Familie und andere Tragödien von Feuermaedchen ================================================================================ Kapitel 1: Erna Wille- Der Familientragödie erster Teil ------------------------------------------------------- Jemand hat mich wach gemacht. Ich weiß nicht wo ich bin, nicht warum ich hier bin und was das soll. Ich liege einfach da, auf einem ziemlich geräumigen, weißen Bett. Auch der Raum ist weiß. Überhaupt ist alles weiß in diesem Raum. Ich liege in einem Bett am Fenster. Aber am Fenster liegen ist in diesem Raum nicht schwer. Das Fenster ist wie eine Wand. Dieser Raum hat keine vier festen Wände aus Stein. Es sind lediglich drei Wände aus Stein und eine Wand aus Glas. Die Wand, zu meiner rechten Seite ist am weitesten von mir entfernt. Das ist die Wand, wo auch die Tür ist. Durch die kommen Menschen hier rein, machen ihr Ding und lassen die Tür während sie arbeiten offen. Während sie arbeiten kommt frische Luft in den Raum. Es riecht dann nicht nach Tod, sondern nach Sauber. Sauber soll wohl nach Leben riechen. Tut es aber nicht. Sauber riecht nach endgültig und fest. Sauber riecht angsteinflößend. Manche die durch die Tür kommen machen ihr Ding gut, manche schlecht. Dann gehen sie wieder raus und die Tür ist zu, und ganz langsam riecht es wieder nach Tod. Durch die Wand mit der Tür kommen viele Menschen hier rein. Menschen die den Menschen um mich herum helfen wollen, oder müssen. Menschen, die den Platz von den verstorbenen Menschen um mich herum einnehmen, und Menschen, die Trauern, weil einer der Menschen in dem Raum in dem ich liege gestorben ist. Die Menschen die den Menschen helfen wollen, sind gute Menschen. Jedenfalls die meisten. Sie machen ihre Sache, manchmal sogar gründlich, oder mit einem Anflug von Mitleid oder Zärtlichkeit. Manchmal machen sie ihre Sache aber auch einfach nur schnell. Alten Menschen muss geholfen werden, das zu tun ist ihr Job. Aber alte Menschen brauchen keine Aufmerksamkeit mehr. Nein, die brauchen sie nicht, vor allem wenn sie sich nicht mehr bewegen können und sabbernd und in die Hose scheißend auf ihren Betten liegen, und von vergangenen Zeiten reden. Was sie brauchen ist die nötige Hygiene und Tod. Aber sterben ist schwer geworden in diesem Haus. Man kommt hier rein und weiß, dass man ohne Sarg nicht mehr raus kommt. Man weiß, wenn ich hier rein gehe, dann werde ich meine Familie nicht mehr wieder sehen. Man weiß, wenn ich hier rein komme, dann werde ich nicht mehr liebevoll behandelt. Dann werde ich schnell behandelt. Schnell und Effektiv. Aber nicht liebevoll. Darum möchte man schnell sterben. Aber das geht eben nicht. Du bekommst chemische Mittel verabreicht, die dich davon abhalten zu sterben. Chemische Mittel, die die Schmerzen die du an irgendeiner Stelle deines Körpers hast, auslöschen. Chemische Mittel, die verhindern sollen, dass du dein Gedächtnis verlierst. Chemische Mittel, die die Funktion deiner Blase erhalten sollen. All sowas ist hier in unserem Frühstück und unserem Abendbrot. Jeder der hier wohnt weiß das. Aber keiner der hier wohnt sagt etwas, kann man ja auch meistens nicht mehr. Schließlich hat man Familie, die einen mit guten Willen her gebracht hat. Keiner von denen hat sich Gedanken gemacht, warum die Familie einen hierher gebracht hat. Hierher gebracht, ins Altenheim, wo Frau Tod an der nächsten Ecke wartet und dich frech angrinst. Eigentlich wollte ich gar nicht hier her. Nie wollte ich hier her. Viele meiner Freundinnen sind vor mir in so ein Haus gekommen und alles was ich danach von ihnen hörte war, dass sie gestorben sind, an dem und dem Tag, um so und so viel Uhr, in dem und dem Haus. Ich war bei jeder Beerdigung. Ich war dann immer froh dass ich noch so mobil bin für mein Alter und meine Familie sich um mich kümmert. Haben sie am Ende doch noch etwas genützt, meine Kinder, dachte ich. Doch dann verließen mich meine Kräfte. Immer wieder fiel mir ein Teller beim Abwaschen aus der Hand auf den Boden und zerbrach. Immer öfter wusch ich weiße Wäsche mit schwarzer Wäsche und dann war alles was vorher weiß war, plötzlich schwarz oder grau. Ich konnte nicht mehr stricken, meine Hand begann fürchterlich zu zittern. Ich konnte auch keine Fernsehsendung mehr schauen, ich konnte einfach nichts mehr sehen. Aber das hat mir nichts ausgemacht. Ich bin mit meinen Sachen ja eh nicht mehr vor die Tür gegangen. Ich bin gar nicht mehr vor die Tür, auf die Straße gegangen. Das Leben draußen ist über die Jahre viel zu hektisch geworden. Ich bin dann vor drei Jahren hier her gekommen. Meine älteste Tochter hatte mir drei oder vier Monate zuvor gesagt, dass sie nicht mehr mit mir fertig würde. Sie hat das niemals so direkt gesagt, aber ihre Worte hörten sich immer wieder so an. Sie müsste jetzt noch mehr arbeiten und dann wären ja auch noch die Kinder da. Die Kinder hier, die Kinder da. Ihr Mann wäre ja auch nicht mehr da. Der würde jetzt in einer anderen Stadt arbeiten, seine eigene Wohnung haben und nur noch an den Wochenenden vorbei kommen können. Ob ich mir nicht vorstellen könne in einem Altenheim zu wohnen. Sie würde mich trotzdem noch Besuchen kommen. Jeden Dienstag. Mit allen drei Kindern und vielleicht auch mit ihren Geschwistern. Es würde fast so sein wie vorher, nur das man sich um mich kümmert und ich nicht so oft allein wäre. So wie sie das sagte klang das alles ganz gut. Ich hatte vergessen was mit meinen Freundinnen passiert war die in so ein Haus gezogen waren. Darum habe ich nach zwei oder drei Monaten ja gesagt, und dann ging alles relativ schnell. Mein Haus wurde ausgeräumt, die Möbel die mir wichtig waren durfte ich behalten und mit ins Altenheim nehmen, alles andere wurde auf den Müll geworfen. Dann brachten sie mit einem kleinen LKW alle Möbel und meine Kleidung in das Altenheim. Ich bekam dort ein kleines Zimmer, das war vollgestellt mit den Möbeln die sie aus meinem Haus hierher geschafft haben. Meine Tochter schaute noch ein- oder zweimal bei mir vorbei. Dann kam sie nie wieder. Ich habe sie in den drei Jahren also nicht viel öfter gesehen. Mit meinem Einzug ins Altenheim hatte sie lediglich ein Haus, in dem sie jetzt wohnen konnte und mich vom Hals. Ich war ihr irgendwie böse. Mit dem Einzug in das Altenheim hatte ich schlagartig nichts mehr zu tun. Der Abwasch wurde hier von Fachpersonal gemacht. Genau wie die Wäsche. Es gab nichts zu putzen, weil nie etwas dreckig war. Auch dafür gab es Fachkräfte. Mit vollem Einsatz betätigen war also nicht mehr möglich. Allerdings konnte ich auch nicht mehr kleinen Arbeiten für alte Frauen nachgehen. Ich hatte ja Parkinson bekommen und zum Stricken konnte ich die Hände einfach nicht mehr still halten. Ich habe mich dann mit Herr Bartels beschäftigt. Herr Bartels war der einzige Mann mit dem ich noch reden konnte. Aber Herr Bartels war blind. Darum konnte er nicht mehr lesen. Aber er bat mich, ihm vorzulesen. Das tat ich jeden Tag, in jeder freien Minute und das waren wahrlich viele. Aber dann starb Herr Bartels. Er starb einen tragischen Tod. Herr Bartels stürzte die Treppe hinab, die von seiner Wohnetage in meine führt. Herr Bartels starb, weil er auf dem Weg zu mir war. Ich habe mir die Schuld an seinem Tod gegeben. Ich habe mich dann mit dem Haus befasst. Es hat drei Etagen. Im Erdgeschoss sind nur ein paar große Räume, in denen man uns manchmal irgendwelche Sendungen zeigt. Damit wir nicht zu abgeschnitten sind von der Welt und etwas erleben. Aber die meisten merken sowieso nicht was sie schauen. Die meisten merken gar nichts mehr. In der ersten und der zweiten Etage wohnen dann die Alten, die sich noch selber versorgen könnten, wären da nicht die Menschen, die sich Altenpfleger nennen. Wenn du in das Altenheim kommst, dann nehmen sie dich unter ihre Fittiche und dann wirst du gepflegt, bis du glaubst, dass du das alles nicht mehr selber kannst und sie machen lässt. Manchmal bist du dann sogar wirklich krank. Manchmal, da kannst du dann wirklich nicht mehr, weil sie dich zu lang gepflegt haben. Sie haben dich kaputt gepflegt. Wenn sie dich so weit haben, dann kommst du von der ersten oder zweiten Etage, in denen du sogar noch dein eigenes Zimmer hattest, mit deinen eigenen Möbeln, in die dritte Etage. In der dritten Etage endet dann dein Leben. Da wirst du in ein großes Bett gelegt und wartest dann auf deinen Tod. Die meisten bekommen davon nichts mehr mit, aber ich, ich merke das alles noch. Ich weiß dass sie sich nie irren. Wenn du einmal da oben bist, dann kommst du nicht mehr runter. Denn oben riecht es nach Krankenhaus. Sauber und endgültig. In der dritten Etage ist alles weiß. In der ersten und zweiten Etage riecht es nach alten Menschen und deren Ausscheidungen. Da riecht es noch nach Leben. Nach langsamem, stockendem Leben, aber nach Leben. Oben nicht. Oben stirbt man. Das wusste ich nach einem Jahr und ich habe gehofft, dass ich nicht zu schnell nach da oben muss. Nachdem ich dann ein Jahr im Altenheim war und wider aller Erwartungen doch so einiges erlebt hatte, mal mit jemandem zusammen, mal allein, aber das meiste doch allein, kam dann plötzlich Frau Tod. Frau Tod begleitete mich von da an überall mit hin. Frau Tod war da, wenn ich von einem dieser Altenpfleger gebadet wurde, Frau Tod saß beim Essen neben mir. Frau Tod schaute mit mir aus dem Fenster und sie beobachtete mit mir die anderen Alten. Frau Tod bewachte meinen Schlaf und nickte mir früh morgens zu, wenn ich aufwachte. Frau Tod hatte zu alledem noch Kraft, denn Frau Tod war noch jung. Frau Tod war schön und vor allen Dingen hatte sie einen Charakter, den man ihr ansehen konnte. Ein halbes Jahr schwiegen Frau Tod und ich uns an. Sie hatte keine Lust mit mir zu reden und ich wollte auch nicht mit ihr reden. Über was redet man schon mit Frau Tod? Aber dann, irgendwann nach einem halben Jahr sagte ich zu Frau Tod: „Warum nehmen sie mich nicht einfach mit?“, und Frau Tod antwortete: „Weil ich Sie noch ein bisschen beobachten möchte.“ Dann redeten wir so über dies und das und nach einem Jahr bekam ich einen Schlaganfall. Ich hörte Frau Tod lachen als irgendwo in meinem Gehirn eine Arterie platzte. Seit diesem Vorfall war ich in der dritten Etage und Frau Tod weg. Die Wand hinter mir und jene, die mir gegenüber ist, an der sind weder Fenster, noch Türen. Da stehen einfach nur Betten dran. Vier an jeder Wand. Die Fußenden der Betten stehen immer zueinander gedreht. Man kann ganz genau sehen wer einem gegenüber liegt, aber man kann nicht mit ihnen reden. Alle sabbern und kacken in die Betten, weil sie einfach nichts anderes mehr können. Seit meinem Schlaganfall kann mich keiner mehr verstehen. Und ich kacke genauso viel ins Bett wie die anderen Alten. Ich sabbere fast genauso viel wie alle anderen in diesem Raum und ich glaube, anders aussehen tu ich auch nicht mehr. Ich finde es traurig dass es so mit mir enden muss. Aber es ist ja noch nicht zu Ende. Ich warte noch. Gestern war eine Krankenschwester bei mir, die mir sagte, dass meine Familie mich besuchen kommen will. Sie hat mir meine Spucke aus dem Gesicht gewischt, meine Bettwäsche und meine Windel gewechselt und mir am Ende beinahe liebevoll über die Stirn gestrichen. Dann hat sie sich umgedreht und ist gegangen. Alle die mir irgendwie Liebe nahe bringen drehen sich im nächsten Moment um und gehen. Meistens sehe ich sie dann nicht wieder. Und jetzt sind sie da. Ich weiß wieder warum ich hier liege und was das soll. Ich weiß wer mich wach gemacht hat… Meine älteste Tochter, ihre beiden jüngeren Brüder und deren Kinder. Es sind viele geworden. Ich kann sie nicht zählen. Sie haben Kinder auf ihren Armen, Kinder stehen hinter ihnen und vor ihnen, Kinder stehen links und rechts neben meinem Bett. Ich weiß nicht so ganz ob das die Wahrheit ist. Eigentlich wollten sie nämlich keine Kinder haben. Sie wollten keine Familien gründen, weil ihre so schlecht war. Aber am Ende haben sie es doch gemacht. Ich weiß nicht warum. Wenn ich mir früher etwas gesagt habe, dann habe ich das auch gehalten und nicht später doch das gemacht, was alle anderen in meinem Alter auch taten. Jedenfalls hoffte ich das. Meine Tochter gibt das Kind auf ihrem Arm an ein Kind das hinter ihr steht weiter, setzt sich an mein Bett, nimmt meine Hand in ihre Hand, streicht mir ein Haar von der Stirn und beginnt zu reden. „Mama… es tut mir Leid wie das alles hier gelaufen ist. Ich wollte nicht dass es so endet. Wirklich! Ich wollte dich jede Woche besuchen kommen und ich habe das ja auch ein oder zweimal gemacht. Aber dann, dann hat sich eine ganze Menge in meinem Leben verschoben. Ich war allein mit den Kindern und der Arbeit. Mama, ich war echt überfordert. Ich hab es dann zeitlich einfach nicht mehr gepackt und bin dich dann nicht mehr Besuchen gekommen. Aber ich hab Paul und Fred gesagt dass sie dich mal besuchen gehen sollen. Schließlich sind sie ja auch deine Söhne, aber die wollten nicht. Die haben gesagt, wenn du hier bist, dann ertragen sie das nicht. Weil du so alt geworden bist und in dem Altenheim so viele Alte um dich rum sind. Also ist keiner gekommen. Das tut mir wirklich leid Mama, wirklich! Und dann habe ich gehört dass du einen Schlaganfall hattest. Das haben sie mir am Telefon gesagt und das du nicht mehr viel Zeit hast. Ich solle dich nochmal besuchen kommen. Du würdest nicht antworten können, aber du würdest merken dass wir da sind. Du würdest sogar merken wer mit dir spricht und verstehen was er sagt. Aber… Mama…“ und dann fing sie an zu weinen, „Mama, ich wollte nicht das das alles so kommt! Ich wollte nur, dass es dir gut geht. Wirklich!“ Sie suchte nach einem Taschentuch, fand es und schnäuzte hinein. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Ganz langsam beugte sie sich vor und küsste mich auf die Stirn. So wie ich es früher immer bei ihr getan hatte, wenn sie abends nicht einschlafen konnte, oder wenn ich sie bis zum Abend verabschiedete. Dann stand sie auf und ging. Mit ihr ging auch Fred und mit den beiden verschwanden alle Kinder aus dem Raum. Jetzt gab es nur noch mich, Paul und die anderen Alten, die immer noch sabberten, kackten oder irgendetwas Unverständliches redeten. „Ich wollte sie abhalten- Mutter. Ich habe ganz lange und ganz viel mit ihr gesprochen, aber sie wollte sich nicht umstimmen lassen. Sie war ganz sicher dass es das Beste für dich ist, wenn du ins Altenheim kommst. Weil man dann immer auf dich schauen kann und dir nichts passiert. Im Grunde ist das ein richtig guter Gedanke von ihr gewesen, aber ein Altersheim ist nicht das richtige. Ich habe dann einfach aufgehört mit ihr zu reden. Ich habe sie machen lassen. Mutter, das war ein Fehler, verzeih mir, bitte. Weißt du, ich konnte gar nicht anders. Sie hat ja vorgeschlagen dass du zu mir ziehen kannst. Ich hätt mich auch um dich gekümmert. Das bin ich dir schließlich Schuldig. Nach all dem was ich dir angetan habe, ich habe es dir nicht leicht gemacht. Das weiß ich jetzt. Aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Mutter, ich habe Jura studiert. Das ist schon etwas länger her. Eigentlich habe ich es gar nicht lange bei all den anderen im Abrisshaus ausgehalten. Aber ich wollte auch nicht zurück zu euch kommen, davon hat mich mein Stolz abgehalten. Ich bin jetzt ein Anwalt und habe sogar meine eigene Kanzlei. Ich habe auch schon viele Prozesse gewonnen. Ich verdiene auch recht gut, aber ich habe noch keine Frau gefunden. Klar, ich hatte schon viele Freundinnen. Vor allen Dingen früher. Aber die sind alle gegangen. Ich wäre zu spießig, oder zu komisch geworden. Die haben einfach nicht verstanden dass sie ihr Leben nicht immer so leben können wie sie das in ihrer Jungend getan haben. Weißt du, das macht mich traurig. Fred hat eine Frau und vier Kinder. Die sind glücklich und haben letztens ihr eigenes Haus gebaut. Dafür habe ich ihm Geld geliehen, dann muss er es sich nicht bei der Bank ausleihen und hat dann nicht so viel Stress mit dem zurückzahlen und Aufschlägen und all sowas. Er soll es mir einfach wieder geben wenn er etwas übrig hat. Schließlich muss seine Familie ja ernährt werden. Wenn er mir das Geld nicht wieder gibt, dann werd ich ihm auch nicht böse sein. Ich habe doch genug. Mir fehlt es an nichts. Ich habe alles was man materiell haben kann. Wirklich alles. Ich habe sogar mehr als die meisten Menschen. Ja, eigentlich müsste ich glücklich sein. Aber ich bin es nicht. Ich kann nicht glücklich sein. Mir fehlt die Liebe. Mutter, ich habe noch nie jemanden wirklich geliebt. Jeder kann sich verlieben und in jeden verliebt sich mindestens einer. Aber nicht in mich. Dabei habe ich doch alles was man haben kann. Warum also? Warum?“ Auch Paul fing an zu weinen. Das verwunderte mich ein bisschen. Paul hatte in seiner Jugend nie geweint. Nicht einmal. Er hatte auch nicht geweint als er mit sechzehn von zu Hause auszog. Wegen seiner Einstellung. ‚Fuck parental advisory‘ Aus, und raus, und weg war Paul. Er kam auch nicht wieder. Aber jetzt stand er da an meinem Bett. Es war ein unglaubliches Gefühl. Paul war wieder da. Er redete mit mir, es ist etwas aus ihm geworden. Er hat sein Leben im Griff. Jetzt musste auch ich weinen… irgendwie. Paul redete noch viel, aber als die erste Träne meine Wange hinab ran, öffnete sich die Tür und herein kam Frau Tod. Guten Tag, Frau Tot! Gut, danke! „Bald nehm ich dich mit Erna.“, sagte Frau Tod, grinste mich frech an, schaute sich in dem Raum um, den sie nur allzu gut kannte und setze sich dann auf die andere Seite des Bettes. Paul indes erzählte weiter. „Es tut mir auch Leid das ich damals einfach gegangen bin.“, unglaublich wie er meine Gedanken lesen konnte. Es ist nicht schlimm, ich habe dir vergeben. Das würde ich ihm gerne sagen. Aber er hört mich nicht, oder er versteht mich nicht. Eines von beiden ist es, das uns davon abhält zu reden. Ich würde so gerne mit ihm reden. Endlich nach knapp 40 Jahren. Aber es geht nicht. Darum erzählt er weiter: „Ich habe damals trotzdem oft an euch gedacht. Ihr wart und seid meine Familie und ich bin einfach gegangen. Das war nicht fair. Aber ich bin ja jetzt wieder gekommen und ich habe Fred Geld geliehen und ich würde das auch nochmal machen. Aber es ist immer so eine Grunddistanz in den Blicken von beiden. Von ihr und von Fred. Ich komm einfach nicht mehr an sie ran. Ich schaff das einfach nicht. Nein. Mutter, wenn du gehst, dann ist das einzige Band weg, das mich noch mit meiner Familie verbunden hat. Aber die Ärzte sagen dass es bald so weit sein wird. Mutter, wir sehen uns wieder, ich spüre das. Ich werde dir dann alles erklären und vielleicht wirst du das verstehen. Dann sind wir wieder eine Familie. Wir können ja wenigstens so tun. Nur ein bisschen. Damit ich jemanden habe. Ich bin allein, ich habe keinen.“ Das sagte er. Mein Sohn, der mit vielen anderen Punks in ein Abrisshaus gezogen ist, indem sich doch eigentlich alle geliebt haben müssen. Wie sonst sollte sowas funktionieren? Er, der Rebell unsrer Familie ist allein. Ich würde jetzt gerne seine Hand nehmen und sagen dass ich immer bei ihm bleiben werde. Aber ich kann nicht. Ich kann meine Hand nicht bewegen. Darum bleibt meine Hand auf meinem Bauch liegen, da wo meine Tochter sie abgelegt hat und Paul so allein wie vor unserem Gespräch. Ich würde ihm gerne helfen. So gern. Dieser eine Gedanke geht immer wieder durch meinen Kopf. Ich möchte ihm endlich helfen können, weil ich das vorher nicht konnte. Aber jetzt bin ich zu alt und Paul schon seine eigenen Wege gegangen. Zu lang, viel zu lang. Paul erzählte dann noch dies und das aus seinem Leben und ich musste weiter weinen. Ich konnte nicht anders als die ganze Zeit zu weinen. Ich weiß nicht ob er das so realisiert hat, dass ich um meinen Jungen weine. Ob er überhaupt gemerkt hat dass ich weinte. Er hat mich dann auch auf die Stirn geküsst. Aber es war irgendwie anders. Wenn meine Tochter mich auf die Stirn küsst, dann weiß ich dass sie das macht, weil wir das immer so gemacht haben und es eine Art Gewohnheit von ihr ist. Aber wenn er das macht, dann ist das Liebe. Liebe, die er mir vorher nicht zeigen wollte. Oder konnte. Er hat es einfach nicht gemacht. Dann stand er auf und ging. Mein Sohn ging durch die Wand mit der Tür. Tür geht auf, Sohn raus und zu. Ich wusste, wenn sich diese Tür das nächste Mal öffnet, dann werde ich das nicht mehr mitbekommen. Jetzt kann ich in Ruhe sterben, denn jetzt weiß ich um meinen verlorenen Sohn. Und dann küsste Frau Tod meine Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)