Comatose von Nyasta ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Maruh streckte ihre Beine genüsslich aus und beobachtete, wie der feine weiße Sand zwischen ihren Zehen hindurch rieselte. Dann strich sie sich die langen blonden Locken, die ihr immerzu ins Gesicht fielen, hinter die Ohren und schloss die Augen um die angenehme Wärme der Frühlingssonne auf ihrem Gesicht zu genießen. Morgen war der 17. Geburtstag ihres großen Bruders und sie war an den Strand gelaufen um ihm ein Geschenk zu basteln. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel auf sie hinab und in der Luft hing der Geruch von Seetang und Salz. Sie saß auf einer roten Decke nur wenige Meter vom Meer entfernt. Neben ihr auf dieser Decke lagen einige hübsche Muscheln, die sie zuvor gesammelt hatte, eine Nadel und ein dünner silberner Faden. Gedankenverloren fing sie an mit der Nadel kleine Löcher in die Muscheln zu bohren, um sie später als Kette auf den Faden zu fädeln, als sie den Ruf einer Möwe, die am Himmel kreiste, hörte. Sie hob den Blick und sah das Tier über sich hinweg ziehen. Es hatte ein strahlend weißes Gefieder, viel heller als das jeder Möwe, die Maruh zuvor gesehen hatte. Gerade als Maruh ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte, fiel ihr auf, dass die Sonne nicht mehr ganz so hell zu leuchten schien. Erstaunt suchte sie nach dem Grund. Dort wo eben die Möwe entlang geflogen war, war der Himmel pechschwarz, so als hätte man das Blau durchgeschnitten und das darunterliegende Schwarz sei nun sichtbar. Dieser Riss am Himmel fing an zu pulsieren und sich zu verbreitern. Bald schon war es so dunkel, dass Maruh ihre eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Trotzdem war sie wie festgehalten. Sie wollte rennen, wollte einfach nur weg, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht und so war sie gezwungen das Spektakel zu beobachten. Es war, als wäre sie von einer Unsichtbaren Macht hier festgezaubert. In Maruhs Kopf rasten die Gedanken. Was war das, was sie hier sah? War sie eingeschlafen und das alles nur ein schlimmer Traum? Oder passierte es wirklich? War das der Untergang der Welt? Nur noch wenige Zentimeter trennten die schwarze Masse noch vom Meer, als Maruh in der Ferne einen weißen Punkt ausmachte, der sich sehr schnell auf sie zu bewegte. Er war in der Dunkelheit sichtbar, obwohl von ihm kein Licht auszugehen schien. Als der weiße Punkt näher an ihr heran war erkannte Maruh, dass er die Möwe war, die sie vorher über den Himmel hat ziehen sehen. Nun war die Dunkelheit vollkommen. Mit dem Licht verschwanden auch alle Gerüche, Gefühle und Geräusche. Es war, als hätte alles bis auf Maruh und die Möwe aufgehört zu existieren. Immer näher kam der Vogel. Was aussah wie eine Möwe stellte sich als größer heraus als Maruh jemals einen Vogel gesehen hatte. Die weißen Flügel mussten eine Spannweite von 3 Metern haben und der Schnabel war größer als Maruhs Kopf. Das Tier umkreiste Maruh, die immer noch gebannt auf ihrer Decke saß. Es hatte den Blick unverwandt auf eine Stelle am schwarzen Himmel gerichtet, als warte es auf ein Zeichen. Plötzlich wandte er sein Gesicht zu Maruh. Seine roten Augen starrten in Maruhs graue. Sie fühlte sich als hätte ihr jemand ein glühendes Messer zwischen die Augen gerammt und schloss die Augen. Der Schmerz aber blieb und pochte in ihrem Kopf. Mit einem schrillen Pfiff stürzte er sich auf das Mädchen und schlug die Klauen in ihre Schulter. Doch statt dem Schmerz mit dem sie gerechnet hatte, glitt das Tier geradewegs durch sie hindurch und zersplitterte dann in kleine Teile, als sei er aus Glas. Diese Teile leuchteten einen Moment wie Glühwürmchen, bevor sie verschwanden. Maruh merkte, dass sie die Luft angehalten hatte und atmete erleichtert aus. Als sie wieder einatmete spürte sie ein Brennen an ihren Lungen. Es breitete sich unaufhaltsam immer weiter aus und erfüllte schon bald ihren gesamten Körper. Es fühlte sich an, als würde sie zersetzt werden. Dort, wo der Vogel durch ihren Körper gestoßen war fing es an. Maruh verlor jegliches Gefühl. Was zurückblieb schien ihre reine Existenz zu sein. Maruh fühlte sich als wäre sie in schwarzer Leere gefangen. Nichts spürte sie mehr. Weder den Schmerz, noch ihren Körper selbst. Sie wusste nicht einmal ob sie sich bewegte oder fest an einem Platz stand. Sie lebte, existierte. Zumindest ein Teil von ihr. Alles andere war ausgelöscht und in die Schwärze entschwunden. Jegliches Zeitempfinden war ausgelöscht. Maruh ergab sich in die Leere. Kapitel 1 --------- Kapitel 1 Wie jeden morgen wurde Aroch geweckt, als die Sonnenstrahlen durch das Fenster auf sein Kopfkissen fielen. Gerade jetzt im Sommer bedeutete das für ihn, dass er früher aufwachte als jeder andere im Haus. Er lebte in einer heruntergekommenen Hütte zusammen mit seiner kleinen Schwester, seiner Mutter und seinem Onkel, mit dem er sich das Zimmer teilte. Im einzigen anderen Zimmer, das als Wohnzimmer und Küche diente, schliefen die beiden Frauen des Haushalts, da es dort im Gegensatz zum Schlafzimmer durch die Ofen auch im Winter warm war. Aroch drehte sich noch einmal auf die Seite um zu schlafen, wusste aber, dass es zwecklos war. Wenn er erst einmal wach war, dann schlief er so schnell nicht mehr ein. Und schon gar nicht an so einem Tag wie heute. Den ganzen Mittag würde er damit verbringen letzte Vorbereitungen zu treffen. Schließlich wird man nur einmal im Leben als vollwertiges Dorfmitglied akzeptiert, und dieses Ereignis fand in Arochs Dorf, das so klein und unbedeutend war, dass es noch nicht mal einen Namen hatte, sondern einfach nur „Dorf“ genannt wurde, am siezehnten Geburtstag statt. Nicht nur, dass man als Erwachsen erachtet wurde, man bekam auch nach alter Sitte eine Waffe überreicht, die man als Zeichen der Reife nun tragen durfte. Jedes Kind bekam die Waffe, die nach Meinung der Dorfältesten am besten zu ihm passte. Aroch war gespannt was er erhalten würde. Erol, sein bester Freund, war bereits letzen Monat volljährig geworden und hatte einen Bogen überreicht bekommen. Jetzt nutzte er jede freie Minute um zu lernen damit richtig umzugehen. Aroch gab den Versuch noch einmal einzuschlafen auf und schwang sich aus dem Bett. Sein Onkel, dessen Bett nicht von der Sonne beschienen wurde, schnarchte noch immer, also ließ er ihn schlafen. Stattdessen machte er sich auf den Weg in die Küche, schnappte sich eine Scheibe trockenes Brot und ging in den kleinen Garten hinter dem Haus. Er griff nach seinem Schnitzmesser, das ein Geschenk des Schmiedelehrlings war und diesen Titel eigentlich gar nicht verdiente, und fing an seine Arbeit vom Vortag, zwei spielende Welpen, zu vollenden. Wenn es fertig war, wollte er es seiner Schwester schenken, da sie Hunde über alles liebte. Eigentlich mochte seine Schwester jedes Tier, das vier Beine und Fell hatte, doch da die Hündin des Nachbars gerade Junge hatte, drehte sich momentan eben alles um Hunde. Die Sonne stieg weiter und musste jetzt endlich auch Onkel Cos Bett erreicht haben. Er war der jüngere Bruder seiner Mutter und hieß eigentlich Coron, doch diesen Namen hatte wohl seit dem Tod seiner Mutter niemand mehr benutzt. Warum er immer noch bei seiner Schwester lebte und keine eigene Familie hatte wusste niemand so genau. Manche mutmaßten er wollte keine Frau, da das Leben so für ihn einfacher sei, andere behaupteten er hätte kein Interesse an Frauen, wieder andere sagten, es Läge an den Brandnarben, die sein Gesicht und seinen verunstaltet hatten, was dazu führte, dass keine Frau mehr Interesse an ihm hatte. Aroch beschloss nachzusehen, ob noch jemand wach geworden war, und legte seine Schnitzerei, die jetzt fast fertig war, zur Seite. Als er die Tür öffnete stürmte ihm seine Schwester entgegen, prallte mit dem Kopf gegen seine Rippen und fiel dann rückwärts zu Boden. „Pass doch auf, Ruh!“, rief Aroch, doch er beugte sich zu Boden, um seine Schwester auf die Füße zu heben. Sie war acht Jahre alt, hatte blonde Locken, die ihr bis zur Hüfte reichten und eisblaue Augen. Die Kleine war leicht, wie eine Feder, und so hob er sie hoch, bis sie mit ihm auf Augenhöhe war. „Entschuldigung…“, murmelte Ruh und grinste ihren Bruder an, wobei sie zwei Zahnlücken entblößte. Diese Situation spielte sich etwa jeden zweiten Morgen ab. Ruh begann zu zappelt und so setzte Aroch sie auf den Boden. Sofort flitzte sie durch die Tür ins Freie und in den Stall, in dem sich eine Kuh, ein Schaf und zwei Hühner befanden. Ruh kümmerte sich um die Tiere und sorgte für ihr Wohlergehen. Am liebsten machte sie alles selbst. Allein beim Ausmisten benötigte sie Hilfe. Aroch schüttelte den Kopf und trat ins Haus. Seine Mutter reichte ihm eine weitere Scheibe Brot, genauso trocken wie die erste, und bedeutete ihm vor dem Ofen Platz zu nehmen. Aroch folgte der Aufforderung und ließ sich auf den kalten Stein nieder. Seine Mutter sah ihn einen Moment lang an, als überlege sie, was sie ihm sagen wollte. „Kannst du das bei Enor vorbei bringen?“, fragte sie schließlich und legte die Hand auf zwei Hemden, die ordentlich zusammengelegt auf dem Tisch lagen. Seit dem Tod ihres Mannes, Arochs Vater, verdiente sie ihr Geld als Näherin. Aroch war nicht gerade begeistert, stimmte jedoch zu. „Danach kannst du noch bei Dara vorbei schauen. Sie soll dir die Haare noch einmal richten. Schließlich sollst du ja morgen gut aussehen“, fuhr sie fort und strich ihrem Sohn dabei über den Kopf. Wie jedes Mal, wenn sie ihn berührte, fiel ihm auf, wie schmal und zerbrechlich ihre Finger wirkten. Auch an den Armen zeichneten sich deutlich die Knochen ab und die Haut im Gesicht war eingefallen und blass. Sie war nicht immer so gewesen. Vor dem Feuer vor sechs Jahren, bei dem Arochs Vater und drei seiner Schwestern ums Leben kamen, wurde sie von allen für ihre Schönheit bewundert. Wie ihre verbliebene Tochter hatte auch sie blonde Locken, die einst golden geglänzt haben, nun aber matt und stumpf wirkten und bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen waren. Nach jener schrecklichen Nacht schlief sie kaum noch, da sie sobald sie die Augen schloss von Albträumen geplagt wurde, und aß wenig. Allein die zwei ihr verbliebenen Kinder schienen sie am Leben zu erhalten. Aus der lebenslustigen Frau, war eine stille, in sich gekehrte Witwe geworden, die nur bei ihrer Arbeit etwas Glanz aus vergangenen Tagen zurück erlangte. Aroch seufzte und ließ ihre Streicheleinheiten über sich ergehen. Schließlich, als seine Mutter von ihm abließ, stand er auf und überragte die zierliche Frau um einen Kopf, auch wenn er selbst ebenfalls nicht besonders groß war. Er trat an den Tisch, hob die Hemden auf und machte sich auf den Weg. Enor wohnte nur ein Stück weiter am Dorfrand in einem Haus, welches nicht viel besser war als das von Aroch und seiner Familie. Er war der Knecht eines Bauern, der etwas außerhalb in den Hügeln lebte. Enor selbst zog es vor im Dorf zu bleiben, da er so abends, wenn er aus der Kneipe kam, nicht mehr so weit laufen musste. Aroch klopfte an die Tür, die wie er erwartet hatte nicht geöffnet wurde, da sich Enor um diese Uhrzeit wohl bei der Arbeit befinden musste. Er zögerte noch einen Moment, stieß die Tür aber schließlich doch auf und trat ins Innere. Sofort wehte ihm ein muffiger Geruch entgegen, als wäre das Haus seit Jahren nicht mehr gelüftet worden. Wahrscheinlich war dem auch so. Aroch machte einen Schritt und stolperte fast über einen Stiefel, der Mitten im Weg lag. Vom zweiten dazugehörigen Schuh fehlte allerdings jede Spur. Die Fenster des Hauses waren mit Holzbrettern verschlossen, durch deren Spalten nur wenig Licht und Frischluft dringen konnte. Enor lebte allein in diesem Haus und ihn kümmerte nicht in welchem Zustand es sich befand und so lagen überall über den Boden verteilt Dinge herum. Aroch schlängelte sich zum Tisch, wobei der versuchte auf möglichst wenige Dinge zu treten, schob die Teller mit den Essensresten zur Seite und setzte die Hemden ab. Von den Tellern ging ein fauliger Geruch aus, als wollten sie um Hilfe rufen, damit sie endlich gereinigt werden. Angewidert wandte Aroch sich ab, verließ das Haus und zog die Tür hinter sich zu. Am Abend, wenn Enor von der Arbeit nach Hause kam, würden auf ihn nicht nur geflickte, sondern auch noch frisch gewaschene Hemden auf ihn warten. Aroch konnte nicht verstehen, dass seine Mutter sich die Mühe machte den Dreck, der Zentnerweise auf und in der Kleidung zu stecken schien, zu entfernen, da die Kleidung sowieso nur wenige Tage in diesem Zustand bleiben würde und der Geruch nach Seife wohl schon beim betreten des Hauses verschwand. Er wunderte sich, dass Enor überhaupt Wert auf geflickte Kleidung legte, aber wahrscheinlich lag das einzig und allein daran, dass der Bauer darauf bestand, dass sein Knecht mit intakter Kleidung arbeitete. Enor war ein guter Knecht. Im Umgang mit Tieren konnte ihm keiner, außer vielleicht Ruh, das Wasser reichen. ‚Jetzt noch zu Dara‘, dachte Aroch und schlenderte die Straße entlang. Dara wohnte auf der anderen Seite des Dorfes. Das bedeutete einen Fußweg von fünf Minuten durch die schmalen Gässchen. Auf dem Weg kam Aroch an den Ruinen des Hauses vorbei, in dem er geboren wurde. Nur noch die Grundmauern und einige schwarze Holzbalken waren zu erkennen. Warum niemand das Haus abgerissen hatte um neues Bauland zu gewinnen wusste Aroch nicht. Er hatte das Feuer als erstes bemerkt. Wie heute immer noch, teilte er sich das Zimmer auch damals schon mit Co. Er wurde geweckt, als ihm ein beißender Geruch in die Nase stieg. Als er die Tür öffnete um nachzusehen, was da so roch, sah er schon die Flammen, die bereits am trockenen Holz des Daches leckten. Er rannte zurück ins Zimmer und rüttelte Co wach, der ihn packte nach draußen trug und ihn dort absetzte. Aroch hustete und seine Augen fingen an zu tränen. Co rief ihm zu, er solle hier warten. Er werde den Rest der Familie holen, sagte er und verschwand wieder im Haus. Aroch starrte auf das Gebäude. Die Flammen hatten das Dach durchbrochen und erhellten den Nachthimmel. „Aroch!“, hörte er die Stimme seiner Mutter von der Tür aus. Sie trug die damals zweijährige Ruh auf dem Arm, rannte auf ihn zu und drückte ihn. Das kleine Mädchen brüllte wie am Spieß. „Wo ist Papa?“, fragte Aroch. „Der holt mit Onkel Co zusammen noch Aiya, Illis und Emar. Mach dir keine Sorgen, er kommt gleich“ Aiya war zwei Jahre älter als Aroch, also dreizehn, hatte als einzige der Mädchen braunes Haar und hatte nichts als Blödsinn im Kopf. Illis und Emar waren Zwillinge, sieben Jahre alt und blond. Illis machte alles nach, was Aiya ihr vormachte, doch Emar war zurückhaltend und schüchtern. Vom Haus her ertönte ein gefährliches Knacken. Aroch wirbelte herum und sah gerade noch, wie das Dach einstürzte. Co stolperte aus den Trümmern. Traurig sah er seine Schwester an und schüttelte nur den Kopf. Aroch wandte den Blick ab. Er wollte an alles andere als an diese Nacht denken, also beschloss er sich auf den Weg zu Dara zu machen. Dara stammte aus einer wohlhabenden Familie, was man vor allem daran merkte, dass sie die einzige im Dorf war, die einen Spiegel besaß. Aroch trat durch den gepflegten Garten auf das Steinhaus zu, gegen das alle anderen Häuser nur wie Holzhütten wirkten, und klopfte an. Fast Augenblicklich wurde ihm von der Besitzerin geöffnet, die ihn wie jeden anderen Besucher mit einem strahlenden Lächeln begrüßte, was dafür sorgte, dass sich auf ihren Wangen tiefe Grübchen, die eigentlich schon Gruben waren, bildeten. Sie hatte graues Haar, das sie kunstvoll hochgesteckt trug, und haselnussbraune Augen. Dara trug ein rotes knöchellanges Kleid und schwarze glänzende Schuhe. Dadurch wirkte sie in einem Dorf wie diesem fehl am Platz, was sie aber mit ihrer herzlichen Art mehr als wieder gut machte. Da sie die einzige Person mit einem Spiegel war, hatte Dara es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinder vor ihrem siebzehnten Geburtstag noch einmal zu verschönern, so wie sie es nun auch mit Aroch machen wollte. Sie führte den Jungen durch den Flur in einen kleinen Raum, in dem ein Stuhl stand und allerlei Scheren und Bürsten auf einem schicken Holztisch lagen. Aroch ließ sich auf dem Stuhl nieder und blickte in den Spiegel, der ihm nun genau gegenüber an der Wand hing. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er sich selbst wie er war und nicht nur eine verzerrte Spiegelung im Wasser. Es war, als blicke er in das Gesicht eines Fremden. Er hatte braune Haare, die leicht gelockt waren. Hinten waren sie fast schulterlang, aber die Vorderen waren deutlich kürzer. Vor seinen Ohren hing jeweils eine kinnlange Strähne. Seine Augenfarbe wunderte ihn nicht. Sie waren grün und hatten sogar fast die Farbe von Gras. Aroch überlegte eine Weile an wen er sich erinnert fühlte, wenn er in sein eigenes Gesicht blickte. Plötzlich wurde ihm klar, dass es sein Vater sein musste. Jetzt verstand er, was die Leute meinten, wenn sie sagten, er wäre ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit den Fingern fuhr er sich über das Kinn und tastete nach den etwas nach außen stehenden Wangenknochen. Die Augenbrauen waren gleichmäßig geschwungen und machten am Ende einen leichten Knick nach unten. Das einzige an Aroch, was nicht nach seinem Vater kam waren die Locken. Die hatte er eindeutig von seiner Mutter. „Gefällst du dir?“, unterbrach Dara seine Gedanken. „Was…? Äh, naja, es ist… komisch“, stammelte Aroch und wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab. Dara lächelte ihn an und begann die Haare mit Wasser zu überschütten und mit Seife einzureiben. Nachdem der Schmutz beseitigt war, machte sich Dara daran mit einem Kamm die Knoten aus seinen Haaren zu lösen. Aroch versuchte die Prozedur, die für ihn ziemlich schmerzhaft war ohne Klagen über sich ergehen zu lassen, aber er war sichtlich erleichtert, als die alte Frau das Folterinstrument beiseite legte und anfing die Spitzen seiner Haare mit einer kleinen, scharfen Schere zu kürzen. Als sie ihn fragte, ob er irgendetwas an seiner Frisur verändern wolle, hatte er abgelehnt. Er wusste nicht warum, aber er wollte auf keinen Fall, dass sie seine Haare abschnitt. Aus diesem Grund hatte Dara ihre Arbeit auch schon nach sehr kurzer Zeit erledigt. Die Haare waren schon zu trocknen und lockig wie zuvor. Ein weiteres Mal kämmte Dara ihn, doch die Schmerzen, auf die Aroch sich gefasst machte blieben aus. Erstaunt blickte er auf und beschloss, dass er nun bereit für seinen Geburtstag sei. Er bedankte sich bei Dara, die lächelnd abwinkte und ihn zur Haustür führte. „Pass gut auf die Kleine auf“, murmelte sie so leise dass er es kaum gehört hätte. Das Lächeln war verschwunden und sie schaute ihn traurig an. Dann schloss sie die Tür ohne ein weiteres Wort. Aroch starrte verwundert dahin wo sie eben gestanden hatte. Doch schon bald sagte er sich, dass sie nur eine alte wunderliche Frau sei und machte sich auf dem Heimweg. Zuhause angekommen ging Aroch in sein Zimmer und holte ein dünnes Buch aus der losen Klappe unter seinem Bett. Dieses Buch besaß er schon solange er Denken konnte. Es war zerlesen und hatte einen blauen Einband. Die Nacht in der das Feuer ausgebrochen war hatte es überlebt, da er es am Strand hatte liegen lassen. Es war der einzige Gegenstand, der Aroch von seinem Vater geblieben war. Alles andere war den Flammen zum Opfer gefallen. Sein Vater hatte dieses Buch von einer seiner Reisen in die Hauptstadt mitgebracht. Er war Händler gewesen, der die Waren der Dorfbewohner in der Stadt an den Mann brachte und dafür Dinge mit zurück brachte, die im Dorf selbst nicht hergestellt wurden. Oft hatte er auch exotische Dinge für seine Kinder mit dabei. So auch dieses Buch über Tiere, denen man im Dorf noch nie begegnet ist. Zu jedem Tier stand ein kleiner Text neben einer Zeichnung. Durch dieses Buch hatte Ruh, die keinerlei Erinnerung an ihren Vater hatte, auch ihre Liebe zu Tieren entdeckt, da sie damit den Mann verband, den sie nicht kennen lernen konnte. Aroch blätterte einmal durch das Buch ohne etwas zu lesen. Er wusste nicht einmal genau, warum er es überhaupt zur Hand genommen hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass er beim Blick in den Spiegel an seinen Vater hatte denken müssen. Er dachte über Daras Worte nach. So sehr er sich auch sträubte, musste er doch zugeben, dass sie nicht so wirkte, als wüsste sie nicht, was sie sagte. Vielmehr schien sie sich genau bewusst zu sein, dass etwas geschehen war, oder vielleicht sogar noch geschehen würde. Aroch legte das Buch ins Fach zurück und schoss die Klappe. Er ging die Treppe nach unten zu seiner Mutter, die damit beschäftigt war aus der dünnen Brühe, welche auf dem Herd vor sich hin köchelte, eine schmackhafte Suppe für heute Abend zu kochen. Wahrscheinlich würde es morgen die Reste der Suppe geben, zu der aufgrund des Anlasses noch einige Kräuter, Gemüse und vielleicht sogar etwas Fleisch hinzugefügt würden. Morgen hätte sie auch sicherlich nicht mehr diese wässrige Konsistenz, sondern wäre durch den zerkochten Inhalt sehr viel dickflüssiger. Aroch beobachtete eine Weile, wie sie verzweifelt zu erreichen versuchte, dass die Suppe nicht wie klares Wasser mit einigen grünen und gelben Flocken wirkte, was ihr partout nicht gelingen wollte, bis er beschloss sich irgendwie nützlich zu machen. „Kann ich dir helfen?“, fragte er. Seine Mutter schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er in die Küche gekommen war, denn sie zuckte zusammen, bevor sie sich lächelnd umdrehte. „Nein, du brauchst nichts zu machen“, antwortete sie und gab wieder einige grüne Flocken in die Suppe hinein. „Obwohl…“, fuhr sie fort, „du könntest zum Bauern gehen und etwas Mehl kaufen“ Aroch nickte, nahm ein paar Münzen aus dem Topf auf dem Herd, in dem sich mehr als eine Handvoll Münzen befanden, und machte sich auf den Weg. Irgendwie hatte er das Gefühl seine Mutter wollte ihn nur aus dem Haus haben und bräuchte nicht wirklich das Mehl, das er nun holen sollte, aber da er so wenigstens eine Beschäftigung hatte, wehrte er sich nicht dagegen aus dem Haus geworfen zu werden. Das Dorf war von einer Holzmauer umgeben, die mehr ein Zaun war, der errichtet worden war, als die Provinz, in der sich das Dorf befand, Krieg mit der Nachbarprovinz geführt hatte. Wäre es wirklich zu einem Angriff gekommen, hätte die Mauer niemals standgehalten, da sie über Nacht aus Holzresten zusammengezimmert wurde und mehr der Beruhigung der Dorfbewohner als ernsthaft der Verteidigung gedacht war. Noch heute wurde darauf geachtet, dass die Mauer instand blieb, da man immer mit einem Wiederausbruch des Krieges rechnen musste. Besagter Zaun besaß ein einziges Tor, durch das jeder das Dorf betreten und verlassen musste. Mehr als ein Tor wurde nicht benötigt, da nur ein einziger Weg bis dorthin führte. Erst in etwa zwei Kilometern Entfernung traf er auf eine größere Straße und führte nach Süden in Richtung Hauptstadt und nach Norden erst zum Strand und dann bis zum Rand des großen Waldes, in dem Tiere lebten, die Aroch noch nie zu Gesicht gekommen waren. Lediglich Bilder aus seinem Buch kannte er. Zum Bauern musste man nicht bis zur Straße gehen. Für jemanden, der nicht von hier kam, war es fast unmöglich die Stelle zu finden, an der das Gras etwas spärlicher wuchs, da hier täglich einige wenige Menschen den Weg verließen. Aroch aber kannte den Weg. Zielstrebig ging er durch die Wiese, auf der einige Obstbäume standen. Noch trugen sie keine Früchte. Die Letzten verblühten gerade. Der „Weg“ stieg sanft an und sobald man die Spitze des kleinen Hügels erreicht hatte, den man im Dorf nur „Kopf“ nannte, konnte man das Bauernhaus im Tal sehen. Am Hang des Hügels grasten eine Handvoll Kühe, zwei Ziegen und ein altes Pferd. Im Stall weiter unten stand noch eine Sau mit ihren Ferkeln und im Hof pickten ein paar Hühner nach dem Futter, das die Magd ihnen gerade zu warf. Neben dem Stall mit Heuboden bestand der Bauernhof noch aus dem Haus, in dem die Familie mit ihrem Gesinde (außer Enor natürlich) wohnte und einem kleinen Schuppen. Hinter den Gebäuden erstreckten sich die Felder, die mit verschiedenen Gemüse- und Getreidesorten bepflanzt waren. Aroch lief zwischen den Tieren durch die Weide hindurch um zur Bäuerin zu gelangen, von der er das Mehl kaufen wollte. Schon bald wurde er von einem zerzausten Hund begleitet. Poko, so hieß er, war steinalt. Es wunderte jeden, dass er überhaupt noch lebte, denn wenn er nicht gerade jemanden zum Bauernhaus begleitete, schlief er ununterbrochen. Aroch erspähte die Bauersfrau auf einer Bank vor einem kleinen Erdbeerbeet beim Wolle spinnen. „Hallo!“, rief er ihr zu und lief die letzten paar Meter, bis er sie erreichte. „Aroch…“, antwortete sie nur, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu wenden. Sie sah viel älter aus, was sie eigentlich war. Von der Arbeit auf dem Feld war ihr Rücken krumm und ihre Haut wirkte wie altes Leder. Ihre Haare waren schon fast vollständig ergraut. Und auch ihr mürrischer Gesichtsausdruck verhalf ihr nicht gerade zu jugendlichem Aussehen. „Was willst du?“, fragte sie in einem Tonfall, der klar machte, dass Aroch sich schnell fassen sollte, da sie bestimmt Besseres zu tun hatte, als sich mit einem fast siebzehnjährigen Jungen zu unterhalten. „Meine Mutter hat mich geschickt. Sie fragt, ob wir ein bisschen Mehl haben können“ Die Erwähnung seiner Mutter veränderte ihren Gesichtsausdruck ein wenig. Die Bäuerin hatte seine Mutter immer dafür bewundert, dass sie nicht aufgegeben hatte, obwohl ihr das Schicksal so hart mitspielte. „Wie viel Mehl möchtest du denn?“, fragte sie nun, den Blick wieder härter. „Ein Bisschen…?“, entgegnete Aroch ihr zögerlich. Die Bauersfrau seufzte unzufrieden, legte aber das Spinnzeug zur Seite und stand auf. Sie ging auf das Wohnhaus zu und winkte Aroch zu, damit er ihr folgte. Sie gingen in die Küche, in der eine Handmühle stand. Auf dem Boden neben der Mühle befanden sich zwei große Tongefäße in denen die Körner aufbewahrt wurden. Aroch drückte ihr zwei der Münzen, die er mitgenommen hatte, in die Hand. Die Bäuerin nickte, holte ein Säckchen aus einer Holztruhe und schöpfte mit einer Schale aus einem der Gefäße. „Die kannst du nehmen. Mit den anderen Körnern füllst du den Sack dann auf“, erklärte sie ihm was er nun zu tun hatte. Aroch stülpte den Sack über die Mühle und füllte das Korn in den dafür vorgesehenen Schacht hinein. Durch das Drehen einer Kurbel wurden zwei Scheiben im Inneren der Mühle in entgegengesetzte Richtungen gedreht, was die Körner zu Mehl zerkleinerte. Dies war eine Arbeit, die jeder Erwachsene im Dorf verabscheute und jedes Kind gerne übernahm, da man dabei sofort sehen konnte, was man geleistet hatte. Der Kraftaufwand, den man dabei aufwendete war nicht zu hoch war, aber doch hoch genug um auf längere Zeit seine Kräfte auszutesten. Als Aroch das von der Bauersfrau geschöpfte Korn vollkommen aufgebraucht hatte, war das Säckchen zur Hälfte gefüllt. Die andere Hälfte nahm er, wie ihm gesagt wurde aus dem zweiten Gefäß. Schließlich hatte er den Rest ebenfalls gemahlen, also zog Aroch den Sack von der Mühle und verschloss ihn fest mit einem mitgebachten Strick. Er verabschiedete sich von der Bauersfrau und machte sich mit nun etwa fünf Kilogramm mehr auf den Rückweg. Mittlerweile hatte es schon angefangen zu dämmern und als Aroch zuhause angekommen war, war es bereits fast dunkel. Aroch stellte den Sack auf den Küchentisch und legte die restlichen Münzen in die Schale zurück. Seine Mutter war nicht wie er erwartet hatte mit Ruh in der Küche beim Essen, also schaute er in seinem Zimmer nach. Dort fand er sie auch nicht. Der einzig denkbare andere Ort war der Garten. Dort stand sie und starrte in die Ferne. Sie bewegte sich von einem Bein zum anderen und suchte alles was sie von ihrem Standpunkt aus sehen konnte fieberhaft ab. „Was ist los?“, fragte Aroch. Statt einer Antwort schaute sie ihn nur verzweifelt an. „Wo ist Ruh?“, wollte er wissen, nun ebenfalls zunehmend nervös werdend. „Ich… ich weiß nicht. Sie ist nicht heimgekommen“, stammelte sie. Aroch verstand ihre Sorge. Drei ihrer Kinder hatte sie verloren. Die Beiden, die ihr geblieben waren hütete sie wie ihren Augapfel. „Ich geh sie holen“, versprach er ihr. Wahrscheinlich hatte Ruh irgendwelche Tiere entdeckt und die Zeit vergessen, sagte er sich. Der erste Ort zu dem er ging war deshalb auch die Nische, in der sie vor einigen Tagen Katzenjunge entdeckt hatte. Die Kätzchen waren da, doch von seiner Schwester war keine Spur zu sehen. Genauso verhielt es sich mit allen anderen Orten an denen er nachschaute. Nirgendwo war Ruh zu finden. Keiner der Dorfbewohner schien sie gesehen zu haben. Nach einiger Zeit hetzte Aroch nur noch ziel- und planlos durch die Gegend und rief nach seiner Schwester. Es konnte doch nicht so schwer sein ein kleines Mädchen in einem Dorf wie diesem zu finden. Noch dazu, wenn es sich um eines mit Ruhs Temperament handelte. „Ruh!“, rief er. Als ob das etwas bringen würde! Er kam zum wiederholten Male am Tor vorbei. „Ruh! Ruh! Maruh, wo bist du!?!“ Im Dorf war kein Fleckchen mehr an dem er sie nicht gesucht hatte, also beschloss er nun außerhalb des Zaunes nach dem Mädchen zu suchen. ‚Der Strand!‘, dieser Gedanke kam ihm plötzlich, wie aus dem Nichts. Dort verbrachte sie tatsächlich manchmal ihre Zeit. Er rannte den Weg entlang, den er vorhin schon einmal gegangen war, bog jedoch nicht zum Bauern ab, sondern folgte seinem Verlauf bis zur Kreuzung. Dort wandte er sich nach Norden. Nach wenigen Metern lag bereits der salzige Geruch des Meeres in der Luft und nach der ersten Biegung konnte man das Wasser erkennen. Bereits aus der Ferne sah er eine rote Fläche. ‚Blut!‘, dachte er und beschleunigte seine Schritte noch einmal. Als er näher kam, stellte er fest, dass es sich nicht um Blut handelte, sondern lediglich um eine rote Decke, die aber Ruhs zierlichen Körper, der leblos darauf lag, wie eine Blutlache umgab. Die letzten paar Meter nahm er mit einem Satz und warf sich neben sie auf den Boden. „Ruh!“, reif er wieder und schüttelte ihre Schulter. „Maruh, komm zu dir!“, schrie er und schüttelte nun heftiger. Ihr Kopf fiel leblos hin und her. Aroch tastete nach ihrem Puls und stellte erleichtert fest dass ihr Herz noch schlug. Auch zu atmen schien sie. ‚Zum Arzt‘, beschloss er und hob sie in seine Arme. --- Ich schwebe in der schwarzen Welt. Nichts um mich bewegt sich. Die Zeit selbst steht still. Ich scheine allein zu sein. Aber sicher bin ich mir nicht. Mein Körper ist nicht hier. Ich spüre ihn nicht. Irgendwie bin ich auch nicht an einem Punkt, sondern überall gleichzeitig. Ich versuche mich auf einen Ort zu konzentrieren. Mich dort zu versammeln. Plötzlich höre ich einen Pfiff. Ich bin nicht mehr alleine. Mein Blick wird klarer und ich erkenne einen schwarzen Vogel, der in der Ferne kreist. Der Vogel erinnert mich an etwas. Etwas das ich nicht mehr weiß. Ich strenge mich an um herauszufinden, was es ist. Auf einmal wird mir alles klar. Meine Seele zerstreut sich wieder. Der Vogel verschwindet. Ich bin wieder alleine. Kapitel 2 --------- Noch während er das dachte, erkannte er, dass es im Dorf keinen Arzt mehr gab. Alle paar Wochen kam einer vorbei und kümmerte sich um die Dorfbewohner, seit der letzte Arzt weggezogen war. Die nächste Anlaufstation für kranke Menschen war die Dorfälteste Ellya, da sie aufgrund ihres Alters schon so manche Krankheit gesehen und einen beträchtlichen Teil davon auch selbst erlebt hatte. Ellya lebte mit ihrem Mann Itath in einem Häuschen im Dorfzentrum. So schnell er konnte ohne befürchten zu müssen Ruh zu verletzen, lief Aroch auf das Haus der beiden zu. Dorf angekommen hämmerte er keuchend an die Tür. Der Weg war zwar nicht weit und Ruh selbst ein Fliegengewicht, aber die zusätzlich Last zeigte trotzdem ihre Wirkung. „Aufmachen, schnell!“, rief er, als auf sein Klopfen niemand reagierte. Endlich bewegte sich etwas im Haus. „Immer mit der Ruhe“, kam es von drinnen. Aroch würde diese Stimme überall erkennen. Sie war tief und rau. Als Kind hatte er sich immer vorgestellt, ein Bär würde so reden, falls er dessen mächtig wäre. Itath öffnete die Tür. Seine Haut war wettergegerbt und seine Hände waren schwielig von seiner langjährigen Arbeit als Schmied. Mittlerweile hatte er zwar einen Nachfolger gefunden, aber die Waffen, die es zum siebzehnten Geburtstag gab schmiedete er immer noch selbst. Obwohl Itath wie seine Frau schon ein gewaltiges Alter erreicht hatte, wirkte er immer noch muskulös und kräftig. Er warf einen kurzen Blick auf Ruh und ging dann wortlos zur Seite um Aroch einzulassen. Aroch, der schon oft wegen einer kleinen Verletzung oder ähnlichem hier gewesen war, trug seine Schwester zum für Patienten reservierten Bett. Daneben stand schon Ellya, die sich sofort an die Arbeit machte, als Ruhs zierlicher Körper die Matratze berührte. Ellya tastete den Hals des Mädchens ab und fühlte, wie auch Aroch es schon getan hatte, nach ihrem Puls. Als sie damit fertig war, öffnete sie Ruhs Augen, doch sie zeigte keinerlei Reaktion. Nicht einmal die Pupillen veränderten sich, als sie mit einer Kerze näher kam. Ellya holte einen kleinen Beutel aus dem Regal, das von unten bis oben vollgestopft mit getrockneten Pflanzen, Pulver und Tabletten, und streute Ruh vom Inhalt, einem feinen weißen Puder, auf die Oberlippe und unter die Nase und wartete einen Moment. Ruhs Augen begannen zu zucken und auch ihre Fingerspitzen bewegten sich leicht, aber nach kurzer Zeit hörten die Bewegungen auf und das Mädchen lag wieder so reglos wie zuvor auf dem Bett. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Arochs Mutter stürmte ins Zimmer. Itath schien zu ihr gegangen zu sein und sie informiert zu haben, denn nur wenige Sekunden später trat auch er ein. Die Frau stürzte zum Bett und hätte wahrscheinlich angefangen ihre Tochter zu schütteln, wenn Aroch sie nicht festgehalten hätte. Ellya, die seit Ruhs Reaktion auf das Pulver unverwandt in das Gesicht des Mädchens starrte, blickte nun auf, das blanke Entsetzen im Gesicht. Als sie die Mutter entdeckte, die versuchte sich von Aroch loszureißen, bekam sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. „Mama“, murmelte Aroch. Diese Worte schienen sie aufzuwecken, denn sie ergab sich der Umklammerung und hörte auf sich zu wehren. „Was hat Ruh?“, fragte sie, die Stimme den Tränen nahe. Ellya warf Aroch einen hastigen Blick zu, bevor sie antwortete. „Ich weiß es nicht“ Aroch war sich sicher, dass sie nicht die Wahrheit sagte, sondern nur seine Mutter schonen wollte, da sie diesen Schock womöglich nicht ertragen würde. „Ich behalte die kleine heute Nacht hier. Wahrscheinlich ist sie morgen schon wieder putzmunter“, sagte sie weiter, „Keine Sorge“ Arochs Mutter schien nun ein wenig beruhigter, denn ihre Fingernägel, die sie in den Arm ihres Sohnes geschlagen hatte, lockerten sich etwas. „Ich bleibe bei ihr!“, sagte sie. Ihre Stimme klang gefasst. „Nein!“, antwortete Ellya bestimmt, „Du gehst nach Hause und schläfst dich dort aus“ Ihre Stimme hatte nun einen sanften und verständnisvollen Tonfall angenommen. Aroch, der den Eindruck hatte, für seine Mutter wäre es tatsächlich das Beste die Nacht nicht hier zu verbringen, zog sie mit sanfter Gewalt vom Bett fort. Sofort wurde sie wieder panisch und zerrte in Richtung ihrer Tochter. Aroch hob sie kurzerhand vom Boden und trug sie aus dem Haus. Ellya begleitete sie, drückte Aroch noch eine Tablette in die Hand und zeigte auf die Frau in seinen Armen. Aroch nickte und machte sich auf den Heimweg. „Du kannst mich runterlassen“, sagte sie nach einer Weile. Aroch zögerte kurz, gehorchte ihr aber schließlich. Ihr Gesicht war verweint, aber ihr Blick hatte sich wieder geklärt. Ihr vorangegangenes Verhalten schien ihr peinlich zu sein. Zielstrebig ging er durch die engen Gassen auf ihr Haus zu. Schon bevor sie es erreichten, schlug ihnen Essensgeruch entgegen. Aroch öffnete die Tür und entdeckte Onkel Co in der Küche. „Ich dachte, ihr habt bestimmt Hunger“, sagte er und wies auf den Tisch, auf dem vier Holzschalen und der Suppentopf standen. Sofort, als er merkte, das Ruh nicht dabei war stellte er eine der Schalen beiseite, bevor seine Schwester es bemerken konnte. „Ich habe keinen Hunger“, sagte diese und ging zu ihrem Schlafplatz vor dem Kamin. Aroch zog sie zum Tisch, schöpfte ihr einen Löffel Suppe in das Schälchen und drängte sie zu essen. Als er sicher war, dass sie damit weitermachen würde, auch wenn er weg ginge, schöpfte er frisches Wasser in einen Becher und warf Ellyas Tablette hinein, die sofort anfing sich aufzulösen. Den Becher stellte er vor seine Mutter, holte sich und Mo auch noch einen, setzte sich an seinen Platz und begann ebenfalls die Suppe zu löffeln. Das Essen verlief schweigsam. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die meisten davon drehten sich um Ruh, die jetzt wahrscheinlich immer noch bewusstlos auf Ellyas Matratze lag. Aroch wollte dafür sorgen, dass seine Mutter direkt nach dem Essen schlafen ging. Hoffentlich würde die Tablette wirken. Danach wollte er noch etwas überprüfen, was für ihn mittlerweile schon zur Gewissheit geworden war. Ellya wusste mehr über den Zustand seiner Schwester, als sie vorhin zugeben wollte. Wenn er sicher war, dass alle anderen schliefen, würde er wieder zu ihr gehen und dieses Wissen von ihr bekommen. „Wie es Ruh wohl geht?“, fragte seine Mutter und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Aroch schaute auf ihre Hände, die verkrampft auf dem Tisch lagen. Er konnte gut verstehen, wie hilflos sie sich fühlen musste. Ihm selbst ging es nicht besser. Doch im Gegensatz zu ihr würde er es nicht darauf beruhen lassen abzuwarten. Er legte seine Hand auf ihre. „Morgen geht es ihr bestimmt besser“, antwortete er zuversichtlicher als er es für möglich gehalten hätte. Er würde nicht nur herausfinden, was mit seiner Schwester vor sich ging, sondern auch noch seiner Mutter weiteres Leid ersparen. Koste es was es wolle. Sie hatte genug für drei Menschen gelitten. „Am besten du gehst jetzt schlafen“, fuhr er fort und drückte sanft ihre Hand. „Ja, mach das. Das machen wir am besten alle. Für heute reicht es. Schließlich sollten wir morgen ja fit sein“, setzte Co mit einem Augenzwingern in Arochs Richtung hinzu. Kurz trat ein Ausdruck kindlichen Trotzes in das Gesicht der Mutter, die es überhaupt nicht mochte gesagt zu bekommen, was sie zu tun hatte, doch sie schien wohl zu erschöpft zu sein, um sich ernsthaft zu wehren. Aroch und Co räumten das Geschirr vom Tisch und wischten es kurz in einem Eimer mit sauberem Wasser, aus dem Aroch zuvor auch das Trinkwasser geschöpft hatte, ab. Diese Arbeit hätten sie an einem normalen Tag nicht oder nur sehr widerwillig erledigt, aber dieser Tag heute fiel in keinster Weise in die Kategorie „Normal“. Auf die Holzbank zwischen Tisch und Ofen wurden wie jeden Abend eine Decke und ein Kissen gelegt. Seine Mutter wickelte sich in die Decke ein und schloss die Augen. Schlafen würde sie auch unter Einfluss des Medikamentes noch eine Weile nicht, vermutete Aroch, doch er und Mo ließen sie alleine und betraten ihr Schlafzimmer. Aroch wusste was nun kommen würde. Sobald die Tür geschlossen war, würde Co anfangen ihn zu löchern, was nun genau geschehen war, denn, wie auch Aroch, wollte er seine Schwester so wenig wie möglich belasten. Da er diesem Verhör so lange wie möglich entgehen wollte, ließ Aroch die Tür offen stehen, auch wenn er kurz nach Co ins Zimmer trat. In der Zeit, die Co brauchte um zu erkennen, dass die Tür sich nicht von alleine schließen würde, zog Aroch sich um und legte sich mit dem Gesicht zur Wand in sein Bett. Kaum hatte das Türschloss geklickt, legte Co auch schon los. „Also was ist mit Ruh?“, wollte er wissen. „Hmm…“, brummte Aroch, wusste jedoch nur zu genau, dass sein Onkel keine Ruhe geben würde, bis er eine Antwort bekommen hatte. „Ellya meint wir sollen abwarten. Morgen wird es Ruh schon wieder besser gehen“, sagte er deshalb noch. „Und das glaubst du ihr?“, bohrte Co weiter. „Habe ich einen Grund daran zu zweifeln? Sie hat mit Sicherheit mehr Ahnung als du und ich zusammen. Warum sollte sie uns anlügen?“, wich Aroch einer direkten Antwort aus. Er gähnte so, dass Mo es auf jeden Fall hören musste und zog die Decke ein wenig höher. „Wenn du meinst…“, murmelte Co und legte sich endlich auch in sein Bett um zu schlafen. „Schlaf gut“, flüsterte Mo. Wie jeden Abend bekam er keine Antwort von Aroch. Dieser dachte gar nicht daran zu schlafen. Eine halbe Ewigkeit, so kam es ihm jedenfalls vor, wartete er darauf, dass sich Mos allnächtliches Schnarchen einstellte. Sonst ging es Aroch immer viel zu schnell, da er bis dahin oft noch nicht tief genug schlief, um es nicht mitzubekommen. Allmählich veränderte sich die Atmung seines Onkels. Erst wurde sie langsamer, schließlich atmete er tiefer und noch langsamen und endlich begann er auch zu schnarchen. Aroch, der selbst in einen Dämmerzustand gefallen war, war wieder hellwach. Er zählte langsam bis 500 und erhob sich dann so leise wie möglich aus seinem Bett. Die Sachen, die er vorher ausgezogen hatte, lagen auf einem Stuhl, neben dem Bett, also schnappte er sie sich und zog sie wieder an. Vorsichtig öffnete er die Tür und blieb im Rahmen stehen. Cos Schnarchen war unverändert. Erleichtert trat Aroch in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Seine Mutter lag noch genau wie nach dem Essen auf der Bank in der Decke eingerollt. Auch sie schien zu schlafen. Er trat zu ihr und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich bin bald wieder da, flüsterte er, „mach dir keine Gedanken um mich, falls du aufwachst“ Er überlegte sich kurz zu bleiben, da die alten Leute mit Sicherheit schlafen würden, entschied sich aber doch zu gehen, weil er nicht mehr bis zum nächsten Tag warten wollte um mehr über Ruhs Zustand zu erfahren. Danach würde er wieder hierher zurück kommen und sich überlegen, wie er seine Mutter möglichst schonend mit der Wahrheit konfrontierte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ruh, die am Morgen noch genauso lebhaft wie immer gewesen war, plötzlich ohne Grund reglos, ohnmächtig auf dem Boden liegen konnte. Er wandte sich zum Gehen, als er plötzlich hinter sich ein Murmeln hörte, dass eindeutig zu seiner Mutter gehörte. Er schaute sie noch einmal an und erkannte, dass er sie nicht geweckt hatte, sondern sie nur im Schlaf vor sich hin redete. Wahrscheinlich träumte sie nur etwas. Aroch öffnete die Tür und trat an die frische Luft. Obwohl es tagsüber schon recht mild war, war es nachts noch kalt und so fror Aroch schon nach wenigen Metern bitterlich. Um der Kälte entgegenzuwirken, fing er an zu rennen. Deshalb legte er den Weg zu Ellya und Itath in weniger als zwei Minuten zurück. Im Patientenzimmer brannten immer noch einige Kerzen, die den Raum in Licht tauchten, deshalb klopfte er nicht an die Tür, sondern direkt an das beleuchtete Fenster. Ellyas verrunzeltes Gesicht zeigte sich kurz, bevor sie aus dem Zimmer verschwand. Kurze Zeit später wurde die Haustüre geöffnet und die alte Frau winkte ihn zu sich hinein ins Warme. „Ich dachte mir schon, dass du wieder hier auftauchst“, stellte sie fest, als sie beide vor Ruhs Bett standen. Das kleine Mädchen hatte sich immer noch nicht bewegt. „Was hat sie?“, fragte Aroch. Ellya seufzte. „Da du sowieso nicht gehen wirst, bevor ich dir alles erzählt habe, hat es keinen Sinn das Unvermeidliche noch weiter aufzuschieben. Hör mir gut zu, und versuche alles zu glauben, was ich dir nun erzählen werde. Wahrscheinlich wirst du es nicht verstehen können, aber was ich sage, ist nichts als die Wahrheit. Versuche mir zu folgen, so gut du es vermagst“, sagte sie resignierend. „Was ist nun mit ihr?“, wollte Aroch, der langsam ungeduldig wurde, wissen. „Ruhig, ruhig“, antwortete Ellya, „alles zu seiner Zeit. Zuerst werde ich dir einige Dinge über unser Land erklären. Alle diese Dinge musst du wissen, um Ruhs Zustand zu begreifen“ Aroch zuckte die Schultern. Eigentlich wollte er nur wissen, was mit seiner kleinen Schwester passiert war, und keinen Grundkurs in Geschichte, aber da die alte Frau keine Informationen diesbezüglich freigeben würde ohne ihre Ausführungen beendet zu haben, ließ er sie gewähren. „Vor einigen Jahrhunderten herrschte in der Hauptstadt ein Mann namens Thoran. Er war bei allen Bürgern sehr beliebt, denn er schaffte was vor und nach ihm niemand erreichen konnte. Er sorgte für Frieden zwischen all den zerstrittenen Clans und Provinzen. Durch ihn erlebte dieses Land eine Blütezeit, von der du mit Sicherheit schon einmal gehört haben wirst. Besagter König hatte eine Frau, Miwáyth ihr Name, die weithin für ihre Schönheit bekannt war. Miwáyth war nicht nur unheimlich schön, sondern auch noch intelligent. Und so eignete sie sich mit der Zustimmung ihres Mannes Fähigkeiten an, die die der gewöhnlichen Menschen um ein vielfaches übersteigen. Diese Kräfte erhielt sie durch das Studium einiger Bücher in der Bibliothek des Schlosses, die von Dingen handeln, von denen das Volk auch nicht nur den Hauch einer Ahnung haben darf. Anfangs setzte die Königin ihre Macht für das Volk ein. Sie brachte vertrocknete Felder zum Blühen, heilte kranke und verletzte Menschen und ermöglichte Handwerkern auf verschiedenste Weisen ein leichteres oder effektiveres Arbeiten. Nach mehreren Jahren jedoch erkannte sie, dass sie ihrer Umwelt nicht nur Kraft geben konnte, sondern auch entziehen. Diese überschüssige Energie, die ihrer Meinung nach nicht benötigt wurde und ihr, da sie diese Kräfte beherrschte rechtmäßig gehörte, verwendete sie dazu, ihre Jugend und Schönheit zu bewahren. Dafür jedoch waren gewaltige Kräfte von Nöten. Mehr als die frei verfügbare, ungenutzte Energie her gab. Zuerst entzog sie ein wenig Energie aus Bäumen und anderen Pflanzen. Miwáyth „lieh“ sich deren Energie aus, um sie später, wenn sie selbst wieder über genügend Kräfte verfügte, zurück zu geben. Anfangs gelang ihr das recht gut, doch, das, was sie damit bewirkte reichte ihr nicht mehr und so begann die Königin Tieren und schließlich sogar Menschen die Kräfte zu rauben. Sie konnte mit den Kräften nicht töten. Nicht direkt zumindest. Nur so stark schwächen, dass es bei schwächeren Menschen zum Tod führen konnte. Natürlich konnte Miwáyth ihre Machenschaften nicht lange vor Thoran geheim halten. Als dieser davon erfuhr, untersagte er ihr den Gebrauch jeglicher Magie“ Ellya unterbrach ihre Ausführungen kurz um etwas Wasser aus einem Becher zu trinken. „Was hat der König dann gemacht?“, fragte Aroch, der diese Geschichte zwar sehr interessant fand, aber nicht wusste, ob er es überhaupt glauben sollte, nicht einmal ob er es konnte, wenn er es ernsthaft versuchen würde. Außerdem wusste er nicht, was das Ganze mit Ruh zu tun hatte. Ellya stellte ihren Becher zur Seite. „Er ließ sie kontrollieren. Auf Schritt und Tritt wurde sie von seinem besten Ritter, seinem engsten Vertrauten und Freund, bewacht. Man könnte sagen, dies war Thorans größter Fehler, denn seine Frau, die nach wie vor nichts von ihrer jugendlichen Schönheit verloren hatte, erkannte darin ihre Chance und begann ihren Bewacher zu verlocken. Anfangs setzte sich dieser noch erfolgreich zur Wehr, aber irgendwann kam es, wie es kommen musste und der junge Mann erklärte sich bereit mit ihr zusammen seinen König zu stürzen und an seiner Stelle mit Miwáyth als Königin das Volk zu regieren. Er wollte Thoran nicht töten. Ganz im Gegenteil. Er wollte ihn als Berater am Leben lassen und Miwáyth stimmte seinem Vorschlag zu, obwohl sie insgeheim schon Mordpläne geschmiedet haben musste. Der Putsch wurde auf den Tag des Blumenfestes gelegt. Dieses Fest findet ja auch heute noch jedes Jahr ihm Frühjahr statt. Der König wollte sich hier wie jedes Jahr an der Seite seiner Frau vor dem Volk halten und den Menschen über alle wichtigen Ereignisse des vergangenen Jahres berichten. Anschließend würde er ein Bankett für alle Adligen, einige reiche Kaufleute und alle Bewohner des Schlosses, einschließlich der Diener geben. So wollte es die Tradition. Thoran war sich nach wie vor der Treue seines Ritters sicher und so dachte er sich nichts böses, als dieser ihn nach Draußen führte. Es war bereits spät und der Wein war reichlich geflossen. Auch Thoran hatte einiges getrunken. Deshalb war es ihm nicht unrecht ein wenig frische Nachtluft schnappen zu können. Miwáyth, die vorgegeben hatte müde zu sein und sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen, erwartete die beiden bereits. Thoran erkannte sofort was geschehen war, zog sein Schwert und erstach damit seinen Ritter, bevor dieser überhaupt reagieren konnte. Wahrscheinlich hatte er bereits etwas geahnt, auch wenn er es nicht wahr haben wollte. Doch es war bereits zu spät um seine Frau daran zu hindern ihm die Energie zu entziehen. Mit dem Rest seiner Kräfte versiegelte der Herrscher die Macht seiner Frau und verbannte sie aus dem Königreich. Damit besiegelte er seinen eigenen Tod, doch er glaubte sein Volk geschützt zurückzulassen. Später am Abend fand man die Leiche des Königs und seines Ritters und nahm an, die beiden seien in einem Duell um die Königin ums Leben gekommen und diese, die den Schmerz über diesen tragischen Verlust nicht hatte ertragen können, sei geflohen“ Wieder hörte Ellya auf zu reden um etwas zu trinken. „Was hat das ganze nun mit Ruh zu tun?“, hakte Aroch nach. Er hatte ein ungutes Gefühl, wollte es aber auf keinen Fall wahr haben. Fast hoffte er, Ellya würde nicht weiter sprechen, aber andererseits musste er die Wahrheit doch erfahren. Ellya hob beschwichtigend die Hände. „Alles zu seiner Zeit, mein Kind“, sagte sie wieder und trank einen weiteren Schluck aus ihrem Becher. „Nun… nach einiger Zeit fand Miwáyth einen Weg, den Bann zu umgehen. Sie gewann dadurch immer größere Teile ihrer einstigen Macht wieder zurück. Schließlich konnte sie sogar wieder im Königreich Magie bewirken, auch wenn sie es weiterhin nicht betreten konnte. Da sie Energie benötigte um sich am Leben, und vor allem jung zu halten, versiegelte sie die Kräfte junger, lebhafter Mädchen in einem Kristall, den sie in ihrer neuen Bleibe dicht hinter der Grenze aufbewahrte. Die Mädchen fallen dadurch in einen tiefen Schlaf, aus dem sie aus eigener Kraft nicht mehr erwachen können, die ihre Energie, also ihre Seele, sich nicht dort befindet, wo ihr Körper ruht, sondern in eben jenem Kristall gefangen ist. Miwáyth zieht ein Jahr lang das Leben daraus, bis es vollständig aufgebraucht ist. Da sie dadurch nicht direkt ein lebendiges Wesen tötete, sondern nur einen mit Energie angereicherten Kristall, also etwas totes, kann sie die komplette Energie verwenden. Deshalb sterben ihre Opfer auch nach diesem einen Jahr und die ehemalige Königin sucht sich ein neues Mädchen, welches ihren Vorstellungen entspricht. Genau das ist es, was deiner Schwester momentan widerfährt“, schloss sie ihre Geschichte. Aroch atmete tief ein und aus. Für ihn war klar, dass er seine Schwester nicht diesem Schicksal überlassen würde. Auch Ellya schien sich dessen bewusst zu sein, denn ohne, dass er ihr das erklären musste, sagte sie: „Es gibt einen Weg. Allerdings ist es bisher erst ein einziges Mal gelungen jemanden zu befreien. Und das war vor vielen Jahren“ „Wie? Wie kann ich sie retten?“, schrie Aroch. Sein Herz hämmerte wild. Ellya zuckte die Schultern und schüttelte traurig den Kopf. „Das kann ich dir leider nicht sagen. Da musst du diejenige Fragen, die das bewerkstelligt hat“ „Und wer ist das? Ich werde zu ihr gehen!“ „Sie heißt Ethorinya. Mittlerweile ist sie die Älteste der Baumgänger und lebt in deren Hauptstadt Kíran Senga. Wenn du sie fragen möchtest, musst du dich dorthin begeben“ „Baumgänger? Ich… ich dachte das seien nur Gestalten aus Märchen“, stammelte Aroch verwirrt. Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte die alte Frau. „Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt. Einst herrschte ein reger Handel zwischen den Menschen und den Baumgängern. Doch einige habgierige Menschen betrogen ihre Handelspartner und so zogen sich diese noch weiter in die Wälder zurück, als sie es sowieso schon waren. Mit der Zeit wurden sie zu den Märchengestalten gemacht, die du kennst“, erklärte Ellya ihm. „Unser Dorf liegt nah am Waldrand und war einst ein Ort, in dem die Waren, die an die Baumgänger geliefert wurden, zwischengelagert wurden. Von hier aus wurden sie dann in ein Dorf der Baumgänger gebracht, welches sich nicht tief im Wald befindet. Kír Nanael existiert heute noch immer. Am besten du gehst erst einmal dort hin und fragst nach dem Weg in die Hauptstadt, denn kein Mensch scheint genau zu wissen wo sie liegt“ Aroch dachte einen kurzen Moment über die Reiseroute nach. Vom Dorf in den Wald zu kommen stellte kein Problem dar. Von dort aus nach Kír Nanael schon. Aroch hatte sich noch niemals weiter als einige Meter in den Wald gewagt. Alle vermieden es so gut es nur ging, einen Fuß dorthinein zusetzen. „Wie finde ich zu diesem Dorf?“, fragte er deshalb. „Nun ja, du folgst der alten Handelsstraße. Sie führt direkt dorthin“, antwortete Ellya ihm. „Dann mache ich mich am besten sofort auf den Weg. Je eher ich dort ankomme, desto schneller kann ich Ruh helfen“, sagte Aroch entschlossen, warf einen Blick auf seine Schwester, was ihn in seinem Vorhaben noch mehr bestätigte, und lief auf die Tür zu. „Warte einen Moment!“, rief Ellya ihm nach, „Itath hat noch etwas für dich“ Aroch blieb etwas verärgert über die erneute Verzögerung stehen. Wie als hätte er nur auf diesen einen Moment gewartet, trat der alte Mann ins Zimmer. In den Händen hielt er eine große Holzbox. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte er an Aroch gewandt und reichte ihm die Box. Aroch hatte in all dem Chaos um Ruh vergessen, dass er ja Geburtstag hatte. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass der Himmel bereits eine blassrosa Färbung angenommen hatte. Er war also tatsächlich siebzehn! Das bedeutete in der Box… „Die Waffe!“, rief Aroch und öffnete Den Deckel. Was würde wohl darin sein? Wie jeder Junge hoffte auch er auf ein Schwert, aber auch mit einem Bogen oder einer Axt wäre er zufrieden. Auf den ersten Blick schien die Box leer zu sein. Aroch schob das Stroh, das die Kiste bis oben hin füllte, zur Seite. Nach einer Weile entdeckte er ein Glitzern am Rand. Er griff dort hin und zog einen kleinen Gegenstand aus der Box. „Ein Dolch“, stellte er fest und begutachtete sein Geschenk. Der Griff war aus Metall, dass von schwarzem Leder umwickelt wurde und endete mit einem Gebilde, das an Baumwipfel erinnerte. Die Klinge, die zwar nicht viel länger als seine Hand war, dafür aber unglaublich scharf zu sein schien, steckte in einer Metallscheide, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert war. Er wog ihn einen Moment in der Hand, schob ihn zurück in die Scheide und befestigte das Ganze an seinem Gürtel. „Gefällt er dir?“, fragte Itath. Aroch wusste nicht was er antworten sollte. Es war mit Sicherheit nicht, was er sich erträumt hatte, aber ein Dolch war mit Sicherheit besser als Nichts, also nickte er. „Danke“, murmelte er, schaute Ellya und Itath noch einmal an und streichelte das Gesicht seiner Schwester. Als er gehen wollte fiel ihm noch etwas auf. „Woher weißt du das eigentlich alles?“, fragte er Ellya. Diese antwortete nicht sondern lächelte lediglich geheimnisvoll und winkte. Deshalb machte Aroch sich hastig auf den Weg. Je länger er brauchen würde, desto größer war die Gefahr, seiner Mutter zu begegnen, die ihn am Aufbruch hindern würde. Darum ging er auch nicht nochmal nach Hause, sondern ging direkt auf das Tor zu. „Warte!“, hörte er eine Stimme hinter sich. ‚Mama, oh nein…’, dachte er, doch er entschied sich dafür nicht wegzurennen, sondern sich ihr zu stellen und ihr zu erklären, was er vor hatte. „Ich werde gehen“, sagte er bestimmt, ohne sie überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Sie nickte traurig. „Tu was du für richtig hältst. Ich kann dich sowieso nicht davon abhalten. Aber bitte komm gesund wieder zu mir zurück“, antwortete sie. Aroch schaute seine Mutter verwundert an. „Du versuchst nicht mich aufzuhalten?“ Sie schüttelte hastig den Kopf. „Ich weiß, dass es keinen Sinn machen würde. Wenn ich dich jetzt hier aufhalte, versuchst du es ein anderes Mal. Und irgendwann wird es dir gelingen dich fort zu schleichen. Deshalb möchte ich dir helfen so gut ich kann, wenn ich dich schon ziehen lassen muss. Aus dem Kopf schlagen Ruh zu retten wirst du dir bestimmt nicht“ „Du weist bescheid?“, fragte Aroch nun noch verblüffter. „Natürlich! Ich mag zwar vielleicht nicht mehr so sein, wie ich einmal war, aber ganz dumm und verblendet bin ich nun doch nicht!“, erwiderte sie entsetzt darüber so unterschätzt worden zu sein. „Du weist, dass Ellya dir nicht die Wahrheit gesagt hat? Warum machst du dann nichts?“ „Vielleicht, weil ich ihr glauben wollte? Ich wünschte mir so sehr, dass das, was sie gesagt hat stimmt, und so habe ich mir eingeredet, dass sie keinen Grund hat uns anzulügen. Ich wollte einfach, dass sie recht hat. Es wäre so viel einfacher gewesen…“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie hielt sich die Hände vors Gesicht um das zu verbergen. Wie um ihre Schwäche von vorhin wieder wett zu machen, rang sie um ihre Stärke. Aroch lächelte sie an und nahm sie in die Arme. „Herzlichen Glückwunsch…“, flüsterte sie und drückte einen Beutel an seinen Bauch. Aroch nahm ihn zögernd entgegen und öffnete ihn. Darin befanden sich einige Münzen. „Danke“, murmelte Aroch, der den Wert des Geschenkes zu schätzen wusste, da er erfahren hatte, wie es ist wenig Geld zu besitzen. „Ich hoffe das hilft dir“, sagte sie und reichte ihm noch eine Tasche „Darin sind einige Dinge, die du sicherlich brauchen wirst. Etwas zu essen, eine Decke und wärmere Kleidung als die, die du momentan an hast“ Aroch wurde immer verblüffter. Nicht nur, dass sie ihn einfach gehen ließ, sie brachte ihm auch noch genau die Dinge, die er hatte holen wollen, bevor er gesehen hatte, dass die Sonne bereits bald aufgehen würde. Aber diese Hilfe war wohl das Beste, das sie tun konnte, da sie ja selbst erkannt hatte, dass sie ihn nicht davon abhalten konnte zu gehen. „Danke“, flüsterte er ihr zu und schob sie von sich. Er hatte nicht vor noch lange hier im Dorf zu bleiben. Schon gar nicht heute, da er Geburtstag hatte, was ihn jede Menge Zeit kosten würde, wenn die Dorfbewohner erst einmal aufgestanden waren, und sich Ruhs Zustand mittlerweile bestimmt herumgesprochen hatte. Seine Mutter schien dasselbe zu denken, denn sie wünschte ihm noch eine gute Reise, ermahnte ihn heil zu ihr zurück zu kommen und küsste ihn auf die Stirn. Aroch sah, wie schwer seiner Mutter das fallen musste und ging ohne ein weiteres Wort. Am Tor drehte er sich noch einmal um, winkte ihr zu und ging dann schnellen Schrittes den Weg entlang. --- Nichts ist hier. Nur die Schwärze und ich. War es schon immer so? War nie etwas anderes da? Wenn schon immer nur die Schwärze existiert hat, warum frage ich mich dann wohin der Rest verschwunden ist? Was ist dieser Rest eigentlich? Die Erinnerung an eine ferne Welt? Eine Welt, die aus mehr besteht als aus Schwärze? Eine Welt, die aus Wesen besteht, die mir gleichen? Von weiter Ferne dringt ein Ruf zu mir. Zuerst höre ich ihn nur ganz schwach. Ich will schon sagen, ich habe ihn mir nur eingebildet. Doch dann höre ich ihn erneut. Deutlicher als zuvor. Viel klarer. Diesmal bin ich sicher, dass wirklich nach mir gerufen wird. Er muss aus dieser fernen Welt kommen. Oder von einem anderen Ort. Er entspringt auf jeden Fall nicht der Schwärze, denn in ihm schwingt eine Wärme mit, die hier nicht existiert. Ich versuche diesem Ruf zu folgen. Bemühe mich dorthin zu gelangen, wo er herkommt. Jedes Teilchen meiner Seele strebt dem Ruf entgegen. Mit all meiner Macht konzentriere ich mich darauf nach ihm zu greifen, doch es ist zwecklos. Noch will ich es nicht einsehen, aber mir ist bewusst, dass ich von hier nicht entkommen kann. Wie mit eisigen Krallen hält die Schwärze mich gefangen. Nach kurzer Zeit gebe ich die Flucht auf. Je stärker ich mich darauf konzentriere zu fliehen, desto mehr scheine ich hier festgebunden zu sein. Wieso denke ich an eine Flucht? Woher nehme ich die Gewissheit, dass da mehr existieren muss? Ich bin mir so sicher, dass ich damit recht habe. Was würde ich tun, wenn ich herausfinden sollte, dass es schon immer nur die Schwärze gab? Dass ich niemals an einem anderen Ort war und niemals sein werde? Wäre dieses Wissen schmerzhaft? Sicherlich… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)