Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 1: Abgeschoben ---------------------- Das helle Sonnenlicht blendete ihn, als der Zug aus dem Tunnel fuhr. Genervt kniff er die Augen zusammen, während er gleichzeitig versuchte, dennoch etwas zu erkennen. Der See, viele Meter weit unter den Schienen, warf das Licht tausendfach zurück und glitzerte dabei als ob unzählige Juwelen unter der Wasseroberfläche ruhen würden. So schön der Anblick auch war, der Grund für seine Reise blieb in seinen Augen dennoch deprimierend. Er hatte noch nie zuvor von jemandem gehört, der vor seiner Volljährigkeit aus einem Pflegeheim geworfen wurde – zumindest nicht, wenn derjenige nie etwas getan hatte. Allerdings waren die Aufsichtspersonen und auch der Direktor davon überzeugt, dass er für so manchen Vorfall verantwortlich war, also hatte er trotz aller Beteuerungen und emotionaler Ausbrüche gehen müssen. Er konnte von Glück sagen, dass man einen 15-jährigen nicht einfach vor die Tür setzen durfte – aber ihn ans andere Ende des Landes zu schicken, an einen Ort, von dem er bislang noch nicht einmal gehört hatte, das empfand er doch als ein wenig übertrieben. Zumindest in diesem Augenblick war er aber erleichtert, dass er im Heim nie Freunde gefunden hatte. Allein beim Gedanken, dass er sie alle hätte zurücklassen müssen, wurde er ganz trübselig. Eine Lautsprecherdurchsage riss ihn aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück, aufmerksam lauschte er dem Gesagten: „In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel, den Hauptbahnhof von Lanchest. Bitte denken Sie daran, Ihr Gepäck und Ihre Wertsachen mit sich zu nehmen. Vielen Dank, dass Sie mit Ven-Rail gereist sind.“ Der Lautsprecher verstummte wieder. Sofort begannen alle Anwesenden im Abteil, aufzustehen und ihr Gepäck an sich zu nehmen, was ein lautes Rascheln zur Folge hatte. Während er sich dem anschloss, bemerkte er, dass er der einzige Mensch im Abteil war. Zwei junge Frauen, die sich angeregt miteinander unterhielten waren offensichtlich Katzenmenschen und sogar Schwestern, wie an dem rötlichen Fell mit den ähnlichen Mustern, so wie den zuckenden Ohren leicht zu erkennen war. Der unter dem Mantel hervorstehende wedelnde Schwanz eines anderen Reisenden und seine Schlappohren, die selbst durch den Hut nicht verdeckt wurden, verriet, dass ein älterer Herr zu der Gattung der Hundemenschen gezählt wurde. Der Letzte schließlich war schon allein durch seine Größe bei den Echsenmenschen einzuordnen, das schuppige Gesicht und die Hände taten ihr Übriges dazu. Er wusste, dass ein solcher Anblick etwas völlig Normales war und doch fühlte er sich unwohl. Es kam ihm vor als würde das Kichern der beiden Frauen ihm gelten, genau wie die abschätzenden Blicke des älteren Mannes – lediglich die Echse schien sich nicht im Mindesten um ihn zu kümmern. Als er seine Reisetasche und den Schwertkoffer auf den Sitz gestellt hatte, um beides einfacher greifen zu können, sobald der Zug hielt, zog er eine Mütze hervor und setzte diese auf. Zwar konnte sie nicht sein komplettes Haar verbergen, aber doch ein wenig die Blicke ablenken. Man sollte meinen, dass die Leute an rosa Haar gewöhnt wären, doch das galt offenbar nur, wenn es zu Mädchen gehörte. Bei Jungen sorgte es zu seinem Unglück immer noch für einen unangenehmen Oh-Effekt. Sein Blick ging wieder zum Fenster hinaus. Die Stadt, der sie sich näherten, erschien ihm recht imposant, wenngleich ihm das als jemand, der in einem Pflegeheim auf dem Land aufgewachsen war, möglicherweise nur so vorkam. Riesige Wohnhäuser reichten bis in den Himmel und ließen ihn staunen; das Bahnhofsgebäude, in das der Zug langsam einfuhr, wirkte im Vergleich dazu alt, aber auch erhaben. Wow! Das ist echt... cool! Er war sich ziemlich sicher, dass er im Inneren der Stadt noch mehr staunen würde, wenn er erst einmal dazu kommen würde, sich umzusehen. Falls er dazu kommen würde. Bislang hatte er noch keine Ahnung, wie sein Alltag in dieser Stadt aussehen sollte oder wie er leben würde. Er wusste nicht einmal genau, was für eine Einrichtung das nun sein würde, in die man ihn schickte. Seine Erzieher hatten etwas von einer untraditionellen Militärakademie erzählt, aber was er sich darunter vorzustellen hatte, wusste er auch nicht. Da blieb ihm wohl nur, die Person auszufragen, die ihn vom Bahnhof abholen sollte – auch wenn ihm das so gar nicht gefiel. Er war nicht gut darin, mit fremden Leuten zu sprechen. Als der Zug schließlich hielt, nahm er Tasche und Schwertkoffer an sich und folgte den anderen Passagieren hinaus. Auf seinem Weg zur Tür kam er an anderen Reisenden vorbei, die wissende Blicke auf den Koffer warfen. Anfangs hatte er befürchtet, damit nur unnötig aufzufallen, aber offenbar war es zumindest in dieser Stadt vollkommen normal, Leute mit Waffen herumlaufen zu sehen. Dennoch hatte er es für absolut unnötig befunden, sich diese Klinge aufdrücken zu lassen, er wusste nicht einmal wirklich, wie man damit umging. Er trat auf den Bahnsteig. Aufgeregte Stimmen von Reisenden, die von ihren Lieben empfangen wurden, umfingen ihn sofort. Er suchte in der Menge nicht einmal nach jemandem, der auf ihn warten könnte, sondern betrat direkt die Bahnhofshalle, in der sämtliches Gerede zu einem einzigen, lauten Summen verschmolz. Niemand schien ihn zu beachten, weswegen er stehenblieb, um sich umzusehen. Mehrere Bänke waren in der Halle für die Wartenden aufgebaut, Schnellrestaurants und Bäckereien verbreiteten einen angenehmen Duft, weit weg von seinem Standort konnte er das Schild eines Info-Standes ausmachen. Letzteres schien ihm wie der perfekte Ort, um auf jemanden zu warten, doch bevor er dorthin ging, zog sein knurrender Magen ihn in eine gänzlich andere Richtung. Vor einer Theke, in der köstlich aussehende Sandwiches auslagen, hielt er wieder inne. Im Zug hatte sein Magen sich im Angesicht der kommenden Dinge verkrampft, aber der köstliche Duft in dieser Halle hatte ihn wieder daran erinnert, dass er auch nur ein Lebewesen war, das Nahrung zum Überleben brauchte und so langsam überkam ihn das Gefühl, umzufallen, sollte er nicht bald etwas zwischen die Zähne bekommen. Ein wenig beklommen tauschte er sein letztes Geld gegen ein in Plastik verpacktes Sandwich aus, dann setzte er sich damit auf einen der Sitze, um in Ruhe zu essen, während er seinen Blick schweifen ließ, um die Reisenden zu beobachten. Zu seiner Erleichterung schien sich keiner um ihn zu kümmern, jeder schien es eilig zu haben, irgendwo hinzukommen. Auch wenn er ihre Geschichten nicht kannte, so beneidete er sie ein wenig. Seit er zurückdenken konnte, hatte es für ihn nie einen Ort gegeben, zu dem er eilig zurückwollte. Prinzipiell war er froh, aus dem Pflegeheim raus zu sein – aber was würde ihn nun erwarten? Dieses Ungewisse machte ihn nervös, weswegen er im selben Moment schon wieder froh war, das Sandwich beendet zu haben. Wie es sich für einen guten Bürger gehörte, stand er auf, um die nun nutzlose Verpackung in den etwas weiter entfernten Mülleimer zu werfen. Während er noch etwas gedankenverloren neben dem Behälter stand, hörte er plötzlich wie ein lauter Schrei durch die Halle fuhr. Fragend sah er sich nach dem Ursprung um und erkannte bald den Grund dafür: Ein Mann rannte gerade mit einer offensichtlich gestohlenen Tasche durch die Halle, den echten Besitzer direkt hinter sich. Geistesgegenwärtig traten die anderen Reisenden einen Schritt zur Seite, um dem Fliehenden Platz zu machen und nicht von ihm verletzt zu werden. Lediglich ihm selbst fiel nichts Besseres ein als ein Bein auszustrecken, um den Dieb zu Fall zu bringen – was überraschenderweise sogar gelang. Fast schon ein wenig verdutzt blickte er auf den Gefallenen hinunter, der noch versuchte, sich aufzurichten, um weiterzulaufen, allerdings schon im nächsten Moment von einem uniformierten Mann – offenbar Teil eines Sicherheitsteams für den Bahnhof – gepackt wurde. Lächelnd übergab ein zweiter Wachmann die Tasche wieder seinem Besitzer, während der erste den Dieb abführte und ihm – dem Neuankömmling – dankbar zunickte. Er sah ihm für einen kurzen Moment hinterher, ehe der ältere Besitzer der Tasche seine Aufmerksamkeit auf ihn zog. „Vielen Dank, junger Mann. Solche Leute wie Sie geben mir den Glauben an die Menschheit zurück, der von solchen Leuten wie diesem Nichtsnutz zerstört wird.“ Wutschnaubend nickte er in die Richtung, in die der Dieb geführt worden war. Er winkte allerdings nur ab. „Keine Ursache, wirklich. Ich... stand nur zufällig hier.“ Das war immerhin auch die Wahrheit. Wäre das Sandwich nicht gewesen, hätte er gar nicht an diesem Fleck gestanden. Der Mann klopfte ihm auf die Schulter und ging dann zufrieden lächelnd davon. Ein wenig verlegen sah er ihm einen kurzen Moment hinterher, dann ging er, die Blicke aller anderen ignorierend, wieder zu seinem Platz zurück. Seine Sachen standen immer noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte – was wohl aber auch nicht zuletzt an der Person lag, die daneben stand. Ein Wachmann sah ihm abwartend entgegen, er lächelte. „Sie haben uns ziemlich gut ausgeholfen, vielen Dank.“ Die Leute hier scheinen sich echt gern zu bedanken... Dass er von diesem Mann gesiezt wurde, verstärkte das unangenehme Gefühl in seinem Inneren. Gesiezt zu werden, war für ihn ein Zeichen, dass er erwachsen – und damit für sich selbst verantwortlich – wurde. Der Gedanke ängstigte ihn ein wenig, aber er schob ihn hastig von sich. „Es war wirklich nur ein Zufall“, betonte er noch einmal. „Da gibt es nichts zu danken.“ Sein Blick huschte durch die Halle zum Info-Stand hinüber. Langsam sollte er vielleicht doch hinübergehen – aber der Wachmann schien noch mehr sagen zu wollen. „Eigentlich haben wir nicht so viele Probleme mit der Kriminalität. Aber in letzter Zeit scheint sich das ein wenig zu ändern.“ „Aha...“ Was sollte er darauf sagen? Die Kriminalitätsrate dieser Stadt interessierte ihn kein bisschen, aber der andere schien zu glauben, dass es ihn interessieren sollte. Der Wachmann deutete auf den Schwertkoffer. „Ich nehme an, Sie sind ein neuer Rekrut an der Militärakademie?“ „Ähm... ja, ich schätze schon.“ Vielleicht würde der Mann dann endlich verstehen, dass er im Moment keine Zeit hatte oder er würde ihm helfen, die Person zu suchen, mit der er sich hier treffen sollte. Der Wachmann salutierte sofort. „Ich war ebenfalls Rekrut an der Akademie.“ Auch das noch. Doch er sprach den Gedanken nicht aus und lächelte stattdessen ein wenig. „Oh, wirklich?“ „Ja, vor zwei Jahren habe ich meinen Abschluss gemacht. Ich werde dem Direktor diese Tat heute zukommen lassen, das dürfte sich positiv auswirken.“ Positiv? Auf was? Er wagte nicht zu fragen, besonders nicht, da der Mann soeben einen Notizblock hervorzog. „Ich bräuchte dann nur Ihren Namen und die Schülernummer.“ Aufmerksam sah der Mann ihn an. Er suchte nach Worten, um ihm seinen Namen mitzuteilen und zu erklären, dass er nicht einmal wusste, was eine Schülernummer war. Doch eine eingängige Tonfolge, die eine Lautsprecheransage ankündigte, unterbrach seine Gedanken. „Anthony Branch wird am Informationsschalter erwartet. Anthony Branch.“ Er deutete nach oben, um zu zeigen, dass er die Durchsage meinte. „Das bin ich.“ „Oh, Anthony also. Gut, ich werde Sie zum Schalter begleiten und dem dort Anwesenden direkt sagen, was sie getan haben.“ Er verzichtete darauf, erneut zu erwähnen, dass er doch nichts getan hatte und nickte stattdessen nur. Nachdem er Tasche und Koffer ergriffen hatte, folgte er dem Wachmann in Richtung des Informationsschalters. Die Blicke, die ihm zugeworfen wurden, veränderten sich deutlich. Es schien ihm, dass alle glaubten, er wäre verhaftet und nun abschätzten, was er wohl getan hätte. Aber möglicherweise interpretierte er nur zuviel in all das hinein. Am Schalter angekommen, wanderte sein Blick direkt zu einem Mann, der mit verschränkten Armen daneben stand. Sein Anzug und die kühl blickenden Augen hinter den Brillengläsern ließen ihn älter wirken als er zu sein schien, aber sein rostrotes Haar relativierte das wieder ein wenig. Der Blick des Mannes richtete sich auf ihn, sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. Er kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Anthony Branch, nehme ich an? Ich bin der Direktor der Lanchest-Militärakademie, mein Name ist Raymond Lionheart. Es freut mich, dich kennenzulernen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)