Wir, die wir übrig bleiben von Jeschi ================================================================================ Kapitel 1: Wir, die wir übrig bleiben ------------------------------------- Menschen kommen, Menschen gehen. Genau genommen sind wir alle nur geboren, um zu sterben. Bei manchen Menschen, da ist es einen egal, ob sie sterben. Was geht mich denn die Tante des Nachbarn an? Bei anderen Menschen, da denkt man, es geschieht ihnen nur Recht! Warum noch Mitleid haben, wenn ein Mörder stirbt? Es gibt auch Menschen, bei denen man fest daran glaubt, dass es besser so ist, dass es gut ist, dass sie tot sind. Warum hätte sich meine Großmutter noch weiter mit ihrer schweren Krankheit quälen sollen? Bettlägerigkeit hat nichts mehr mit einem menschenwürdigen Leben zu tun! Aber dann gibt es auch Menschen, bei denen denkt man nur, dass sie es nicht verdient haben. Das ihr Leben zu kurz gewesen war, sie noch nicht alles von der Welt gesehen haben. Noch fast gar nichts! Und dann weint man um sie, weil es einfach unfair ist. Solche Menschen gibt mehr als genug. Junge Väter, die auf dem Weg zur Arbeit verunglücken. Junge Frauen, die nach einer Disco Nacht vergewaltigt und danach ermordet werden. Und ihn. Vor allem bei ihm ist es so wahnsinnig unfair! So viel hatte er nun schon erleiden müssen. Boris, die Abtei, den Tod seiner Eltern. Und jetzt wo er frei ist, wird er nicht mehr lange zu Leben haben. Und wer ist schuld daran? Der Mann, der schon seit Jahren sein Glück, sein ganzes Leben zerstört. Boris Balkov. Am liebsten würde ich ihn töten, für das, was er ihm angetan hat. Was er zwangsläufig uns antut. Ja, sein Tod wird zu den Toden gehören, die nichts Gutes an sich haben, wenn ein Tod das überhaupt je hat. Aber ich habe das Gefühl, als wäre sein Tod ein Grund, dass die ganze Welt weinen würde. So wie damals, bei Michael Jackson. Vielleicht wird es auch kein großes Drama um ihn geben, auch dass ist möglich. Höchstwahrscheinlich wird sich die Welt einfach weiter drehen und keiner wird an ihn denken. Aber meine persönliche Welt, die wird stehen bleiben. Mein Leben, es wird Enden. Mit Yuriys Tod wird auch mein Ende kommen! Ich blicke meinen Geliebten an. Er ist so blass, seine Haut fast weiß. Wenn er mich berührt, fröstelt es mich, so kalt ist er. Ich sehe ihm die Schmerzen an, die er versucht, mit Tabletten zu stillen. Ich sehe ihm das Leid an, dass seinen Körper schwächt. Und trotzdem sitzt er neben mir auf der Couch, stolz und mit geradem Oberkörper. Fest umklammert er seine Tasse mit Kaffee. Die Medikamente machen ihn so müde. Und er sieht mich an, mit seinen klaren, eisblauen Augen und lächelt. Und wieder einmal bewundere ich ihn. Dafür, dass er noch immer Lächeln kann. Und etwas in mir ist sich sicher, dass er auch noch Lächeln wird, wenn er dem Tod ins Auge blickt! “Boris…“, murmelt er und ich blicke ihn fragend an. Gerade eben hat er noch an mir gelehnt. Gerade eben habe ich ihm noch gesagt, dass ich ihn nicht gehen lassen werde! Ich werde nicht hier sitzen und dabei zu sehen, wie er stirbt! Das Leben, es hat noch so viel für ihn zu bieten! “Du wirst mich gehen lassen müssen,“ flüstert er leise, seine Nase vergräbt er an meinem Hals. Und ich schlinge die Arme um ihn und kann meine Tränen nicht zurückhalten. Schwäche… Lange Zeit habe ich gegen jeden Funken Schwäche angekämpft. Ich wollte stark sein. Ich musste stark sein. In der Abtei konnte nur der Stärkere gewinnen. Jetzt aber darf ich schwach sein. Und ich bin es und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich werde den wichtigsten Menschen in meinem Leben verlieren und das bald. Wenn das kein Grund ist, schwach zu sein, dann weiß ich auch nicht. Und theoretisch war ich schon schwach, als ich mich in ihn verliebt habe… Als er eingeschlafen ist, trage ich ihn ins Bett. Sein Körper ist so leicht, er hat so viel abgenommen. Ich sehe ihm zu, während er schläft. Er ist so blass… Am liebsten würde ich meinen Blick abwenden, kann das Leid nicht ertragen, kann nicht sehen, wie er daliegt, schwach und verletzlich. Doch ich kann es nicht. Kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Die Krankheit zeichnet ihn - aber er ist so schön. So schön… Yuriy findet sich selbst schon lange nicht mehr hübsch. Er sieht nur noch das Virus in sich, das ihn langsam zerstört. Er sieht nicht mehr die Lichtspiegelungen in seinen wunderschönen Augen, sieht nicht mehr das Strahlen, das von seinem seltenen Lächeln ausgeht. Doch ich sehe es. Mehr denn je. Auch, weil ich weiß, dass ich es bald nicht mehr sehen kann. Und ich das Gefühle habe, jetzt jede Sekunde jedes kleinste Detail von ihm einsaugen zu müssen, in mein Gedächtnis brennen zu müssen, damit ich ihn nie wieder vergessen werden! Als könnte ich ihn jemals vergessen… Am nächsten Morgen flüstert er mir die Worte zu, vor denen ich mich gefürchtet habe. “Ich will sterben.“ Ich habe geglaubt, er würde kämpfen. Die Hoffnung nicht aufgeben. Und jetzt… jetzt ist er bereit für den Tod. Er sehnt sich danach, sehnt sich nach Erlösung. Er ist dafür bereit – ich nicht. Und vielleicht, so kommt es mir, kämpft er noch immer - nur… für etwas anderes als ich! “Sag das doch nicht,“ nuschle ich und zugegeben, meine Stimme klingt verletzt. Und ich bin es auch. Ich möchte nicht ohne ihn sein. Wie kann er nur gehen wollen? Jetzt, wo ich ihn doch so sehr brauche, so sehr liebe. Ich versuche, ihm Mut zu machen und scheitere kläglich. Wohl auch, weil ich nicht überzeugt hinter meinen Worten stehe, selbst nicht an sie glaube. Wir wissen Beide, wie es enden wird. Und das es schlimmer wird, je länger er am Leben bleibt. Und dennoch… ich kann und will ihn nicht gehen lassen! Ich drücke ihn fest an mich, fühle seinen kalten Köper nah an meinem. Ich will ihn wärmen, innerlich und nicht nur äußerlich. Denn ich habe das Gefühl, dass seine Seele trotz meiner Liebe erfriert. “Ich weiß ja jetzt schon nicht mehr, wer ich bin.“ Dieser Satz von ihm legt einen Schalter in mir um und nun bin es ich, der fröstelt. Ich weiß, dass es nun an mir liegt, ihn gehen zu lassen. Weil es kein Leben mehr für ihn ist. Und ich weiß, dass ich mich jetzt nicht nur um ihn kümmern kann – ich muss mich vor allem um mich selbst kümmern. Er wird bald nicht mehr da sein, ob ich es will, oder nicht. Ich kann ihn hier nicht halten, ich kann ihn nicht schützen, nicht retten. Und wenn ich nicht aufpasse, dann werde ich mit ihm untergehen. So geht es mir doch jetzt schon genauso! Ich weiß auch nicht mehr, wer ich bin. Ich lebe nur noch für ihn. Aber obwohl mir das alles klar wird, obwohl ich weiß, wie schädlich das für mich ist… ich bin glücklich damit. Aber auch restlos überfordert. Wenige Tage später liegt er im Krankenhaus. Ich kann es kaum ertragen. Es fühlt sich an, als würde man mir das Herz herausreißen und darauf herumtreten! Er ist heiß, kochend heiß. Und dennoch liegt er im Bett und zittert. Ich halte seine Hand, ein winziges Trostpflaster, ein kleines Geschenk. Ich bin bei dir Yuriy, ich werde immer bei dir sein! Und ich verspreche dir, dass ich da sein werde, wenn du stirbt. “Du bist so schön,“ murmle ich und Yuriy blickt mich an, als würde ich lügen. Als wäre es nicht wahr. Aber das ist es. Er wird immer schön sein. Denn es geht nicht nur um das Äußere. Er strahlt von Innen. Seine Seele leuchtet in den schönsten Farben. “Es soll endlich aufhören,“ hustet er und ich fange an, zu hassen. Ich hasse die Krankheit in ihm. Ich hasse die Ärzte, die ihn nicht retten können. Ich hasse Balkov dafür, dass er ihm das angetan hat. Und ich hasse mich selbst. Dafür, dass nicht ich es bin, der da liegt. Wie gerne hätte ich mit ihm getauscht! Yuriy, ich schenke dir mein Leben. Ich weiß, dass du es dringender brauchst. Lass mich für dich sterben! “Boris,“ nuschelt er und dann schließt er die Augen. Ich will aufstehen und die Schwester bitten, ihm eine höhere Dosis Medikamente zu geben. Er hat Schmerzen! Warum haben sie ihm nicht gleich mehr gegeben? Doch Yuriys Hand hält mich zurück. Nicht, weil er mich festhält, sondern weil ich Angst habe, dass er stirbt, wenn ich ihn loslasse. “Ich liebe dich.“ Es ist nur ein heiseres Flüstern, doch ich habe es gehört. Es ist das erste Mal, dass er mir das sagt. Ich spüre heiße Tränen an meiner Wange hinab laufen und Yuriys Blick, der wieder da ist und sich in mich bohrt. “Ich dich auch,“ meine ich dann leise. Erstickt. Ich kann nicht mehr an mich halten. Warum muss das alles geschehen? Warum muss er gehen, wenn er mich doch liebt? Wenn ich ihn doch liebe? Ich liebe ihn! Ist das kein Grund, dass er hier bei mir bleibt? Kann meine Liebe denn gar nichts mehr erreichen? “Geh,“ fordert er mich plötzlich auf und ich weiß, er meint es nur gut. Aber ich werde nicht gehen, ihn nicht alleine lassen. Niemals!!! “Ich lass dich nicht alleine!“ Ruhig ist es. Ich spüre eine sanfte Bewegung in meinem Haar, dann nichts mehr. Langsam öffne ich die Augen, sehe das Krankenzimmer, und schließe sie wieder. Mein Geist will wieder wegdriften, doch dann stürzt die Situation auf mich ein. Ich schrecke auf. “Yuriy?“, rufe ich panisch, sehe in das Gesicht meines Geliebten, der mich anlächelt. “Ich werde schon nicht sterben, während du schläfst.“ Ein Witz? Wie kann er darüber noch Witze machen? Oder ist er doch weiter als ich? Sieht er den Tod nicht mehr Monster, das in der Dunkelheit lauert? Sieht er den Tod bereits als hellen Lichtstrahl, der ihn erlösen wird? Aber in seinem Lächeln steckt keine Freude mehr. Es ist ihm ernst. Ich weiß, er wird nicht gehen, ohne sich von mir zu verabschieden. “Du wirst nicht sterben,“ wiederhole ich monoton. Immer das gleiche Spiel. Wir drehen uns im Kreis, spielen Fangen. Doch die Distanz zwischen uns ist zu groß, wir werden einander nicht mehr erreichen können. Genauso wenig, wie das Leben Yuriy noch erreichen kann. Aber wenn ich es abwehre, verdränge, dann kann ich es leichter ertragen. Dann sieht die Welt viel besser aus. Diese Zuversicht, sie ist nicht mehr angebracht, aber tröstend. Ich stelle mir vor, wie wir Morgen wieder bei ihm sitzen und Kaffee trinken. Es tut so gut. Und doch so weh. Ich habe die Jungs gebeten, her zu kommen. Ich kann es nicht länger verleugnen, Yuriy wird bald nicht mehr unter uns sein. Und es ist meine Pflicht, ihnen die Chance zu geben, sich zu verabschieden. Jetzt sitzen sie hier, mit ernsten, traurigen Gesichtern. Ich kann ihnen nicht in die Augen blicken. Mich selbst kann ich täuschen, doch sie können die Wahrheit nicht von mir fern halten. In ihren Augen, die so bang auf Yuriy gerichtet sind, sehe ich das Ende. Sein Ende. Ivan sagt, er wolle uns allen einen Kaffee holen und verlässt den Raum. Sergej hebt kurz den Kopf, ruft noch nach, er soll für ihn den Zucker weglassen. Dann schaut der Große wieder betrübt gen Boden. Ich für meinen Teil sehe dem Kleinen nach, bis er die Tür hinter sich geschlossen hat. Auf einmal wünsche ich mir, er würde einen Witz machen. Das würde die Situation auflockern, die Angespanntheit für einen kurzen Moment wegblasen. Und ich bin mir sicher, Yuriy würde das schön finden. Yuriy liebte Ivans Witze, auch wenn er das nie so deutlich gesagt hatte. Aber Ivan wird jetzt keinen Witz machen. Und das ist nur all zu verständlich. Und würde er es doch tun… wir alle hätten nicht die Kraft, darüber zu lachen… Dann blicke ich wieder zu Yuriy, drücke fest seine Hand, die kaltweiß und leblos in meiner liegt. Es wird leer sein, ohne ihn. Das Training wird nicht mehr das selbe sein. Mein Bett wird mir viel zu groß vorkommen. Wenn wir uns alle treffen, wird ein großer Teil fehlen. Für immer. Wir werden ihn alle vermissen, jeder auf seine eigene Art vielleicht. Aber uns allen wird er fehlen. Er wird auf dieser verdammten Welt einfach nur fehlen! Sie wird nie mehr dieselbe sein. Ob wir ihm auch fehlen werden, wo immer er nun hingeht? Ich bin mir sicher, es wird so sein! Ivan ist schon längst zurück. Mein Kaffee steht neben mir, eiskalt, denn ich habe nicht die Kraft, ihn zu trinken. Blicke ich auf, sehe ich, wie Sergej einen vollen Becher in der Hand hält. Ivan schüttet seinen in das Waschbecken im Bad, ehe er wieder zu uns stößt. Kai ist auch endlich da. In letzter Zeit haben sie sich wieder angefreundet. Es gab eine Zeit, da konnten sie sich nicht ausstehen, haben einander nichts zu sagen gehabt. Doch seit Yuriy krank ist, ist Kai wieder für ihn da. Am Anfang fand ich das nicht gut. In meinen Augen wird er immer ein Verräter bleiben. Doch jetzt bin ich ihm dankbar, dass er hier ist. Das er dabei ist, wenn Yuriy stirbt. Ich weiß, es bedeutet ihm viel. Und ich bin froh, dass Kai Anteil nimmt. Ich merke erst, dass ich wieder weine, als eine Träne auf meine Hand tropft. Auch Yuriys Hand ist nass. Und ich glaube, eine leise Berührung, eine leise Reaktion von ihm zu spüren. Ivan fängt an, von früher zu erzählen. Als wir alle noch klein waren, damals in der Abtei. Wir hatten nicht viel, aber im Gegensatz zu jetzt, waren wir glücklich. Denn damals hatten wir uns. Jetzt haben wir gar nichts mehr. Nur noch dieses Leid, diese Trauer. War das Leben in der Abtei damals grau, nun ist es schwarz. “Es wird alles wieder gut,“ höre ich mich selbst flüstern. Immer wieder. Dabei streicht mein Daumen leicht über Yuriys Handfläche. Es wird sicher alles wieder gut. Er wird von seinem Leid erlöst. Für ihn hat der Albtraum ein Ende. Und auch für uns. Doch für uns beginnt der nächste mit seinem Tod. Es ist totenstill im Raum. Nur ab und an hört man das Rascheln von Kais Jacke, wenn dieser sich bewegt. Neben diesem Geräusch, hört man nur das Piepen des EKGs. Es hat beachtlich nachgelassen. Sein Herzschlag ist langsam, flach, unregelmäßig. Es bricht mir das Herz. “Es wird alles gut,“ murmle ich erneut, aber ich sage es nur, damit Yuriy keine Angst mehr hat. Nichts ist gut. Es ist so weit. Ich spüre es, tief in meinem Innersten. Mein Herz. Lasst mich mit ihm sterben. Tränen rinnen aus meinen Augen. So viel hab ich noch nie geweint. “Lass ihn gehen, Boris!“ Sergejs Stimmte ist so weit entfernt, es ist, als wäre ich in Watte gehüllt. Alles klingt dumpf. Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht gehen lassen! Das verdammte Piepen, es wird immer weniger. “Du musst loslassen, Boris,“ meint nun auch Ivan. Ich kann es nicht. Ich kann ihn doch nicht im Stich lassen. Ich kann ihn doch nicht sterben lassen. “Boris.“ Kai sieht mich bittend an, Mitgefühl in seinen Augen. Ganz langsam senke ich meinen Blick wieder auf Yuriy. Es ist kaum noch Leben in ihm. Es hat keinen Sinn mehr. Sachte ziehe ich meine Hand weg und das Piepen wird zu einem einzigen, surrenden Ton. Ich spüre das Ende, spüre den ganzen Verlust. Ich sehe Tränen in Kais Augen. Sehe Ivan auf seinen Lippen kauen. Sergej steht neben mir, zieht mich auf. Eine Krankenschwester kommt in den Raum, Ärzte. Doch es ist mir alles egal. Ich habe das Einzige verloren, was mir je wichtig war. Wir haben alle etwas verloren. Ob nun Geliebten, Teamleader oder einen Freund. Und wir haben nun alle zu lernen, damit umzugehen und es zu ertragen. Wir, die wir übrig bleiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)