Orthogonalität am Beispiel des virilen Objekts von Kirschbaum ================================================================================ Von deutschen Mathefreaks und kanadischen Rockmusikern ------------------------------------------------------ Wir, das waren rund hundert Schüler, also alle der elften Klasse, saßen in der Aula und redeten und quatschten und tratschten was das Zeug hielt. Versammlung zur Besprechung der Stufenfahrt zwecks Kennenlernens im Dezember war angesagt. Es war Montagmorgen, acht Uhr und ich saß tief in meinem Sitz hängend neben Ray-Ray, der sich seine Ohrhörer in die Ohren gestopft hatte und die Augen geschlossen hielt. Es war zu früh. Müde wandte ich meinen Blick zu Lilly links neben mir. Sie redete aufgeregt mit  Julie aus unserem Freundeskreis. Rechts von Ray-Ray hangen, ebenso kaputt und müde wie wir beide, Pat und Flo. Wie es sich so gehörte, war man schon früher als acht an oder in der Schule und musste so irgendwie die zehn Minuten bis zum Beginn überbrücken. Der Vorteil dieser Veranstaltung war unumstritten, dass Kunst für mich ausfiel und ich gleich, nach dieser Versammlung, zu meinem geliebten Mathelehrer spazieren durfte um ihn in seiner Ansprache über lineare Funktionen mit Nichtsverstehen aber schmachtem Anstarren irgendwie zu unterstützen. In Kunst am Montag saß ich immer ganz allein, denn Lilly und Ray-Ray belegten den Musikkurs, eine Wahl, die ich absolut nicht nachvollziehen konnte. Natürlich war Musik ein äußerst wichtiger Lebensbestandteil, aber gerade noch unwichtig genug, dass man nicht unbedingt ein Instrument spielen, Noten lesen und sonore Töne singen können musste. Um acht Uhr klingelte die Schulglocke und schreckte mich, Ray-Ray und Pat gleichzeitig aus unserem Döszustund. Verwirrt sahen wir uns um, streckten uns und Ray-Ray gähnte herzhaft, um seinem Missgunst an der unhumanen Zeit zum Ausdruck zu bringen. Ich schmunzelte, faltete die Finger ineinander und drückte sie gegen die Rückenlehne des Vordersitztes. Herr Pieper tauchte vor den Sitzreihen auf und begrüßte uns mit einem fröhlichen „Morgen Jungs, Morgn Mädls.“ Einige verschlafene Stimmen antworteten, wir schwiegen. „Die Stufenfahrt findet wie jedes Jahr vom neunten bis einschließlich dreizehnten Dezember statt und führt uns wie jedes Jahr in die wunderschöne, westlichste Großstadt des Landes, die mit einer außergewöhnlichen Historie... bla bla. Nach Aachen, wie jedes Jahr. Die Kosten betragen für vier Nächte, vier Frühstücks und vier Abendsessens und die Fahrt dorthin hundert Euro. Ihr bekommt diese“, Herr Pieper hielt einen Batzen Dokumente hoch „Blätter noch ausgehändigt, darauf“, er sah sie sich genauer an „findet ihr noch mal alle wichtigen und ausführlichen Informationen zur Fahrt, die Bankdaten für die Überweisung des Betrags und dieser Abschnitt hier“, er deutete auf den untersten Teil eines Blattes „ist bis zum zwanzigsten November an mich oder einen der aufsichtshabenden Lehrer wieder zu geben. Das Geld überweist ihr bitte bis dahin auf das Konto, wer nicht mit kommen will schreibt einen ausführlich... wobei, ich hab keine Lust, das alles zu lesen, der schreibt einfach einen Grund und reicht ihn bald möglich bei mir ein. Mal gucken, ob ich das so genehmigen kann wegen diverser Vorschriften. Hat irgendwer noch Fragen dazu?“ Ein gemeinsames Räuspern ging durch die Schülerschaft, dann hob sich links von mir eine Hand und eine piepsige, weibliche Stimme fragte: „Wer sind die aufsichtshabenden Lehrer?“ „Gute Frage, Christine, wirklich ausgezeichnet. Nun ja“, Herr Pieper, eine an sich doch recht witzige Natur, nickte in die rechte Ecke des Raumes „ich werde mitkommen müssen, außerdem noch Frau Berger, Frau Rescher und Herr Branner.“ Ich drehte mich zur rechten Ecke und erblickte den attraktiven Mann zwischen zwei mittelalten Frauen stehen, die eine nervös, die andere genervt lächelnd. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, und das tat ich in diesem Moment wahrscheinlich auch nicht, hätte ich gedacht, dass Herr Branner nur für mich lächelte und seine blauen Augen fixierten genau mich. Nervös schluckend drehte ich mich wieder um, zog mir die weiße Mütze meines Kapuzenpullis über das blonde Haar und rutschte tief in meinen Sitz runter. Er hatte mich unmöglich sehen können. Ich saß mitten in einem Haufen von Leuten und war so mega unauffällig, dass ich mir nicht mal selber auffiel. Er hatte nicht mich angelächelt. Er hatte die Schülerschaft angelächelt. Das musste einfach so gewesen sein! Ich schluckte hart und sah wieder rauf zu Herrn Pieper, der mit seiner Ansprache fertig war, den Batzen Blätter in die erste Reihe reichte und uns dann „in den Unterricht“ entließ. Das waren also zehn Minuten gewesen, für die wir uns hier versammeln mussten. Mir passte an der Sache nicht, dass mein Unterricht trotzdem nicht statt fand – faules Lehrerpack – und ich jetzt die restlichen achtzig Minuten Zeit überbrücken musste, die ich lieber gern in meinem Bett verbracht hätte. Da hätten mein Bett, ich und Zac nichts gegen gehabt. Ich gähnte herzhaft, verfluche diese Woche und schlurfte neben Lilly aus der Aula. „Dein Kurs fällt aus?“ fragte sie mich und sah mich musternd an. Ich nickte müde. „Und du bist der Einzige von uns in diesem Kurs?“ „Du und Ray und Flo habt Musik, Pat und Julie sind im anderen Kunstkurs!“ antwortete ich leise und sah sehnsüchtig meine Freunde an, die sich verabschiedeten, um zum Kunstkurs im oberen Stockwerk zu gehen. „Hm“, machte Lilly „hast du Herrn Pieper mal gefragt, ob du den Kurs wechseln kannst?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen und sah sie verwirrt an. Natürlich war ich darauf nicht gekommen, aber mir hatte auch niemand gesagt, dass das möglich war. Vielleicht konnte ich den Sportkurs wechseln? „Frag ihn doch mal, kostet ja nichts!“ sagte Lilly, lächelte, umarmte mich kurz und lief dann zu Ray und Flo, die schon auf sie warteten. „Genieß deine Freistunden!“ sagte Flo, zwinkerte und die vier verließen das Gebäude. Ich unterdrückte mein Gähnen, drehte mich zu den Tischen um und ließ mich auf einen Plastikstuhl neben der Glastür zum Flur nieder. Ich seufzte herzhaft, sah mich kurz um, um fest zustellen, dass ich keinen der hier sitzenden Schüler kannte, und legte dann meinen Kopf auf meine Arme, die ich auf der Tischplatte abgelegt hatte. Schnell wurde es angenehm warm um meinem Gesicht, dann unangenehm heiß. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich läge in meinem Bett als die Tischplatte wackelte, ich das Rauschen einer Jeans wahrnahm und schließlich jemand „Hey, Tim?“ sagte. Verwirrt ob ich meinen Kopf, koordinierte mich kurz und sah dann ein Paar grüner Augen vor mir, die mich vergnügt anleuchteten. „Ähm“, antwortete ich und musterte den jungen Mann. Er hatte schmale Schultern, helle, reine Haut und tief schwarze Haare. Die waren gefärbt und zu einem schicken Seitenscheitel gekämmt. „Ich bin Joe“, stellte der hübsche Unbekannte sich vor und zeigte sein perfekt weißes Lächeln. „Joe?“ antwortete ich mit flagranten, fragendem Unterton. Mein Gegenüber nickte nur „Joe...“ „Okay!“ „Wir haben Kunst zusammen.“ „Hab ich mir irgendwie gedacht.“ „Und Mathe.“ Er lächelte mich an. Mit diesem wissenden Blick. „Äh...“ Joe lehnte sich leise schmunzelnd zurück „Ich kann das voll verstehen.“ „Äh“ „Dass du einen Narren an ihn gefressen hast.“ Er wandte sich um und sah zum Sekretariat. Die große Tür stand offen und durch den Spalt gab sich mein Mathelehrer zu erkennen, der sich mit Herrn Pieper unterhielt. „Ähm...“ „Ich fand Mathe schon immer ziemlich gut. Aber seit Neuestem ist es einfach nur genial.“ Joe drehte sich wieder zu mir um und lächelte ziemlich lüstern. „Er ist zum anbeißen.“ „Heißt das, du bist auch...“ ich hielt kurz inne und musterte ihn. Er nickte „schwul, ja.“ Ich schluckte hart. Man merkte es ihm nicht unbedingt an. Wahrscheinlich sah man es nur, wenn man es wusste. Bei mir war das – offensichtlich – anders. Ich konnte mich einfach nicht zurück halten, ich war so, das war meine Natur. „Das ist ungewohnt.“ antwortete ich leise und musterte Joe. „du kennst keine anderen schwulen Männer?“ „äh...“ ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte vorsichtig mit dem Kopf „nicht wirklich...“ Joe kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits mich „das heißt, du hast nie...“ er zog die Augenbrauen hoch und drehte seine Hand. Ich sog scharf die Luft ein. Ich konnte mich nicht verstellen, und ich konnte nicht aufpassen, was ich zu wem sagte. Oder generell, was ich sagte. Schnell versuchte ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: „Du bist jetzt neu hier?“ Er nickte „Von welcher Schule kommst du?“ „Gesamtschule Rothstraße!“ „Ah...“ „Ja...“ „Ich war vorher schon hier.“ erklärte ich und presste die Lippen aufeinander. Ich wusste wirklich nicht, was ich noch sagen sollte. Ihm gegenüber zu sitzen fühlte sich irgendwie ein bisschen peinlich an. Wir schwiegen und wechselten einige Worte und die Anspannung zwischen uns war quasi greifbar. Bis mein Handy klingelte. Ich nahm das Gespräch entgegen, ließ mir von meiner Mutter sagen, dass sie die Schicht ihrer Kollegin noch übernahm und daher erst später nach Hause kam, sagte ihr, dass ich sie lieb hatte und legte dann wieder auf. „Billy Talent Fan“, lächelte Joe. Zuerst sah ich ihn verwirrt an – woher wusste er denn das jetzt? - dann steckte ich mein Handy zurück in meine Tasche und das Wissen kam wie eine Erleuchtung über mich. Mein Klingelton. „Ähm“, ich nickte verlegen „ja. Ja, eigentlich schon.“ „Ich liebe das neue Album...“ An diesem Morgen erfanden wir ein neues Spiel. Wir hatten ihm keinen Namen gegeben und eigentlich war uns auch gar nicht wirklich klar, dass es für uns eine Art Spiel sein oder werden sollte. „Heißester Typ in Kanada“, lächelte er und musterte interessiert meine Reaktion. Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: „Alex Evans.“ Er verzog überrascht das Gesicht „Nie gehört.“ „Nicht?“ Er schüttelte den Kopf. „Man.“ Ich lächelte leicht „kanadisches Model und... Fotograf.“ unwissend zucke ich die Schultern „glaub ich. Heiß, auf jeden Fall. Musst du mal googeln.“ Er griente verschmizt. „Und?“ fragte ich neugierig „heißester Typ in Kanada?“ Jetzt lachte er vergnügt auf und zuckte dann die Schultern: „Weiß nicht, vielleicht... Keanu Reeves oder... hm, Ben Kowalewicz?“ „Hm“, ich legte nachdenklich den Kopf schief, dann nickte ich: „Ja schon, aber die sind so alt...“ Dann lachte er wieder. Er lachte schön. Es war aufrichtig und unverhüllt, man hörte, dass er es ehrlich meinte. „Natürlich, die sind alt, aber“ er schielte kurz zum Sekretariat, Herr Branner war nicht mehr da „da kennen wir ja noch jemanden, nicht wahr?“ Ich lächelte beschämt und meine Wangen färbten sich rot. Man sagte ja „da stimmt die Chemie“, wenn man sich außerordentlich gut mit jemanden verstand. Joe und ich waren ein Traumpaar. Meine Freunde nahmen ihn ohne Widersprüche in unserem Kreis auf, wir lachten viel, redeten viel und wurden allmählich richtig gute Freunde. Dass er homosexuell veranlagt war allerdings sollte ich für mich behalten. Wieso genau verstand ich nicht, er hatte mir nur gesagt, dass das an seiner alten Schule weniger gut aufgefasst wurde. Er hatte zwar nie beabsichtigt, sich zu outen, aber irgendwie hatte es irgendwer erfahren und schon bald war er monatelang das Thema an der Schule gewesen. Das hatte ihn gestört und er hatte beschlossen, irgendwie auf zupassen, dass das nicht noch mal passierte. „Jeder hier weiß davon, dass ich schwul bin und niemand tratscht.“ versuchte ich, seine Überzeugung umzuwerfen, doch er schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Das glaubst du.“ Er deutete auf eine Mädchengruppe, die etwas entfernt rechts von uns auf den Tischtennisplatten saß und sich sonnte „deren Lieblingstratschthema bist du. Und die da“ er deutete auf eine Gruppe Sechstklässler, die verdächtig zu mir und Joe rüber starrten „ekeln sich schon eine Weile vor uns.“ Ich verdrehte genervt die Augen „Ja und? Dann ekeln die sich eben, ist nicht meine Sache.“ ich zuckte die Schultern, rutschte von der Mauer, die den oberen Schulhof vom unteren trennte und griff nach den Riemen meines Rucksacks „komm, die Pause fängt gleich an.“ Und wir gingen zum Schulgebäude, um die anderen abzufangen. Ich hatte mich dagegen entschieden, den Kunstkurs zu wechseln, denn nicht nur, dass ich mit Joe zusammen dort saß, entfielen unsere Stunden auch noch außergewöhnlich oft, sodass ich fast jeden Montag später zur Schule musste; oder Frau Neumann entließ uns sehr viel eher in die Pause als es vielleicht angebracht war. Als ich die Stufen zur Tür hoch lief, achtete ich wie gewohnt nicht direkt darauf, wo ich hin ging... oder vielleicht viel direkter, als es gut war; so besah ich mir meine Schuhe – nebenbei erwähnt wahnsinnig schicke Treter – und wie sie die Treppe hoch stiegen, als zu sehen, ob mir jemand entgegen kam. Ich kann mich nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht gewesen war, aber als ich die vierte Stufe erreicht hatte, spürte ich einen harten Schlag an meiner Schulter und ich ließ wegen des Rucks den Riemen des Rucksacks los und meine Tasche fiel auf die Kante der Treppenstiege und purzelte von da runter zum Boden. „Boah man ey du Vollidiot pass doch auf wo du hinrennst...“, fluchte ich laut, als ich dem schwarzen Rucksack hinterher sah, dann schaute ich auf und spürte, wie das Blut gleichzeitig aus meinem Gesicht entwich und hinein schoss, ich musste abwechselnd bleich und rot geworden sein. „Ähm“, stotterte ich und hob entschuldigend meine Arme. Natürlich, und das war klar, musste es Herr Branner gewesen sein, den ich umgelaufen hatte. Er lächelte, er lächelte so liebevoll und besonnen, dass sich die Welt augenblicklich aufhörte zu drehen, der Wind still stehen blieb, mein Herz nicht mehr schlug und es nur noch dieses Lächeln und mich gab. Er ging schnell die Treppe runter, griff nach meinem Rucksack und reichte ihn mir „Tschuldigung, Tim, mir tuts Leid, war meine Schuld.“ „Äh...“ mit zitternden Fingern nahm ich den Riemen meiner Tasche. Ich sah in diese blauen Augen, die genau mich fixierten. Die meine Augen betrachteten, über meine Wangen fuhren, kurz an meinen Lippen klebten, dann wieder meine Augen ansahen. Ich schluckte hart, packte den Rucksack richtig und nickte dankend. Er schmunzelte kokett, wandte sich dann ab und ging über den Schulhof zum anderen Gebäude runter. Herr Branner. Er hatte mich persönlich angesprochen. Hatte mich berührt. Meine Schulter fühlte sich ganz kribbelig an. Er hatte meinen Rucksack genommen. Erschrocken sah ich den an, dann lächelte ich verliebt, seufzte glücklich auf und wusste, dass ich jetzt ohne Reue sterben könnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)