Hungerstreik von Zzzonked ================================================================================ Kapitel 7: seacht ----------------- ES IST VORBEI. Da das hier wirklich das absolut allerletzte Kapitel ist, denke ich, dass ich noch etwas dazu sagen kann: Diese Geschichte ist mir mit der Zeit sehr ans Herz gewachsen, irgendwie... Und es ist auf der einen Seite ein gutes, auf der anderen Seite ein komisches Gefühl, sie jetzt hier zu beenden. Die KAPITELTITEL sind, wie sicherlich vermutet, irische Zahlen. Von eins bis sieben. Die ZITATE sind dem Tagebuch von Bobby Sands entnommen. Die ersten siebzehn Tage seines Hungerstreikes führte er ein Tagebuch und die Zeilen sollten so eigentlich in der chronologischen Reihenfolge sein. Das letzte ist wohl das berühmteste und ich finde es sehr, sehr beeindruckend. Irgendwie. _________________________________________ ›Ich bin kein Mörder, Seán. Ich vermisse dich. Es ist okay. Ich möchte nicht, dass du etwas Falsches denkst. Ich tu das hier nicht für mich. Nicht nur. Für unser Land und für unsere Rechte. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, Seán. Und zu sterben. Falls wir uns nicht mehr sehen: Ich habe dich geliebt. Du warst der beste Freund, den man sich wünschen kann. Es tut mir Leid.‹ Er blickt auf den Zettel, auf Kierans säuberliche, enge Handschrift. Teilweise sehen die Buchstaben ein wenig verwackelt aus, als hätte seine Hand beim Schreiben gezittert. Er weiß nicht, wie oft er den Zettel in den letzten Tagen herausgeholt und angestarrt hat. Es müssen unzählige Male gewesen sein. Jedes Mal hat er schlucken müssen, zwischendurch anhalten, auch wenn es nur wenig Worte sind. Er glaubt ihm. Vielleicht, um sich selbst besser zu fühlen, vielleicht, um sein eigenes Andenken an Kieran nicht zu verunreinigen. Jedenfalls glaubt er ihm, wenn er sagt, dass er kein Mörder ist. Geraldine hat erzählt, es wäre ein gestohlenes Auto gewesen, ein gestohlenes Auto und ein bisschen Sprengstoff. »Ein bisschen Sprengstoff.« Er ist froh, dass er nicht weiß, wofür. Doch genau das waren die Verbrechen, die ihm 22 Jahre Haft beschert haben. Zweiundzwanzig Jahre. Und kein Mord. Unwillkürlich lächelt er. Was ist schon ein Auto gegen ein Menschenleben? Er ist froh, so unendlich froh, dass er sich irgendwo nicht getäuscht hat. Nicht in Kieran. Nicht in seinem besten Freund. Er ist kein Mörder. Er ist unschuldig. Und gerade dabei, in einem Gefängnis zu sterben. Mit einem Mal hat ihn die Realität wieder eingeholt und behutsam legt er den Zettel zurück auf den Schreibtisch, bevor er beginnt, in der Wohnung herumzuwandern. Er geht in die Küche, dann wieder in das Schlafzimmer. Er sieht auf die Uhr, aus dem Fenster, auf den Kalendar, der an der Wand hängt. Das Titelbild dieses Monats sind die Cliffs Of Moher. Es ist der 02. August 1981, Sonntag. Geraldine will morgen wieder anrufen. Oder früher. Je nachdem. Sein Schritt führt ihn wieder in die Küche, wie von ganz allein. Und ebenfalls wie von ganz allein finden seine Augen die Sonntagszeitung, die auf dem Tisch liegt. Ein wenig zerknickt. Sie ist nicht aufgeschlagen, die Schlagzeile lautet: »LYNCH DIES AFTER 71-DAY HUNGER STRIKE«. Der Artikel berichtet von Kevin, Kevin Lynch. Am 22. Mai eingetreten. Wie Kieran. Nur, dass Kieran noch lebt. Noch. Vor einiger Zeit, die ihm wie Jahre erscheint, hatte er noch geschrieben, dass ihm bereits 66 Tage irreal erscheinen. Jetzt ist es sein 72., der längste Hungerstreik nach Terence MacSwiney 1920. Bisher. Er wusste, weiß, dass Kieran stark ist. Willensstark. Aber so sehr? Es ist irreal und fast möchte er es nicht glauben. Doch es entspricht den Tatsachen, ist die reine Wahrheit. Kraftlos lässt er sich auf einen Stuhl fallen und starrt das lachende Gesicht von Kevin Lynch an. Ob er im Tod auch noch lacht? Lächelt, vielleicht? Er hält sich den Kopf, zu viel, über das er nicht nachdenken will. Gestern hatte Geraldine ihm mit bedeckter Stimme davon erzählt, wie Margaret Doherty ihrem Sohn ein Bild gezeigt hatte, ein »wunderschönes« Bild, wie Kieran wohl fand. Er kann nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schießen. Es ist nicht irgendein Bild, nicht irgendein Ort, nicht grundlos wurde es gezeigt. Es ist ein verdammter Friedhof. Und durch Kierans Antwort wurde bereits eine Entscheidung getroffen. Er weiß es. Er beißt sich auf die Lippe, um nicht laut loszuschluchzen, dann steht er auf, stützt sich mit den Armen gegen die Wand ab. Er weiß, dass es zu Ende geht. Es kann nicht anders sein. Kieran kann sich kaum bewegen, seine dünne Haut, sein ganzer Körper ist mehr als nur empfindlich, sein Sehvermögen auf ein Minimum geschrumpft. Es ist fast vorbei. Und er hasst sich in diesem Moment dafür, dass er fast schon Erleichterung verspürt. Weil er es nicht wirklich tut. Weil er weiß, dass er alles dafür getan hätte, dass Kierans Leben anders endet. Nicht durch einen Hungerstreik. Er würde alles dafür tun, dass ihm nichts passiert, dass er aufgibt, dass er einsieht. Aber ist es nicht längst zu spät dafür? Mitten in seine Gedanken klingelt das Telefon und er bricht zusammen, auf den kalten Küchenboden. Nach einer gefühlten Ewigkeit schafft er es, sich aufzuraffen, aufzustehen, zu dem noch immer klingenden Telefon zu gehen. Einen Moment lang wartet er, bis seine unkontrolliert zitternde Hand langsam ruhiger wird, dann nimmt er ab. Er sagt nichts, kann nichts sagen. »Seán?« Geraldine wirkt aufgeregt, nicht am Boden zerstört. Er weiß nicht, was er tun soll. Hat es etwas zu bedeuten? Wenn ja, was? »Ja«, haucht er schließlich, begierig zu hören, was sie ihm sagen will. Vielleicht ist es vorbei, anders, als gedacht, vielleicht wird doch noch alles gut. »Ich brauche deine Hilfe«, flüstert sie. Er nickt, schweigt jedoch. Sie fährt fort: »Kieran... er hat uns um etwas gebeten. Gestern. Eine Vitamintablette. Einen Tee. Und etwas zu essen. Seán, was würdest du tun?« Sie klingt mit einem Mal nicht mehr nur aufgeregt, ein verzweifelter Unterton hat sich eingeschlichen. »Es ihm geben«, ist seine Antwort, die seltsam kratzig, rau klingt. Nicht einen Moment hat er darüber nachgedacht, nicht einen Moment abgewägt, was das für ein Verrat an sämtlichen anderen Hungerstreikenden wäre. An allen anderen Menschen, Iren. Denn für ihn ist es nicht falsch. Ist es denn falsch, ein Menschenleben zu retten? »Okay.« Dann legt sie auf und er lässt sich gegen die Wand sacken. Kann es möglich sein? Seine Gedanken rasen, ebenso wie sein Herz. Kann es möglich sein, dass Kieran lebt. Dass er überlebt. Er möchte schreien, springen, weinen, tanzen. Er tut es nicht. Weil er irgendwie doch das Gefühl hat, dass es noch nicht vorbei ist. Tief atmet er durch. Kieran wird gerettet. Kieran wird nicht sterben, nicht sterben, nicht verhungern. Er wird es schaffen, er wird zwar aufgeben, dafür aber leben. Er lächelt unwillkürlich. Ja, Kieran wird leben. Und er hat den entscheidenden Schritt in diese Richtung getan. Mit einem Mal verzieht er den Mund jedoch wieder. Gestern hatte Geraldine gefragt. Gestern hatte er bereits darum gebeten. 71 Tage mit dem festen Willen, nichts zu essen, mit der Kraft, das für sein Volk durchzuhalten, ist eine Sache. Einen einzigen Tag nur mit dem Drang, etwas essen zu müssen, zu wollen, eine andere. Eine ganz andere. Er schluckt. Es ist brutal, es ist grausam. Und trotzdem: Er wird leben. Weil dieser eine Tag ihn nicht umbringen wird. Wieder ergreift das Lächeln Besitz von seinem Gesicht. Es wird gut, alles gut. Das Telefon klingelt. Noch immer lächelnd geht er darauf zu, greift nach dem Hörer, sagt seinen Namen, gespannt darauf zu hören, wie Kieran es aufnimmt, wie es ihm geht, wie es nun weitergehen wird, nun, wo die Entscheidung getroffen worden ist, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, ihn leben zu lassen. »Er liegt im Koma«, haucht Geraldine ihm aus dem Telefonhörer entgegen. »Wir wollten es ihm geben, wirklich, aber es war schon zu spät. Er liegt im Koma.« Und mit diesen Sätzen liegt seine ganze Welt in Trümmern. Wie betäubt legt er den Hörer auf, nicht in der Lage, mit Geraldine zu sprechen. Trotzdem hört er noch ihr: »Ich rufe an, sobald er... sobald sich etwas tut.« Kieran, der in seinen Gedanken mit einem Mal ganz lebendig war, ist jetzt schon wieder so gut wie tot. Im Koma . Er kann die Tränen nicht zurückhalten, warm laufen sie seine Wangen hinunter. Im Koma. Nachdem er aufgeben wollte. Nachdem er leben wollte. Warum gerade in diesem Augenblick? War es dieser eine Tag, der der Grund war? Er schluckt, hustet, schluchzt. Er weiß nicht, was er tun kann, doch dieses Mal ist es nicht das altbekannte, taube Gefühl, sondern pure Verzweiflung. Er stolpert in Richtung Schlafzimmer, kommt jedoch nicht weiter, da alle paar Schritte seine Beine versagen, sich weigern, ihn weiter zu tragen. Er lässt sich am Türrahmen hinunter sinken, die Beine weit von sich gestreckt, die Augen leer und von tiefen Ringen umgeben. Er hat sich die letzten Tage immer gesagt, Gewissheit wäre das, was er brauchte. Jetzt weiß er, dass es genau das nicht ist. Aber vor allem brauchte er keine Hoffnungen, die nur wenige Momente später wieder zerstört werden. Einen Moment lang überlegt er, ob er das Telefon ausstöpseln soll, die unvermeidliche Nachricht einfach ignorieren. Er weiß, dass »sobald sich etwas tut« nur heißen kann: »Sobald er tot ist.« Und den Gedanken daran kann er nicht ertragen. Stattdessen steht er auf, schleicht auf wackligen Beinen in Richtung Bett, auf das er sich augenblicklich fallen lässt. Eine neue Woge von Tränen bahnt sich seinen Weg und ehe er es sich versieht, ist er eingeschlafen. Einfach so. Ungewollt. Einige Stunden später wird er vom steten Telefonklingeln geweckt. Einmal klingelt es, zweimal, dreimal. Immer und immer wieder. Es hallt nach in seinem Kopf, wie ein Echo. Ring, ring, ring. ○● Eine Frau betritt den Raum. Sie tritt näher und eine einzelne Träne rollt ihr über das Gesicht. »Kieran«, sagt sie leise, »oh Gott, Kieran.« Er versucht, aufzusehen, versucht, sie anzusehen, zu erkennen, wer es ist. Sie kniet sich neben ihn, möchte nach seiner Hand greifen, hält sich jedoch im letzten Moment zurück. Sie hat Angst, ihn zu verletzen. Berechtigt. »Kieran«, flüstert sie erneut und nun erkennt er sie auch. »Mom«, formen seine Lippen, doch kein Laut verlässt sie. Sie lächelt. »Ja. Ich habe dir etwas mitgebracht, weißt du?« Sie zieht etwas aus der Tasche, ein Foto, und hält es ihm dicht vor sein Gesicht. Er möchte selbst danach greifen, doch sie hebt eine Hand und hält ihn somit davon ab. »Lass, Kieran«, sagt sie vorsichtig, »ich halte das.« Er stellt seine Bemühungen ein, versucht nun, etwas auf dem Bild zu erkennen. Er kann fast nichts sehen. Fast nichts. »Es ist wunderschön.« Seine Stimme klingt seltsam, unvertraut. Sie schluckt. Sie weiß, warum sie gerade dieses Bild mitgebracht hat. Sie möchte es allerdings nicht wahrhaben, sich selbst nicht eingestehen. »G-«, setzt sie an, doch ihr Sohn unterbricht sie. »Wunderschön«, sagt er andächtig, »es ist wunderschön.« -”Our revenge will be the laughter of our children.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)