Scream in the sphere of destiny von Ceydrael (Wage den Schritt hinaus) ================================================================================ Kapitel 8: Neue Rätsel ---------------------- Ich wusste am Ende wirklich nicht mehr, was ich in jener Zeit alles dachte, die wir ziellos durch die Stadt unterwegs waren. Später erschien es mir mehr wie ein Traum, wie etwas Unwirkliches, was ich nur am Rande meines Selbst wahrgenommen hatte. Die Zeit schien in einer endlosen Schleife im Nichts zu hängen; unmöglich konnte ich sagen, wie spät es war oder wie lang wir uns schon durch die Straßen schlängelten. Kaito sprach kein Wort mehr, allein sein leiser Atem begleitete mich neben dem immerfort währendem Trommeln des Regens und den Geräuschen der Stadt. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten mich ab und an durch die regennasse Windschutzscheibe; das Gewitter hatte den Tag verdunkelt. Eine Frage, eine einzige Frage war es, die hartnäckig durch meinen Kopf schwebte und mir immer wieder vor Augen aufblitzte wie die vielen Leuchtreklamen, an denen wir vorbeifuhren. Was tue ich hier? Ja, Alan, was tust du hier? Ergibt das alles einen Sinn? Wohl kaum. Doch ich konnte nicht leugnen, dass ich die Nähe, die bloße Anwesenheit des Jungen neben mir mehr als genoss. Er hatte etwas Beruhigendes an sich, etwas, was mein Innerstes wieder in Gleichklang mit mir selbst brachte. Viele unterschiedliche Gefühle wechselten sich auf jener Autofahrt in mir ab und ein jedes versuchte für sich die Oberhand zu gewinnen. Aufregung. Neugier. Besorgnis. Sogar Furcht. Furcht davor, wohin diese Reise noch gehen würde. Ich fragte den Jungen die ganze Zeit über nicht, was los war. Doch das etwas nicht stimmte, war mehr als offensichtlich. Schweigend fuhren wir dahin. Kaito sah aus seinem Fenster und irgendwann hatte ich sogar das Gefühl, dass er leise weinte. Genau konnte ich es nicht sagen, da der Regen laut rauschte und auch die Heizung des Wagens vieles übertönte. Flüchtig sah ich zu ihm hinüber und war mir fast sicher, dass nun nicht mehr das Regenwasser auf seinen Wangen glänzte. Wir waren eh wieder fast trocken. Mein Herz krampfte schmerzhaft zusammen und ich konzentrierte den Blick wieder nach vorn. Ich wollte ihn nicht mit sinnlosen Fragen nerven. Außerdem war ich mir fast sicher, dass dieser Junge kaum jemand war, der gern sein Herz offenbarte. Wenn er dies tat, dann tat er es freiwillig und nicht weil ihn irgendjemand dazu nötigte. Alan, seid wann besitzt du solche Menschenkenntnis? Kannst du die Eigenarten dieses Jungen denn überhaupt schon kennen? Nach dieser kurzen Zeit? Die Antwort lautete Nein. Aber ich konnte fühlen, was er wahrscheinlich brauchte. Und im Moment war das Ruhe. Einfach Ruhe und Zeit für sich. Und die wollte ich ihm geben, indem ich weiter den Wagen ziellos über die regennassen Straßen lenkte. Ich wollte ihm schlicht, vielleicht auch aus egoistischen Gründen, das Gefühl geben, dass er hier sicher war. Das er sich hier fallen lassen konnte. Oh, Alan. Alan, der wahrhaft heilige Wohltäter. Er hilft den Armen und Schwachen. Ist das nicht niedlich? Wann, zur Hölle, hast du die Nächstenliebe für dich entdeckt, Alan? Keine Ahnung. Vielleicht war allein dieser Junge der Auslöser dafür, dieser Japaner, der mehr an meinem Selbst rüttelte als jemand zuvor. Irgendwann, ich weiß nicht mehr, nach wie vielen Stunden und abertausenden Regentropfen auf meiner Windschutzscheibe, nahm Kaito doch seine Sonnenbrille ab. Sein Gesicht lag größtenteils im Schatten, da es doch recht dunkel war, außerdem hatte er den Blick weiter aus dem Fenster gerichtet. Die Brille hielt er verkrampft in der Hand. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass er sie nur für mich abgenommen hatte. Das er wollte, dass ich es sah. Wieder blickte ich zuerst nur flüchtig hinüber, um sicher zu gehen, dass es ihm noch gut ging. Dass sein Gesicht nicht mehr verhüllt war, bemerkte ich sofort. Ebenso den riesigen, schillernden Bluterguss neben seinem linken Auge, der sich fast wie eine skurrile Maske dort ausbreitete und die blasse Haut des Jungen zu verhöhnen schien. Ich zog zischend die Luft ein und meine Hände krampften sich ruckartig um das Steuer, sodass ich für einen Moment fürchtete, ich könnte die Kontrolle über den Wagen verlieren. Gezwungenermaßen sah ich wieder auf die Straße, wobei mein Blick wie von selbst immer wieder in eine ganz andere Richtung fliegen wollte. »Was ist passiert, Kaito?« fragte ich mit so rauer und kalter Stimme, die mich selbst fast schreckhaft zusammenzucken ließ. Sofort spürte ich einen kühlen Klumpen im Magen, der sich mit hässlichen Tentakelfingern zu entfalten schien und nach meinem Herz und meiner Lunge griff. Alan, jetzt reiß dich mal am Riemen! Du bist nicht sein Vater. Nicht mal ein Verwandter. Wohl nicht mal ein Freund. Diese Sorge steht dir nicht zu. Kaito antwortete nicht und ich musste mich wahrlich beherrschen, ihn nicht anzuschreien. Wieder sah ich nur kurz zu ihm, er hatte sich mir nun zugewandt und lächelte leicht, ein resigniertes, melancholisches Lächeln, was sich mir ins Hirn fraß. »Wie ist das passiert?« versuchte ich es erneut, diesmal in ruhigerem Tonfall. Er brauchte gar nicht zu versuchen, mir eine Geschichte von Stürzen oder sonstigem aufzutischen. Ich kannte solche Verletzungen zur Genüge. Wie oft hatte ich geschlagene Ehefrauen vor mir sitzen gehabt mit denselben Wunden. Nur waren jene verschreckt und ängstlich gewesen, allein in Kaito´s Augen sah ich Kampfgeist und das Raubtier wie immer. Immer noch keine Antwort. »Scheiße, wer hat dich geschlagen?« Ich war schon drauf und dran den Wagen an die Seite zu lenken und anzuhalten, doch Kaito hielt mich auf. »Fahr weiter. Bitte. Fahr weiter.« Ich rang kurz mit mir, kam dann seiner Bitte aber doch nach. Ein Wort aus seinem Mund und ich mutierte wieder zur willenlosen Marionette. Fantastisch. Alan, du Weichei. Ja, das war ich wirklich. Ich fuhr weiter, verkrampft und angespannt. Langsam ließ der Regen nach und die Sicht wurde besser. Ich verstand es nicht. Warum hatte er mir dieses Geheimnis offenbart, wenn er eh nicht darüber reden wollte? Wollte er nur meine Reaktion testen? Wollte er sehen, ob es mich berührte? Oh ja, das tat es. Mit Sicherheit. Ich fühlte den gleichen Hass für diesen namenlosen Unbekannten, der Kaito das angetan hatte, wie ich für jemanden gefühlt hätte, der meiner Frau oder meinen Kindern so nah gekommen wäre. »Wer hat dich angefasst? Ich könnte ihn zur Rechenschaft ziehen.« versuchte ich es diesmal auf der Schiene der Vernunft und Logik. Mit noch mäßigerem Erfolg. Der Junge hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt und starrte schon wieder geradeaus, als wäre nichts passiert. Ich wurde aus ihm nicht schlau. Nicht im Geringsten. Und vielleicht war das genau der Grund, warum ich nicht von ihm los kam. Er war ein Geheimnis, ein Rätsel, was ich ergründen und lüften musste. Müssen, Alan? Ja, ich musste. Denn sonst würde ich nie Ruhe finden. Dessen war ich sicher. »Fährst du mich zum Tierheim?« fragte er leise und gefasst, normal wie immer, als ob nichts gewesen wäre. Ich blinzelte verwirrt und holte tief Luft. »Wirst du mir dann meine Frage beantworten?« »Vielleicht.« Alan, du setzt jetzt nicht den Blinker und fährst tatsächlich durch die halbe Stadt noch zum Tierheim, nur um vielleicht eine Antwort zu bekommen? Doch, genau das tat ich. Wäre ich ein Fisch gewesen, so hätte der junge Japaner mit Sicherheit den Köter besessen, um mich zu fangen. Ich kam seinem Wunsch ohne zu Zögern nach, einfach in der Hoffnung, mehr über diesen Jungen erfahren zu können. Nach einigen Umwegen erreichten wir das städtische Tierheim; ich parkte davor und stellte den Motor ab. Kaito war so schnell aus dem Wagen, dass ich ihn kaum daran hindern konnte. Verflucht. Ich packte meine inzwischen wieder trockene Jacke und beeilte mich, ihm zu folgen, wollte ihn auf keinen Fall allein lassen. Der junge Japaner war schon durch die Eingangstür verschwunden; aus dem Gebäude und den umliegenden freiem Gelände klang Gebell und das Miauen von Katzen. Ich verzog kurz das Gesicht. Eigentlich hielt ich nicht viel von Tieren. In meinen Augen waren sie schmutzig. Stanken. Und fraßen zu viel. Auch ich öffnete nun die Tür, die ins Innere führte. Eine ältere, rundliche Dame hatte Kaito schon herzlich in die Arme geschlossen und wuschelte ihm durch das dunkle Haar. Zu meiner Verwunderung ließ er es ohne Murren mit sich geschehen, sogar ein zaghaftes, fröhliches Lächeln brachte er zustande. Was ist, Alan? Eifersüchtig? Wohl kaum. »Kaito. Wie schön, dass du dich mal wieder blicken lässt. Du warst schon lang nicht mehr da.« Ein wenig vorwurfsvoll sah die rüstige Dame den Jungen an und drückte ihn ein wenig von sich, um ihn prüfend zu mustern. Als sie die Sonnenbrille sah, verschwand ihre freudige Miene schlagartig und wurde von Besorgnis ersetzt. Ein deutliches Zeichen, dass sie das nicht zum ersten Mal sah. Ich räusperte mich nun vernehmlich; es war mir ein wenig unangenehm, tatenlos in der Tür stehen zu bleiben. »Oh, du hast jemanden mitgebracht!? Ein Freund von dir, Junge?« Nun sah ich mehr als interessiert zu Kaito und wartete fast gierig auf eine Reaktion von ihm. Was war ich wohl für ihn? War ich überhaupt mehr für ihn als der Anwalt, der ihm geholfen hatte? Klar, Alan, du bist sein persönlicher Pausenclown zur Belustigung. Wieder schien mein Gewissen sich schlapp zu lachen. Der junge Japaner hob nur flüchtig den wieder verhüllten Blick zu mir, allein einen Wimpernschlag galt mir seine Aufmerksamkeit. Und doch bildete ich mir ein, ein seltsam wehmütiges Lächeln auf den sinnlichen Lippen zu sehen. »Ein Bekannter.« Dann war er schon durch eine weitere Tür verschwunden. Am Gebell vermutete ich, dass er sich zu den Tieren gesellte. Die grauhaarige Frau wand sich mir zu und streckte mir nun wieder lächelnd die Hand entgegen. »Willkommen, ich bin Elene. Mir gehört das Tierheim.« Ich ergriff die Hand der Frau ohne zu zögern. Sie strahlte etwas Vertrauenswürdiges aus, was wohl allein älteren Damen vorbehalten war, als ob diese die Bezeichnung ~Großmutter für jedermann~ fett auf der Stirn tragen würden. »Alan Harpor. Rechtsanwalt.« stellte ich mich höflich vor. Sofort senkten sich die grauen Brauen. »Rechtsanwalt. Hm. Hat Kaito was angestellt?« »Nein. Sollte er?« »Eigentlich nicht.« »Keine Sorge. Ich habe ihm nur bei etwas geholfen.« Die alte Dame nickte. »Bestimmt diese Sache mit seinen Liedern?« Ich war überrascht, wie viel die Frau über den Kaito wusste. Und fast war ich auch ein wenig neidisch, da ich selbst kaum etwas aus den Jungen herausbekommen hatte, was mich ehrlich wurmte. Was hast du erwartet, Alan? Das dir der Junge, einem völlig Fremden, sein Herz ausschüttet? Ich weiß, das war mehr als blöd. Aber irgendwie hatte ich genau das gehofft. »Ja genau, das Problem mit seinen Liedern. Ich konnte es für ihn regeln. Er sollte da jetzt keine Schwierigkeiten mehr haben.« Elene sah mich sofort aus warmen, dankbaren Augen an und drückte meinen Arm. Fast schien sie den Tränen nah. »Ich danke Ihnen. Danke, dass sie dem Jungen geholfen haben.« Sie blickte wieder zu der Tür, aus der Kaito verschwunden war. »Er hat es so schon nicht einfach.« Der letzte Satz ihrerseits war so leise, dass ich sicher war, dass ich ihn eigentlich nicht hören sollte. Trotzdem sog ich ihn auf wie ein Ertrinkender Atemluft. Jede Information über den jungen Japaner erschien mir so wertvoll wie pures Gold. Und obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war und fern ab von gutem Benehmen, konnte ich nicht an mich halten und musste die Frau einfach weiter über Kaito ausfragen. Sie schien als Einzige mehr über den Jungen zu wissen. Alan, du weißt schon, dass sich das nicht gehört? Wenn er das herausbekommt, wird er bestimmt nicht erfreut sein. Würde er dir etwas über sich erzählen wollen, so hätte er es bestimmt schon getan, meinst du nicht? Konnte mein Gewissen nicht ein einziges Mal schweigen? »Sie kennen Kaito gut?« warf ich unverbindlich in den Raum. Sie lachte kurz und klopfte mir wieder mütterlich auf den Arm. »Kaito kennt niemand gut. Dieser Junge ist ein Buch mit sieben Siegeln. Man kann wohl froh sein, wenn man ein bisschen was über ihn weiß.« Ihre grünen Augen fixierten mich forschend. Nicht abwertend oder bösartig, einfach prüfend. »Sie interessieren sich für den Jungen?« Hach, wie ich die direkte Art alter Leute doch mochte. Wahrscheinlich zu meinem eigenen Glück geriet ich nicht in Erklärungsnöte oder fing an, dummes Zeug zu stottern. Mit Sicherheit wäre meine einzige Informationsquelle dann rasch versiegt. »So ist es. Ich hab ihn singen gehört und seid dem…nun ja, ich würde gern mehr über ihn wissen. Über seine Musik und auch über ihn selbst. Irgendwie hab ich das Gefühl, er ist wichtig für mich. Ich möchte ihm gern helfen.« gestand ich ehrlich und fragte mich im nächsten Moment, ob ich das wirklich gesagt hatte. Ja, hast du, Alan. Elene sah mich wieder mit diesem forschenden Blick an, dem nichts zu entgehen schien und dem man mit Sicherheit auch nichts vormachen konnte. Dann nickte sie einfach schlicht, als wäre sie von meiner Aufrichtigkeit überzeugt. Warum hatte ich mich eben gefühlt wie vor dem Scharfrichter? Sie trat zu der Tür, aus der Kaito vorhin verschwunden war und zog jene auf, dann winkte sie mich heran. »Sehen Sie.« Ich zog die Stirn kurz fragend in Falten, dann trat ich neben die alte Dame und sah an ihr vorbei nach draußen. Die Tür führte in einen großen, grünflächigen Zwinger, in dem mindestens 20 verschiedene Hunde wild bellend herumtollten. Einige humpelten, andere waren mit Blindheit geschlagen, anderen fehlten ganze Gliedmaßen. Die Grausamkeit der Menschen wurde an jenen Wesen überdeutlich sichtbar. Die Leichtlebigkeit und das stetig wechselnde Wesen unserer Rasse konnte man allein in diesen dunklen Hundeaugen sehen, die ehrlicher als alles andere unsere Verfehlungen widerspiegelten. Und zwischen all den Schnauzen, Ohren, Pfoten und buntem Fell saß Kaito wie ein Fels in der Brandung und schaffte das schier unmögliche, jedem dieser armen Wesen Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Er streichelte hier und da zotteliges Fell, wuschelte über große und kleine Köpfe und drückte jeden der Hunde herzlich an sich, nur um dann liebevoll das Gesicht abgeleckt zu bekommen. Und Kaito lachte. Er lachte so herzlich und so hell, dass es mir die Kehle zuschnürte. Elene neben mir lächelte wissend und drückte mir erneut den Arm, während ich noch wie erstarrt auf dieses Bild sah. »Dieser Junge ist etwas ganz Besonderes, Mister Harpor. Vielleicht erkennen Sie das selbst, wenn sie genau hinsehen.« Sie sah mich wieder mit diesem Blick an, der wirkte, als könnte sie bis auf den Grund meiner Seele sehen. »Wenn Sie können, Mister Harpor, wenn Sie es wirklich wollen, dann schenken Sie ihm ein wenig Glück. Helfen Sie ihm.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)