Gefühle von Fenni ================================================================================ Kapitel 3: 3. ------------- Ich war natürlich nicht so weltfremd, dass ich nicht wusste, was da grade mit mir passierte. Und irgendein Teil in mir hatte bereits ellenlange Debatten mit den anderen angefangen, um es ihnen bewusst zu machen, so dass ich es mir endlich selbst eingestand, aber die anderen weigerten sich bis jetzt strikt. Ich hatte eigentlich nicht wirklich Angst vor der Reaktion der Menschen um mich herum, nein, das größte Hindernis waren meine Eltern. Meine Eltern, die eine perfekte Frau und perfekte Kinder erwarteten. Und so wie ich sie zufrieden stellen wollte, in dem ich gute Noten nach Hause brachte, wollte ich sie auch glücklich machen, in dem ich eines Tages die perfekte Ehe führte. Aus diesem Grund war ich bis jetzt auch nur mit Mädchen ausgegangen, die meine Eltern vorgeschlagen hatten. Woraus niemals etwas geworden war. Die längste Beziehung hatte grade mal drei Monate gehalten. Außer Atem kam ich zu Hause an, aber ich gönnte mir keine Pause, zog mir hastig Schuhe und Jacke aus und rannte in mein Zimmer, wo ich eine halbe Stunde lang auf meinen Boxsack einschlug, bis mir die Arme weh taten. Danach war ich völlig am Ende und wollte nur noch schlafen und glücklicherweise waren die Gedanken an Francis erst einmal verschwunden. Doch leider kamen sie am nächsten Tag wieder. Also verbrachte ich den Samstag damit, ziellos durch die Stadt zu wandern, wobei ich die Gegend am Schwimmbad mied. Als ich wiederkam, hatte ich einen Anruf von Kai verpasst. Er wollte sicherlich über gestern Abend sprechen und warum ich so komisch gewesen war. Ich rief ihn nicht zurück. Er hatte bis jetzt noch jedes Geheimnis aus mir herausgeholt und ich hatte ihm auch immer bereitwillig alles erzählt – nur diesmal wollte ich es auf keinen Fall. Allerdings hatte ich neben dem Gefühl des Selbsthasses, weil ich einfach nicht aufhören konnte, an Francis zu denken, nun auch noch ein schlechtes Gewissen wegen Kai. Er konnte doch nichts dafür, dass ich so mies drauf war. Auch den Sonntag verbrachte ich wieder auf Wanderung und als wir um sechs das übliche sonntägliche Familienessen hatten und mein Vater sagte, dass es für mich nun wieder Zeit wäre, mit dem Lernen weiterzumachen, wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. Lernen war eine willkommene Ablenkung, denn auch wenn ich es nicht mochte, schaffte ich es meistens, mich voll und ganz darauf zu konzentrieren. Jeden Tag der letzten Ferienwoche beschäftigte ich mich mit einem anderen Fach und lernte von morgens bis abends. Am Donnerstag arbeitete ich fast die Hälfte des Mathebuches durch. Zwischendurch führte ich noch ein kurzes Telefongespräch mit Kai, der ein wenig mit mir abhängen wollte, aber ich vertröstete ihn auf irgendwann und stürzte mich wieder an die Arbeit. Und am Sonntag freute ich mich wie ein Schneekönig, dass die Schule wieder anfing. Ich hängte mich voll rein, brachte eine Eins nach der anderen nach Hause und bekam sogar von meinem Vater ein kleines Lob, das mich sehr stolz machte. In dieser Zeit konnte ich mich mit dem elterlichen Druck richtig anfreunden. An Wochenende kam die Schwester meines Vaters zu Besuch und mir wurde die große Ehre zuteil, dass meine Eltern mich vor ihr in den höchsten Tönen lobten. Sie nickte mir anerkennend zu und drückte mir dann einen 20 Euro-Schein in die Hand. „Hier, damit kannst du dich für deine tollen Leistungen selbst belohnen.“ Ich dankte ihr und ging am nächsten Tag direkt nach der Schule in die Stadt. Ich wollte mir mal wieder ein Buch kaufen, das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Ich kam zwar kaum zum Lesen, aber Bücher kaufen machte immer wieder Spaß. In dem kleinen Buchladen brauchte ich nicht lange, um mich für den neuen Grisham zu entscheiden. Mit meiner Beute im Rucksack verließ ich den Laden und der Abschiedsgruß des Verkäufers klang mir noch in den Ohren, als ich plötzlich das Gefühl hatte, vor eine Wand gelaufen zu sein. Auf der anderen Straßenseite stand Francis, ich erkannte ihn sofort, obwohl er mir nur den Rücken zugewandt hatte, und unterhielt sich mit jemandem. Wie damals, als er mir die Tür aufgemacht hatte, übernahm mein Körper die Entscheidung, was ich tun sollte. Meine Füße gingen selbstständig über die Straße und zu ihm hin. „Hi Francis,“ sagte mein Mund. Er drehte sich zu mir um und sah mich an und mein Herz schlug einen Salto mortale. „Oh hey Julian. Was machst du denn hier?“ „Ich habe gestern eine großzügige Spende von meiner Tante bekommen und die hab ich jetzt gleich auf den Kopf gehauen.“ „Coole Sache.“, sagte der Junge, mit dem sich Francis unterhalten hatte. „Ich wünschte, meine Alten würden ab und zu mal n bisschen Kohle locker machen.“ Er nickte mir zu. „Hi, ich bin Tim. Bist du der mit den Geschenken?“ Beide lachten und ich wurde sicher wieder rot. „Das war der Einfall meiner Mutter,“ versuchte ich mich zu verteidigen, wusste aber im gleichen Augenblick, dass der Schuss nach hinten losgehen würde. „Oh ja und was Mami sagt, das muss dann auch gemacht werden.“, rief Tim mit affektierter Stimme und die beiden lachten nur noch umso lauter. Am liebsten hätte ich mich einfach umgedreht und wäre gegangen, aber ich konnte nicht. In meinem Gesicht schien man aber deutlich ablesen zu können, was ich grade dachte, denn plötzlich verstummten die beiden und Francis schlug mir einmal leicht auf die Schulter. „Ach komm, sei nicht sauer. Meine Mutter macht auch ständig Sachen, die ich einfach nur zum Kotzen finde. Sag mal...“, wandte er sich an Tim, wobei er die Hand auf meiner Schulter liegen ließ, was mir einen Stromstoß nach dem anderen durch den Körper jagte. „Ich glaub, der arme Junge hat in seinem Leben noch nie an ner Konsole gespielt. Als er mir zugesehen hat, wie ich NFS auf der PS3 gespielt hab, da hat er geguckt wie Auto. Vielleicht sollten wir ihn mal mitnehmen und ihn in das Zockerleben einführen.“ Tim zuckte mit den Schultern. „Warum nicht. Der Meier hat bestimmt nix dagegen und Frischfleisch ist doch immer nett.“ Er grinste mich an und bleckte die Zähne. „Also gut, dann los.“ Francis nahm die Hand von meiner Schulter und drückte auf eine der Klingeln des Hauses, vor dem wir die ganze Zeit standen. Jetzt meldete sich mein Gewissen zu Wort. Ich hatte schon immer gewusst, dass es verdammt mächtig war. „Ich kann nicht. Ich muss nach Hause.“ Beide fuhren zu mir herum und starrten mich an. „Vermutlich lernen, was?“, meinte Francis. Ich musste wieder an das denken, was er damals gesagt hatte und die Worte blieben mir im Hals stecken. Die Tür brummte, Tim drückte sie auf, aber er ließ seinen Blick nicht von mir. „Komm schon. Deine Alten werden auch mal auf dich verzichten können. Und wer immer nur lernt, der wird irgendwann bescheuert im Kopp.“ Ich sah für den Bruchteil einer Sekunde zu Francis rüber und mein Herz begann schneller zu schlagen, als er mich tatsächlich erwartungsvoll anblickte. Und plötzlich durchströmte eine warme Welle meinen Körper und ein Gefühl der Freiheit nahm von mir Besitz. „Okay, ich verzichte heute mal aufs Lernen und guck mir an, was ihr zu bieten habt.“, meinte ich grinsend. Francis schnalzte mit der Zunge. „Eine gute Entscheidung. Also nix wie hoch.“ Diesen Nachmittag fühlte ich mich so, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt hatte: glücklich und zufrieden. Wir waren zu fünft und keiner hatte irgendetwas dagegen, dass ich auch dabei war. Im Gegenteil, ich hatte schon nach ein paar Minuten das Gefühl, als würde ich total dazugehören. Nur leider konnte ich zu den Gespräche, die die Jungs führten nicht allzu viel beitragen, da es die meiste Zeit um irgendwelche Videospiele ging. Niemand sprach über die Schule, über Arbeiten oder das Lernen, wie es bei Kai und mir so häufig der Fall war. Zwar unterhielten wir uns auch über andere Dinge, aber irgendwann kam das Gespräch zwangsläufig darauf zurück, eben, weil die Schule und das ganze Drumherum die meiste Zeit unseres Lebens beschlagnahmten. Aber hier war das ganz und gar nicht der Fall. Mir reichte es völlig, einfach nur dazusitzen, zuzuhören und mir anzugucken, was die Jungs grade an Spielen spielten. Vor allem, weil ich die meiste Zeit neben Francis saß. Wir wechselten immer nur belanglose Worte, aber das war für mich mehr als genug. Und als er mich dazu aufforderte, doch einfach mal mitzuspielen, war ich sofort bereit dazu. Ich schlug mich gar nicht mal so schlecht und das brachte mir die Anerkennung der anderen ein. Auch Francis nickte einmal lobend mit dem Kopf und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Gegen zehn Uhr machten wir uns auf den Heimweg. Tim, Francis und ich hatten am Anfang den gleichen Weg, doch irgendwann musste Tim dann rechts abbiegen und nach einer kurzen Verabschiedung war ich allein mit Francis. Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her, Francis war offenbar mit der Situation zufrieden und pfiff mehr schlecht als recht vor sich hin und ich wollte zwar unbedingt etwas sagen, war aber viel zu aufgeregt. Die Worte schwirrten durch meinen Kopf, aber ich konnte sie nicht einfangen. Ich war so mit mir selbst und mit Francis beschäftigt, dass ich keinen Blick mehr für meine Umgebung hatte und ich über die Kante eines Pflastersteins stolperte, der ein Stück höher lag als die anderen. Ich sah den Boden auf mich zurasen und richtete mich auf den Aufprall ein, der aber nicht kam. Francis hatte blitzschnell reagiert und mich am Träger meines Rucksacks gepackt. Vorsichtig stellte er mich wieder auf die Füße. Ich blickte auf und sah ihm direkt in die Augen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel und ich spürte, wie ich weiche Knie bekam. Da ich Angst hatte, dass er etwas von meinen Gefühlen in meinem Blick erkennen konnte, senkte ich schnell den Kopf. „D… danke.“, stammelte ich. Er ließ den Träger los. „Kein Ding. Und jetzt weiß ich, dass du ein kleiner Tollpatsch bist.“ An der Hitze auf meinem Gesicht wusste ich, dass ich mal wieder brennend rot geworden war. Aber wenigstens konnte ich es darauf schieben, dass die ganze Situation mir ein wenig peinlich war und Francis dachte das sicherlich auch. Trotz allem hatte dieser Vorfall meine Zunge gelockert und auch Francis war nun gesprächiger und er war es, der anfing: „Du hast dich wirklich ziemlich gut geschlagen heute. Aus dir machen wir noch einen richtigen Zocker.“ Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Heißt das, du willst, dass ich beim nächsten Mal wieder mitkomme?“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich hab dir ja damals schon gesagt, dass ich es für ausgemachten Schwachsinn halte, wenn jemand den ganzen Tag nur am Lernen ist. Und da du nicht so ein engstirniger Idiot bist wie Kai und sich bei dir wirklich noch was machen lässt, finde ich. du solltest wieder mitkommen.“ Er sah mich von der Seite an. „Vielleicht ist es scheiße von mir, dass ich so denke, aber ich finde, jeder von uns sollte sich mal ein bisschen vom Ernst des Lebens frei nehmen und das unterstütze ich gerne.“ Ich schluckte. „Ich… ich finde das überhaupt nicht scheiße und ich komme gerne wieder mit.“ „Okay super. Wir treffen uns eigentlich jeden Montag. Gib mir deine Handynummer, dann meld ich mich.“ „Na ja.“, druckste ich herum. „Eigentlich habe ich gar kein Handy.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Dass es so etwas heutzutage noch gibt. Aber bei deinen Eltern wundert mich eigentlich nichts mehr. Hast du vielleicht einen Zettel und einen Stift?“ Ich nickte und holte aus meinem Rucksack meinen Block und meinen Kugelschreiber. Ich riss ein Blatt Papier in zwei Hälften und reichte eine davon Francis. Wir schrieben uns gegenseitig unsere Nummern auf und als er mir seine Hälfte zurückgab und ich nach ihr griff, merkte ich, wie sehr meine Hände zitterten. Um mich abzulenken warf ich einen Blick auf den Zettel. Seine Schrift war ziemlich groß und eckig. Das hier konnte doch alles nur ein Traum sein. Es war alles so einfach und unkompliziert. Nachdem wir die Nummern ausgetauscht hatten, liefen wir wieder einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis ich schließlich allen meinen Mut zusammenkratzte. So, wie es im Moment zwischen uns war, konnte ich die Fragen, die mir grade auf der Zunge brannten, auf jeden Fall aussprechen. Ich räusperte mich. „Warum seid ihr eigentlich hergezogen? Ich meine, mitten im Schuljahr?“ Er seufzte einmal. „Ganz einfach, meine Mutter hat es schließlich doch geschafft, meinen Vater zu überreden. Wir haben ja nie weit weggewohnt, wir sind ja auch schon immer hier zur Realschule gegangen und jeder hatte seine Freunde hier und da die Schwester meiner Mutter auch hier wohnt und beide ja immer so viel auf Familie machen hat sie solange rumgenörgelt, bis wir uns schließlich hier das Haus gekauft haben. Keine große Sache also.“ „Warum verstehst du dich mit Kai nicht?“ „Weil er ein Trottel ist. Er denkt, nur das was er macht, ist richtig und wer es genau so macht gehört zu den Guten und wer es anders macht, der gehört in den Müll. Und er kommt davon nicht runter, egal was man sagt. Ich hab’s versucht, aber es geht nicht. Aber immer, wenn ich diese Fresse seh, dann fang ich damit wieder an. Dabei will ich es gar nicht.“ Er stockte. „Tut mir Leid, ihr seid ja so gute Freunde.“ „Ach na ja. Sooo gut sind wir dann auch nicht befreundet. Ich finde auch, dass seine Einstellung manchmal einfach nur Mist ist.“, wiegelte ich ab und dachte im gleichen Moment, in dem ich es ausgesprochen hatte, dass das doch nicht ich gewesen war, der das gesagt hatte. Wenn ich die Freundschaft mit Kai nicht gehabt hätte, dann wäre ich jetzt wahrscheinlich schon in irgendeiner Gummizelle eingesperrt. In Gedanken entschuldigte ich mich bei ihm. Aber das war genau das, was Francis hören wollte und das war es ja letztendlich, um das es mir ging. „Ja, du hast total Recht!“, rief er. Wir hatten mittlerweile die Straßenkreuzung erreicht, an der sich unsere Wegen trennen mussten. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber als Francis mir nur zunickte und „Bis dann,“ sagte, war ich doch etwas enttäuscht. Ich sah ihm hinterher, wie er mit schnellen Schritten weiterging. Als er nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war, drehte ich mich schließlich um und ging nach Hause. Die Schule war um viertel nach eins aus gewesen. Ich schaute auf die Uhr. Das war vor sechs Stunden gewesen und ich hatte mit seitdem nicht mehr gemeldet. So etwas hatte ich noch nie vorher getan und plötzlich bekam ich Angst vor der Reaktion meiner Eltern . Sie war so stark, dass sie sogar Francis vorübergehend aus meinem Kopf verdrängte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)