wieso? Spürte der Junge nicht, dass der Fremde ihm gefährlich werden konnte? Spürte er es, fürchtete sich aber nicht? Hatte er schon so viel miterlebt, dass seine Angst abgestumpft war? Oder war er schlichtweg einfach nur dumm und erkannte den Ernst der Lage nicht? Auf der einen Seite konnte es dem mit Abstand Älteren egal sein, doch andererseits interessierte ihn diese Courage des Kleinen. Sie hatte definitiv seine Neugierde geweckt. Und scheinbar war auch der Junge neugierig, denn nicht ganz eine Minute verstrich, ehe er sich traute das Wort zu erheben: „Suchen Sie etwas? Oder haben Sie sich verlaufen?“ Irritiert schwieg der Ältere. Nicht, weil der Junge ihn einfach ansprach; viel eher war es dessen Tonlage, die ihn abermals zum Stutzen brachte. Die Festigkeit mit der sprach und dieser Anflug von Selbstsicherheit hatte er ganz sicher nicht erwartet – erst recht nicht von so einem heruntergekommenen Straßenkind. „Verstehen Sie mich überhaupt?“ Nicken, dicht gefolgt von einer verbalen Antwort. „Ersteres trifft eher zu.“ „Und was? Vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein? Gegen eine kleine Gegenleistung, versteht sich.“ Der Ältere schmunzelte. Dumm war der Bursche sicherlich nicht – sonst würde er wohl kaum eine Gegenleistung verlangen. „Eigentlich… habe ich das, was ich gesucht habe, schon längst gefunden…“ „Ach so? Und was wäre das, wenn ich fragen darf?“ Ein gedämpftes, süffisantes Lachen war die einzige Antwort, die der Junge erhielt. Die dafür sorgte, dass er sich mit einem Mal gar nicht mehr so selbstsicher zu fühlen schien. Die ihn sich noch enger an die kalte Steinfassade der Kirche hinter ihm pressen ließ. Doch wirkliche Furcht war noch immer nicht in seinen Augen zu sehen – obwohl er eigentlich genau wissen musste, dass ihm definitiv niemand zu Hilfe eilen würde. Dass es niemanden kümmern würde, was mit ihm geschah. Und doch war außer einer anständige Portion Aufmerksamkeit und Skepsis keine Gefühlsregung in seinem Blick zu sehen. „Was genau… wollen Sie?“ Wieder war nur leises Lachen die Antwort, während der langhaarige Mann sein Gegenüber weiterhin fixierte. Ihn regelrecht mit seinen Blicken durchbohrte. Sich dann flüchtig über die schmalen Lippen leckte. Zumindest Nervosität schien sich nun in dem schmächtigen Körber des Knaben breit zu machen. Man konnte sehen, wie sich Muskeln und Sehnen anspannten. Wie es in seinem Kopf zu rattern begann. Weglaufen? Versuchen, sich in Sicherheit zu bringen? Bleiben und dieser räudigen Existenz eventuell ein für alle Mal entfliehen? Zu spät. Ehe der Kleine sich versah stand der Fremde auch schon vor ihm. Beugte sich zu ihm runter. Fasste sein Kinn mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Zwang ihn so, seinen Kopf zu heben und ihm direkt in die Augen zu schauen. Sie waren unheimlich. Trotz der vorherrschenden Finsternis waren die Pupillen klein; nicht geweitet, wie es bei solchen Lichtverhältnissen üblich war. Doch das war noch nicht alles, denn zudem hatten sie die wohl unnatürlichste Farbe, die der Straßenjunge jemals gesehen hatte: Rot. Tiefes, blutiges rot. Der Kurzhaarige schluckte schwer. Was, zum Teufel, geschah hier? Entgegen seiner Erwartungen ließ der Fremde ihn wieder los. Richtete sich wieder zu voller Größe auf. Wandte sich dann zum Gehen, den perplexen Jungen nun wie Luft behandelnd. Das könnte in der Tat noch amüsant werden. Für ihn. Für den kleinen… wohl eher weniger. Doch nun war es zu spät um noch irgendwas zu machen. Er hatte schon zu viel Zeit verschwendet, denn der Horizont begann inzwischen sich in ein glühendes rot zu verfärben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)