Scream in the sphere of destiny von Ceydrael (Wage den Schritt hinaus) ================================================================================ Kapitel 14: Schmerzliches Wiedersehen ------------------------------------- Ich hatte viel Zeit in diesen Tagen, die den ersten Schnee schon vermuten ließen, mir über meine Gefühle zumindest ansatzweise klar zu werden. Der Herbst verabschiedete sich mit schnellen Schritten und machte kühlen Nächten Platz, die Bäume standen kahl und trostlos; ragten wie warnende Finger in den sturmgrauen Himmel. Lisa hatte meine Veränderung, meine anhaltend trübe Stimmung, das trostlose Wesen hinter dem gestellten Lachen, längst erkannt. Ich war nun schon so lang mit ihr verheiratet, dass ich ihr in dieser Hinsicht wenig vormachen konnte. Doch den wahren Grund für meinen Wandel hätte sie wohl nicht mal im Traum vermutet. Sie dachte wohl immer noch an einen schlechten oder schwierigen Fall bei der Arbeit. Allein Colin schaffte es mit seinem fröhlichen Gekicher und dieser herzlichen Kleinkinderart mein Herz ein wenig aufzutauen. Doch die feste Frostschicht, die sich darum gebildet zu haben schien, wollte nicht wirklich weichen. Nicht, wenn ich jeden Tag in Sorge und Sehnsucht nach Kaito lebte. Ich war mir bewusst geworden, dass mir dieser Junge unheimlich viel bedeutete. Ich fühlte mich ihm nicht nur als Beschützer verpflichtet, denn wenn dies so gewesen wäre, hätte ich ihn in jener Nacht ohne Mühe abweisen können. Ich hatte immer wieder über diese Stunden nachgedacht, um schlussendlich nur wieder auf ein und denselben Schluss zu kommen. Ich fühlte mich von Kaito angezogen. Von seinem Wesen. Von seinem Körper. Noch würde ich diesen Gefühlen nicht mehr als eine Art sexuelle Besessenheit zugestehen, im höchsten Fall vielleicht eine Art Besitzgier, die der hübsche Japaner bei mir ausgelöst hatte. Eigentlich drehte ich mich im Kreis, denn immer wieder wurde mir bewusst, wie sehr mir Kaito fehlte. Also fasste ich einen Entschluss. Ich musste ihn finden. Irgendwie. Wenn er mich dann abwies oder beschimpfen würde, so wäre alles leichter zu ertragen und ich könnte vielleicht einen Schlussstrich unter die ganze Sache ziehen. Doch die Ungewissheit machte mich krank. Eigentlich stand der geplante Kurzurlaub für mich und meine Familie schon an, den ich jedes Jahr für uns auf die Beine stellte. Ein verlängertes Wochenende irgendwo in der Wildnis, fern ab von Straßen und Geschäften. Meine Frau war bereits dabei, zu packen, als ich leise ins Schlafzimmer trat und ihr eine Weile schweigend bei der Arbeit zusah. Irgendwann wand sie sich um und sah mich erschrocken an, dann lachte sie. »Verflucht, Alan. Du hast mich erschreckt.« Sie stopfte weiter Sachen in den schon übervollen Koffer. »Du solltest auch langsam packen, Schatz.« »Ich komme nicht mit.« Lisa verharrte in ihrer Bewegung und hob eine Braue, nachdenklich, als hätte sie meine Worte nicht verstanden. »Was?« Ich trat neben sie und griff nach ihrer Hand. »Ich komme nicht mit.« Sie schien die Bedeutung dieser Worte endlich zu realisieren und entzog mir ihre Hand, nun war ihr Blick misstrauisch. »Warum nicht?« »Lisa. Ich wäre keine gute Begleitung. Fahr allein mit den Kindern. Ruht euch aus. Gönnt euch etwas. Ich muss hier bleiben. Ich muss einige Dinge regeln.« versuchte ich sie in einem halbherzigen Versuch davon zu überzeugen, dass meine Entscheidung die Richtige war. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass das kaum klappen konnte. Nun, Alan, die Naivität scheinst du dir in letzter Zeit gut angewöhnt zu haben. Lisa reiste schlussendlich allein mit den Kindern. Doch sie hatte mir vorher unmissverständlich klar gemacht, dass sie mir das nicht so einfach verzeihen würde. Und die Kinder mit Sicherheit auch nicht. Colin weinte herzerweichend beim Abschied; der Kleine konnte einfach nicht verstehen, warum sein Papa nicht mitkam. Bei den Tränen meines Sohnes schwankte ich doch in meinem Entschluss. Ist es richtig, was ich tue? Nein, ist es nicht, Alan. Aber du hast eh nun schon so viel verbockt, da kommt es darauf auch nicht mehr an. Ich sah dem Taxi hinterher, mit dem meine Familie davonfuhr und wusste nun untrüglich, dass ich einen Schritt über die Schwelle getan hatte; über jene Schwelle, die mich zu jemand anderem machen würde. Sofort, als das gelbe Taxi in der Ferne verschwunden war, lief ich eilig ins Haus zurück und kramte die Telefonnummer von Henry heraus. Mein alter Freund von der Polizeistation hatte mir schon einmal geholfen, er musste es nun erneut tun. Auch wenn es mich unter gegebenen Umständen ein paar Geldscheine kosten würde. Ich benötigte eine Adresse. Sofort. Ich erklärte Henry knapp den Sachverhalt, wobei ich natürlich einige ziemlich pikante Details Kaito betreffend ausließ. Ich gab ihm Kaito’s Namen und den Namen seiner Schule. Dann wartete ich ungeduldig ein paar Stunden, um schließlich die Adresse von Kaito’s Mutter in der Hand zu halten. Das war der einzige Anhaltspunkt, den ich im Moment hatte. Die einzige Möglichkeit, Kaito noch zu finden. Mein Herz hämmerte jetzt wie wild in meiner Brust und es war nicht nur Nervosität und Aufregung in jenem Augenblick, was mein Innerstes in Aufruhr versetzte. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich konnte es weder vertreiben, noch es ignorieren. Irgendetwas stimmte nicht. Alan, das Einzige, was nicht stimmt, das bist du. Du und deine vertrackte Denkweise. Ich schnappte meine Jacke und fuhr in Eile in die Stadt, den Zettel mit der Adresse nervös in der Hand. Das seltsame Bauchgefühl wollte immer noch nicht verschwinden. Mein Navi lenkte mich in eine Gegend, wieder angereichert mit hohen Wohnblöcken, in der Drogen und Sex in dunklen Hauseingängen verkauft wurden und man Kinder ungern allein auf die Straße ließ. Hier sollte Kaito wohnen? Hier lebte seine Familie? Nun, Alan, nicht jeder lebt so wohlbehütet wie du. Denk mal darüber nach. Vor dem Block, der mein Ziel sein sollte, stieg ich aus und zündete mir sofort eine Zigarette an. Lange starrte ich zu den vielen Fenstern auf, während ich mir in Gedanken eine plausible Geschichte bereitlegte, für den Fall, dass Kaito nicht hier war. Vielleicht wussten seine Eltern jedoch, wo er sich aufhielt. Ich schnipste die Zigarette von mir und trat meinen Weg an. Mit einem nun wahrlich schlechten Gefühl in mir erreichte ich die schäbige Wohnungstür und klingelte. Bitte lieber Gott, lass ihn hier sein. Doch meine Hoffnungen wurden jäh zerstört, als eine kleine, dunkelhaarige Frau öffnete und mit großen, fast besorgten Augen zu mir aufblickte. Die feinen, exotischen Züge waren deutlich sichtbar, die sie als Japanerin kennzeichneten. Einst war sie wohl recht hübsch gewesen, doch jetzt wirkte sie alt und verlebt. Ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln. »Frau Yamada?« Die Frau sah fast erschrocken über ihre Schulter, dann nickte sie hastig. Ihr Verhalten schien seltsam. Sie wirkte fast gehetzt und ich sah Angst in den großen, dunklen Augen, die mich so sehr an Kaito’s erinnerten. »Frau Yamada, ich suche Ihren Sohn Kaito. Ist er denn zuhause? Ich würde ihn gern sprechen.« fragte ich ruhig und freundlich, in leisem Tonfall. Die kleine Frau zuckte unmerklich zusammen, dann schüttelte sie rasch den Kopf. »Ist nicht da.« Schon wollte sie mir die Tür vor der Nase wieder zudrücken. Dass sie log, konnte ich ihr überdeutlich ansehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Rasch schob ich meinen Fuß zwischen die Tür. »Warten Sie bitte kurz. Es ist wirklich wichtig.« Nun wirkte die Frau fast panisch und sah immer wieder über ihre Schulter. Ich quittierte ihr Verhalten mit einem Stirnrunzeln. Was hatte sie denn nur? »Ayaka!? Wer ist denn an der Tür?« vernahm ich eine raue, männliche Stimme aus dem Hintergrund und schwere Schritte wurden laut. Ein hochgewachsener Mann trat aus einer Tür, fixierte mich kurz, dann kam er rasch näher. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Das ergraute Haar war militärisch kurz geschnitten, der kräftige Körper und das Auftreten mit hoch erhobenem Haupt, während er mich abschätzend mit einer Zigarette im Mundwinkel musterte, ließen auf einen Ex-Soldaten schließen. Die silberne Erkennungsmarke, die er am Hals trug, bestätigte meinen Verdacht. Klasse , Alan. Du weißt ja, wie diese Kerle drauf sind. Der wird dich in der Luft auseinandernehmen. »Was wollen Sie?« raunzte mich der Kerl an, schob sich an der kleinen Frau vorbei und musterte mich nun mit hochgezogener Braue von oben bis unten recht gründlich. Dann nahm er einen Schluck aus der Bierflasche, die er in der Hand trug. Nun, in seinem Zustand würde er mich vielleicht nicht auseinandernehmen. Der stank schlimmer als eine ganze Brauerei. Okay, Alan. Nun wird es Zeit für eine logische Erklärung. Mir fiel Elenes Verdacht wieder ein. Das dieser Kerl für die Verletzungen Kaito’s womöglich verantwortlich war. Ich würde es ihm genauso zutrauen. Ich musste die Situation mit Feingefühl anpacken, wenn ich etwas über Kaito’s Aufenthaltsort herausfinden wollte. »Er sucht Kaito.« wisperte die zierliche Frau vorsichtig. Sofort wand sich der bullige Kerl um und hob drohend die Hand. »Hab ich dich gefragt? Hä?« Kaito´s Mutter schüttelte hastig den Kopf und wich ein paar Schritte zurück. In mir kochte es bereits. Ich hasste solche Typen. Es war allein die Tatsache, dass ich Kaito finden wollte, die mich ruhig bleiben ließ. Auch wenn ich mich dafür verabscheute, ich würde wohl auf die Art dieses Ex-Soldaten eingehen müssen, um an meine Informationen zu kommen. Wenn man ihr Verhalten gut hieß, so waren diese Kerle fast geschmeichelt und redeten bereitwillig. Ich hatte das schon oft erlebt. »Frauen sind manchmal so unbedacht in ihren Handlungen.« sprach ich kopfschüttelnd. Der grauhaarige Kerl sah wieder zu mir und seine Züge entspannten sich ein wenig. » Sie sagen es. Nun, wie kann ich Ihnen helfen, Mister…?« Er sah mich fragend an. Ich hob kurz meine Visitenkarte vor seine Augen. »Harpor.« Ich war mir ziemlich sicher, dass er sich in seinem angetrunkenen Zustand eh nicht mehr an meinen Namen erinnern würde. »Ich bin der Vater von einem von Kaito’s Mitschülern. Ich würde ihren Sohn gern einmal sprechen.« »Hat der kleine Pisser wieder was angestellt?« Das er damit ja nur Kaito meinen konnte, rüttelte wieder bedrohlich an der Mauer meiner Selbstbeherrschung. »Das will ich herausfinden. Mein Sohn behauptet, ihm wäre das Handy entwendet wurden. Eventuell von ihrem Sohn. Ich wollte Kaito nun selbst danach befragen.« Der bullige Kerl vor mir fluchte und packte die Bierflasche fester, um sie im nächsten Moment hinter sich in die Wohnung zu schleudern. Gut, mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Ebenso wenig mit dem, was in den nächsten Minuten geschah. Er baute sich vor seiner Frau auf, außer sich vor Zorn. Die zierliche Japanerin drückte sich mit angstgeweiteten Augen an die Wand. Mich schienen die beiden völlig vergessen zu haben. »Scheiße, Ayaka. Was hast du deinem Gör eigentlich beigebracht, hä? Nicht nur, dass er Schwänze lutscht und sich nur mit Alkohol und Drogen vollstopft, nun klaut er auch noch?! Muss ich ihm erst sein dämliches Hirn aus dem Leib prügeln, bevor er kapiert, wie das Leben läuft?!« Er packte Kaito’s Mutter am Kragen und schüttelte sie. Okay, nun war meine Selbstbeherrschung dahin. Das ging zu weit. Ich ballte die Fäuste und tat einen Schritt in die Wohnung, allein die Stimme der Vernunft in meinem Kopf hielt mich davon ab, dem Typen sofort eine zu verpassen. Alan, misch Dich nicht in Dinge, die Dich nichts angehen. Aber so behandelte man keine Frau. So sprach man nicht von Kaito. Niemand sollte so über diesen einzigartigen Jungen sprechen. Doch bevor ich zwischen die beiden gehen konnte, stieß der tobende Kerl die kleine Japanerin von sich und stapfte mit bedrohlicher Miene auf eine Tür zu, die bisher verschlossen gewesen war. Fahrig fingerte er einen Schlüssel hervor und stieß diese Tür auf. Was dann geschah, nahm ich nur noch durch einen Nebel war, der mein Sichtfeld einnahm und logisches Denken unmöglich machte. Aus dem Zimmer, in dem der alternde Soldat verschwunden war, erklang ein ersticktes Wimmern. Dann das Geräusch eines Schlages. Und noch eines. Und noch eines. Gefolgt von gequältem Stöhnen. »Was hast du nun schon wieder angestellt, Mistratte, hm?« brüllte der aufgebrachte Mann. Als ich realisierte, was in diesem Moment in dem Zimmer vor sich gehen musste, schaltete mein Verstand ganz ab. Ich sah sprichwörtlich rot. Mit ein paar Schritten war ich in der Wohnung und stand in der Schwelle zu dem Raum, in dem der grauhaarige Kerl über ein Bündel am Boden gebeugt stand und völlig außer sich auf den zierlichen Körper unter sich einschlug. Im Hintergrund erklang das Weinen der Frau, die an der Wand zu Boden gesackt war und sich die Ohren zuhielt. Wie in Zeitlupe nahm ich die Bilder dieses Raumes, was hier gerade geschah, in mich auf. Ich sah die zerbrochene Gitarre Kaito’s, die lieblos in einer Ecke lag. Ich sah eine alte Matratze, die man wohl kaum noch als Bett bezeichnen wollte oder konnte. Ich sah ein paar Tüten mit undefinierbaren, farbigen Pillen darin. Ich sah die Kette an dem Heizungsrohr, die den Jungen in dem Zimmer gefangen hielt. Und ich sah das Blut, was plötzlich überall zu sein schien. Kaito´s Blut. Kaito. Niemand darf dir wehtun! Irgendwo in meinem Kopf legte sich ein Schalter um, der bisher mein Denken gesteuert hatte. Ich bestand in diesem Moment nur noch aus Sorge und grenzenloser Wut. Ich stürzte mich auf den Ex-Soldaten und schlug ihm meine Faust in die Seite. Er taumelte völlig verblüfft zurück, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Er war kräftig, doch sein Hirn vom Alkohol benebelt, was mir einen großen Vorteil verlieh. Er sah mich an, als würde er nicht verstehen, was ich von ihm wollte. »Was soll das? Sind Sie irre?« fuhr er mich an. Ich ließ ihm keine Zeit, über seine Frage nachzudenken. Ich stürzte mich völlig außer mir auf den Mann, hämmerte meine Fäuste in sein Gesicht und in seinen Leib, bis er irgendwann stöhnend zusammensackte. Doch selbst dann hörte ich nicht auf. Ich trat und schlug völlig von Sinnen auf diesen grauhaarigen Kerl, der es gewagt hatte, Kaito anzufassen. Der es gewagt hatte, meinen Kaito zu berühren. Ihm wehzutun. Ich bestand in diesen wenigen Augenblicken nur noch aus Instinkt. Allein das Gefühl, dass beschützen zu müssen, was mir wichtig war, trieb mich an und verlieh mir Kraft. Irgendwann ließ ich schwer atmend von dem Mann ab, denn mein Verstand erinnerte mich daran, dass dort jemand war, der meiner Hilfe bedurfte. Ich konnte mich nicht in Rachegelüsten verlieren. Kaito brauchte mich. Ich fiel neben Kaito auf die Knie und streckte die Hände nach jenem aus. Meine Kehle schnürte sich zu und mein Herz setzte aus, denn für einen Moment meinte ich, dass er nicht mehr atmete. »Kaito…!?« Ich erkannte meine eigene Stimme nicht mehr. Sie war zittrig und kraftlos. Der Anblick des Jungen war zu viel für mich. Die eiskalte Hand der Angst griff nach meinem Herz. Mit dem Verlust dieses Jungen würde ich mich nicht abfinden können. Kaito war in einer furchtbaren Verfassung. Sein Gesicht war grün und blau geschlagen, seine Lippen aufgeplatzt. Sein Körper lag zusammengerollt und verkrampft am Boden, durch einige Löcher seiner Kleidung konnte ich furchtbare Wunden sehen. Er war völlig blass und dünn, dass Haar fiel ihm wirr ins Gesicht. Wie lang hatte er hier schon ausharren müssen? Wie oft hatte man ihn geschlagen? Ich zerrte an der Kette, die das Fußgelenk des Jungen an das Heizungsrohr gefesselt hatte. Vergeblich. Ein Schloss hielt alles an Ort und Stelle. Ich robbte keuchend zu dem stöhnenden Ex-Soldaten zurück, packte ihn am Kragen und schlug erneut in sein blutendes Gesicht. Sein Wimmern verschaffte mir echte Genugtuung. »Wo ist der Schlüssel für das Schloss?« brüllte ich ihn an, völlig verzweifelt und außer mir. Der Mann fingerte sofort zittrig aus seiner Hosentasche einen kleinen Schlüssel, bettelte und wimmerte irgendwas vor sich hin. Ich war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen. Ich hatte Schläge und alle Arten von Gewalt immer verabscheut. Doch in diesem Moment, als man vor meinen Augen diesen Jungen, der mir so wichtig und teuer war, verletzt hatte, war irgendwo tief in mir ein Damm gebrochen. Ich wollte diesem Mann, der meinem Kaito das angetan hatte, genau solche Schmerzen zufügen. Ich wollte ihn leiden sehen. Am liebsten hätte ich ihm Nägel in die Augen gebohrt. Ihm jedes Glied einzeln gebrochen. In einem noch klaren Teil meines Kopfes war ich von meinen eigenen Gedanken angewidert. Doch dieser Teil verstummte rasch unter dem Tosen meiner Wut. Ich schnappte den Schlüssel aus seiner Hand und stieß seinen Kopf hart auf den Boden zurück. Ein dumpfer Laut, dann rollte sich der Kerl stöhnend zusammen. Rasch war ich wieder auf den Beinen. Ich hob meinen Fuß und trat mit Wucht auf die Hand des Mannes, die neben seinem Körper lag. Das leise Knacken, das das Brechen einiger Gelenke andeutete, war Musik in meinen Ohren. Der Kerl schrie wie am Spieß und drückte die geschundenen Finger an seine Brust. Mit völliger Befriedigung registrierte ich, dass er sich in die Hosen gemacht hatte. »Das ist für Kaito.« raunte ich eiskalt. Alan, es reicht langsam. Bedenke, wer du bist! Was du hier gerade tust! Du machst dich strafbar. Finde langsam wieder zu dir zurück. Das bist doch nicht du. Nein, das war nicht ich. Das hier war ein Mann, dem man etwas Liebes und Teures fast genommen hatte. Ich eilte zu Kaito zurück und löste ihn von seiner Fessel. Der Junge schlug für einen Moment stöhnend die flatternden Lider auf, seine extrem geweiteten Pupillen versuchten mich zu fixieren. »Al…an…?« Diese gebrochene Stimme erinnerte kaum mehr an diese süße Singstimme, die mir den Verstand geraubt hatte. Ungläubigkeit und Verwirrung schwangen darin mit. Ich musste die Augen für einen Moment schließen und mich selbst zur Ruhe zwingen. Ich wollte schreien. Ich wollte weinen. Ich wollte irgendetwas zerschlagen. Doch all das hätte Kaito wenig geholfen. Ich strich mit zitternden Händen über das geschwollene Gesicht des Jungen, so vorsichtig wie möglich, um ihn nicht noch mehr zu verletzen. Doch ich wollte ihm das Gefühl geben, dass ich da war. Das dieser Alptraum vorüber war. »Ganz ruhig. Ich hol dich hier raus, alles wird gut. Das verspreche ich dir, Kaito.« flüsterte ich leise und schob meine Hände unter den so zerbrechlich wirkenden Körper. Ich hatte das Gefühl, dass Kaito nicht mehr als eine Feder wog, als ich ihn aufhob und aus dem Raum trug. Ich sah mich nicht mehr nach seinem Stiefvater um. Der weinenden Frau auf dem Boden schenkte ich nur einen verachtenden Blick. Fluchtartig verließ ich die Wohnung mit Kaito auf den Armen. Der junge Japaner wimmerte bei jedem Schritt und rollte sich zusammen, drückte sich hilfesuchend an meine Brust und krallte die schlanken Hände in mein Hemd. Ich verkrampfte innerlich beim dem Anblick des Jungen. Ich hätte ihm diesen Schmerz so gern erspart. Ich hätte seine Qual mit Freuden auf mich genommen. Doch nichts davon hatte ich vermocht. »Kaito. Ich bring dich jetzt in ein Krankenhaus, hörst du?« Ich war schon an meinem Auto angelangt, öffnete die Beifahrertür und setzte den Jungen so behutsam wie möglich in den Sitz. Sofort griff eine zitternde Hand nach meiner, die nicht minder bebte. »K..kein…Kra…nken…haus…« keuchte Kaito und sah mich flehend an, ja, fast panisch. Ich nahm seine Hand in meine und blickte ihn eindringlich an. »Doch Kaito. Du brauchst Hilfe. Professionelle Hilfe.« »Bleib…b..ei…mir…« wisperte der Junge, seine dunklen Augen schienen sich förmlich an mir festzusaugen. »Lass…mich…n…icht…all…ein…« Himmel, warum fühlte ich mich in jenem Moment wie der allerletzte Arsch? Vielleicht, weil er erst durch dich in diese Lage gekommen ist, Alan?! Wenn du in jener Nacht nicht so feige geflüchtet wärst, vielleicht wäre Kaito das alles erspart geblieben. Du hast ihn im Stich gelassen, Alan. »Ich bleibe bei dir. Ich schwöre es. Ich lass dich nie mehr allein.« Ich beugte mich vor und bevor ich realisiert hatte, was ich tat, strich ich mit meinen Lippen über die Blutigen des jungen Japaners. Es war ein Versprechen. Ein Schwur. Mit Blut besiegelt. Alan, was redest du da für Blödsinn? Hast du einmal über die Tragweite dieser Worte nachgedacht? Was diese Worte für dich und dein Leben, für deine Familie bedeuten? Ja, zur Hölle, hatte ich! Und ich würde die Konsequenzen in Kauf nehmen. Kaito´s Lippen verzogen sich dem Hauch eines Lächelns, dann sackte er in dem Sitz zurück und wurde ohnmächtig. Ich glaube, so schnell und so rücksichtslos wie an jenem Tag war ich noch nie durch die Stadt gerast. Ich achtete auf keine Ampel, auf kein Warnschild. Ich überfuhr jede Kreuzung, ohne auf das Hupen der anderen Autos zu achten. Ich überschritt jedes Tempolimit. Allein der Gedanke, Kaito zu retten, war mein Antrieb. Ich hatte es ihm geschworen und ich würde meinen Schwur nicht brechen. Nie wieder. Denn dieser Junge gehörte zu mir. Unwiderruflich. Er war mein Schicksal. Das war mir in jenem Moment klar geworden, als ich ihn so blutend und völlig zerbrochen am Boden gesehen hatte. Mein Herz hatte aufgeschrien und meine Seele war in Tränen ausgebrochen. Ich würde Kaito nie mehr hergeben. Auch wenn meine Gefühle für diesen Jungen völlig irrational und falsch waren, ich konnte sie nicht mehr leugnen. War das etwa Liebe, was ich empfand? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)