Adolescence von Bitsubachi (RinxLen) ================================================================================ Prolog: -------- Es war einmal...so beginnt meine Geschichte nicht. Warum auch? Ist ja schließlich mein Leben! Okay...dann passt Geschichte wohl auch nicht ganz, aber das ist ja eigentlich auch egal. Ich wiederhole das ja nur nochmal für mich. Mich allein. Den Grund, warum ich nun hier stehe. Hinter den Gittern. Leider sind es nicht die eines Gefängnisses. Aber die unserer Schule, einer ganz gewöhnlichen Oberschule. Dass sich hier jemals so etwas zutragen würde hätte bisher auch keiner geglaubt. Alle – die Lehrer, Schüler, der Direktor, auch die Putzkräfte! Sie leben in einer ganz anderen Welt. Aber nicht in der Realität wie ich. Nein. Sonst hätten sie das kommen sehen. Sonst hätten sie versucht das zu verhindern. Das weiß ich. Ist ja klar. Selbst würde ich das auch nicht wollen. Trotzdem bin ich nun hier, stehe hinter den Gittern am Schuldach und blicke nach unten. Drei, nein, vier Etagen sind höher als gedacht. Wenn ich springe, werde ich das wohl nicht überleben. Wird ein schöner, roter Fleck von hier oben sein, wohingegen von unten das wohl eher wie verschüttete Sauce Bolognese aussieht. Glaub ich jedenfalls. Ach ja, wollte ich nicht für mich selbst nochmal alles wiederholen? Wie immer in den Filmen, wenn vor den Leuten die “Rückblende” kommt, bevor sie das ‚Ende‘ ereilt. Okay. Ich bin hier wegen des fatalen Fehlers von damals, rund einen Monat dürfte das nun her sein. So wenig und doch so unendlich viel Zeit. Eine wunderschöne und genauso schreckliche Zeit, voll von Freude, Trauer, Hass, Liebe...und diesem einem Fehler von dem ich nicht weiß, wann er begann. Wohl schon viel, viel früher, nichts passiert von heute auf morgen. Doch kommt es mir vor, als sei damals der Wendepunkt gewesen, dass alles begann. Diese Zeitspanne, ein Kommentar, ein Fehler...alles führte zu diesem Gegenwärtigen Augenblick, der realer als alles Bisherige ist. Meine Gedanken sind klarer als sie es je waren. Ich weiß, dass es richtig ist. Der einzige Ausweg. Denn die Zeit dreht sich nicht zurück – niemals. Egal was man macht, ob man fleht, schreit, weint, bittet, betet, innerlich zerbricht wie auch die äußere menschliche Hülle. Sie hält nicht an oder dreht sich zurück. Es gibt keine zweite Chance. Am Ende hat gibt es nur das Wissen, völlig hilflos zu sein. Ein letztes Mal spürte sie die leichte, warme Brise des nahenden Sommers. Sie war frei, sorgenfrei und doch trug sie die Schwere der Schuld dieser Welt mit sich. Die Sonne begann unter zu gehen. Ein letztes Mal die Wärme der Sonne auf der Haut. Ein letztes Mal den Anblick der in Gold getauchten Stadt. Nun würde sie genauso frei sein. Mit ihrem Bruder in Gedanken und einem Lächeln auf den Lippen machte sie den letzten Schritt. Sie bereute nichts. Kapitel 1: 1 ------------ “Mach endlich den Wecker aus!”, murmelte eine verärgerte Mädchenstimme. “Mach du doch! Der ist eh auf deiner Seite!”, antwortete eine verschlafene Jungenstimme. “Gar nicht! Der steht doch direkt in der Mitte.” Wortlos einigten sie sich dann darauf, dass weder einer von ihnen den Wecker ausstellt, noch aufsteht. Doch ehe auch nur einer wieder einschlafen konnte, wurde die Tür aufgerissen. “Macht, dass ihr aus den Federn kommt! Aber sofort, sonst gibt’s kein Frühstück!”, schrie eine gewaltige, vertraute Stimme, die selbst Tote wieder zum Leben erwecken konnte. Sofort schreckten die beiden hoch. Es war schon fast ein Morgenritual und doch immer so überraschend, dass sie nicht anders konnten, als plötzlich wach zu sein und zu beteuern, sie seien es schon lange. Nach einem kurzen Morgensgruß quetschten sie sich durch die Tür, wobei jeder versuchte als erster ins nahegelegene Badezimmer zu gelangen. Der zweite musste dann immer in das am anderen Ende des Flurs. “Ach herrjeh immer dasselbe mit den beiden.”, seufzte sie, machte das Bett und verließ dann das Zimmer um unten in der Küche das Frühstück vorzubereiten. Da war es bereits wieder zu hören. Die beiden waren schon wieder am Streiten. Diesmal wohl, weil in nicht viel mehr als einer halben Stunde die Schule beginnen würde und sie wahrscheinlich, wie so oft zu spät kommen würden. “...also beeil dich! Ich kann es mir nicht erlauben schon wieder zu spät zu kommen! Das wäre schon das dritte mal in dieser Woche und ich will nicht wieder nachsitzen!” “Dann musst du eben früher aufstehen!” Wem welche Stimme gehört war nicht immer so leicht auszumachen, denn sie waren Zwillinge, die mehr als nur ihr Aussehen teilten. Auch ihr Zimmer, Geheimnisse, ein Klassenzimmer... “Ihr werdet beide zu spät kommen und nachsitzen, wenn ihr so weiter macht. Mich würde es nicht wundern, wenn ihr es schafft jeden Tag Nachsitzen aufgebrummt zu bekommen, nur schade, dass Sonntag ein freier Tag ist.” “Gumi, das ist nicht witzig!”, anklagend und mit der Schleife ihrer Uniform beschäftigt stand Rin vor dem Hausmädchen. Sie trug wie immer ihr nicht einmal schulterlanges, blondes Haar offen, den Pony mit jeweils zwei Spangen pro Seite aus dem Gesicht und einen Haarreif, an dem oben eine große Schleife befestigt war. Len hatte ebenso langes, blondes Haar. Jedoch wie für die Jugend heutzutage üblich nach hinten zu einem kurzem Pferdeschwanz gebunden. Im Grunde glichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Mit einem Was-soll-nur-aus-euch-werden-Blick richtete Gumi nicht nur Rins Schleife, sondern gleich darauf auch die Krawatte von Len, der sich währenddessen an einem Toast verging. Allerdings schnappte seine Schwester zu, klaute ihm den praktisch aus der Hand, nahm ihre Schultasche und verabschiedete sich mit einem unverständlichem “Auf Wiedersehen”. Entsetzt rannte ihr Bruder ihr gleich, mit dem zweiten Toast im Mund, nach. Weg waren sie. “Hast du nun eigentlich die Lektüre schon gelesen, Brüderchen?” “Welche Lektüre?” Entnervt verdrehte Rin ihre Augen. “Welche Lektüre wohl! Die, die ich letzte Woche für dich mit besorgt habe und fast eine Erkältung bekommen hätte! ‚Die Leiden des jungen sowieso‘ !” “Ach, die meinst du? Ne, hab ich nicht, als ob ich so etwas lesen würde.” “Wa-wir schreiben darüber nächste Woche eine Arbeit! Wenigstens reinschauen solltest du! Ich werd dir sicher nicht-”, als ihr Blick auf die Armbanduhr fiel, rannte sie noch schneller und ihrem Vortrag wich eine Reihe an Schimpfwörtern. Gerade als die beiden Zwillinge im 2. Stock des Schulgebäudes angekommen waren, läutet es zur ersten Stunde. “Oh nein”, stöhnte Len schon auf, als Rin noch hoffte, “Vielleicht ist Frau Sakine noch nicht da!” Leise öffneten sie die Klassenzimmertür. Keine Spur von der Lehrerin, allerdings lag die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse auf ihnen. Erleichtert und peinlich berührt, wollten die Zwillinge nun zu ihrem Platz, als hinter ihnen die Tür geschlossen wurde und ein vergnügtes “Kagamine Zwillinge! Ihr seid Fünf Minuten zu spät! Das heißt Nachsitzen. Und nun wollen wir mit dem Unterricht beginnen”, ertönte. Ihre Lehrerin stand hinter der Tür und hatte auf sie gewartet. Sie war durchschnittlich groß, hatte kurze, braune Haare und war eigentlich immer elegant gekleidet. Nach außen hätte man gedacht, sie würde in einer Bank oder als Kellnerin in einem noblen Restaurant arbeiten. Tatsächlich aber bestanden ihre Hobbys darin, sich kleinere Kämpfe mit den Jungen der Sportclubs zu liefern oder am Wochenende mit Frau Yowane in eine Bar zu gehen. Darum mochten sie auch alle. Sie war offen und manchmal launisch, mochte aber die Schüler wie sonst kein Lehrer an dieser Schule, es war immer Verlass auf sie. Nach Unterrichtsschluss begaben sich Rin und Len zum Nachsitzen. Auf dem Weg hörten sie eine Durchsage. Frau Sakine sollte wegen einer dringenden Angelegenheit ins Lehrerzimmer. “Fällt dann das Nachsitzen aus?”, fragte Len hoffnungsvoll in den Gang voller Schüler, als besagte Lehrerin auf ihn und seine Schwester zu kam und meinte, sie sollen schon mal hin gehen. Die Aufgaben lägen auf dem Pult und sollte sie die beiden dort spätestens zum Stundenende nicht vorfinden, würde es richtigen Ärger geben. “Glaubst du, es ist etwas passiert? Frau Sakine ist noch immer nicht zurück”, nachdenklich musterte Rin ihren Bruder, der noch immer mit den Aufgaben zu kämpfen hatte. “Keine Ahnung, vielleicht hat sie sich auch festgeredet. Wär ja nicht das erste Mal. Wenn etwas geschehen wäre, wüssten wir bereits davon. Sowas verbreitet sich in null Komma nichts.” “Mh...stimmt du hast Recht.” “Was ist denn los?”, fragend schaut Len auf. Mit Rin stimmte irgendetwas nicht. Das fällt ihm immer als ersten auf, nicht mal ihre beste Freundin, Neru, bemerkte das so schnell, wie er. Eigentlich logisch, schließlich waren sie schon ein Leben lang immer zusammen, durch nichts auf der Welt zu trennen. Auch nicht durch die fortwährend kleinen Streitereien. Und immer wieder war seine Schwester erstaunt darüber, dass ihm das auffiel. Nicht jedoch heute. Weiterhin, als würde sie durch ihn hindurchschauen, musterte sie ihn. “Was willst du eigentlich nach der Schule machen?” Er hätte mit allem gerechnet. Nur nicht mit so einer Frage und antwortete ebenso entrüstet simpel, “Eh...Was?” “Na was du für einen Beruf ausführen willst. Mir ist aufgefallen, dass ich gar nicht weiß, was du einmal werden möchtest, obwohl wir immer zusammen sind.” Das stimmte. Bisher hatten sie noch nie darüber geredet, vielleicht als kleine Kinder. Da war es dann sowas wie ‚Feuerwehrmann‘ und ‚Tierärztin‘ oder auch eher ein ‚Ich weiß es noch nicht‘. So verfielen die beiden in ein nachdenkliches Schweigen, das Rin als erste durchbrach, “Ich möchte Sängerin werden! Oder vielleicht Künstlerin. Auf alle Fälle einen guten Mann haben und ihm eine gute Frau sein.” Den Kopf auf den Armen, lächelte sie ihn unbeschwert, ja glücklich an, dass er in Verlegenheit geriet. “Eine gute Ehefrau? Bist du dir sicher? Haha...Wissenschaftler. Ich möchte Dinge erfinden, die den Alltag erleichtern. Vielleicht eines Tages sogar einen Roboter erschaffen, der ein Gedächtnis hat, Gefühle, ein eigenes Leben.” Wieder versanken sie in ein Schweigen. Ein bedrückendes, trauriges Schweigen. “Haha, das ist ja genauso kindisch wie mein Traum! Len der große Wissenschaftler! Dann räumst du ein paar Preise ab, bekommst den Nobelpreis und ich halte dein ehrfürchtiges Antlitz in einem wunderbaren Gemälde fest, das selbst in hundert Jahren noch berühmt ist.”, sagte Rin todernst bis sie los prustete und mit ihrem Bruder so lange lachte, dass ihnen beiden der Bauch schmerzte. Ihr Lachen zerbrach die verhängnisvollen Fesseln der Gedanken über die Zukunft. Noch ehe es zum Ende dieser Stunde läutete kam Frau Sakine wieder. Sie entließ die Zwillinge, nahm die Blätter und bemerkte, dass Lens Aufgabenbogen ab der Hälfte von Rin geschrieben worden war. Zuhause wurden sie bereits von Gumi mit einem leckerem Abendessen erwartet. “Eure Eltern kommen heute wieder aus dem Ausland zurück. Sie meinten gegen Zehn Uhr dürften sie hier sein.” Gumi beobachtete die Reaktionen der Kinder, die wie so oft im Grunde ausblieb. Ihre Eltern waren oft unterwegs und kamen nur selten nach Hause. Kein Wunder bei so einem großen und erfolgreichen Unternehmen wie der Kagamine-Corp. Daher war auch das Haus größer, nobler, wie auch Gumis Gehalt höher als das vieler anderer. Darum war sie als Hausmädchen auch erst von Nöten. Für die Kinder war sie eine Art große Schwester und Mutter in einem. So stimmte sie die Rückkehr der Eltern auch etwas traurig, weil sie sich dann nur noch um den Haushalt kümmern sollte. Ebenso wie die Zwillinge dann nur noch lernen sollten, um den Konzern eines Tages zu übernehmen. “Sie werden einige Wochen hier bleiben. Urlaub, soweit ich weiß”, fügte Gumi seufzend noch hinzu. “Urlaub?!”, kam es von beiden gleichzeitig. Das passte ihnen gar nicht. Alle Pläne, die sie bereits für das Wochenende gemacht hatten fielen somit ins Wasser. “Ja...auf unbestimmte Zeit, die Firma führt derweil dieser...ihr wisst schon, der, dessen Namen ich mir nicht merken kann, weil ich ihn nicht ausstehen kann”, komisch verzog Gumi das Gesicht, doch es half nichts, noch immer schauten sie unglücklich drein. “Dann...Len, lass uns für den Test nächste Woche lernen!” Len antwortete lediglich mit einem nicken. Ohne weitere Worte begaben sie sich gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, lernten und gingen noch vor der Ankunft der Eltern zu Bett. Jedoch nicht ohne, dass sie die Trennwand in ihrem Zimmer wieder zuzogen. Denn ein Junge und ein Mädchen in einem Zimmer. Das ist, was ihre Eltern seit sie in die Mittelschule kamen, nicht sehen wollten. Es gehörte sich einfach nicht. Am nächsten Morgen stand jeder von ihnen früher auf als bisher. Zu spät kommen konnten sie sich nun nicht mehr erlauben. Das würde mehr Ärger geben als das bisherige Nachsitzen. So verließen sie das Haus auch mehr als pünktlich, nachdem sie ihre Eltern begrüßt hatten. Der Schulweg verlief nun auch mehr als ruhig. Abgesehen von dem ein oder anderem ‚Hallo‘ an bekannte Gesichter gerichtet, sprachen sie kein Wort. Bis zum Schuleingang. Dort kam ein Mädchen mit etwas dunkleren blonden Haaren, als die der Zwillinge, die sie als einen seitlichen Pferdeschwanz trug, auf sie zugerannt. Neru, Rins beste Freundin. “Hallo, ihr zwei!”, rief sie glücklich und voller Energie. “Wie geht’s? Tut mir Leid, Rin, dass ich gestern nicht da war, wirklich! Aber ich hab dir ja auch von dem Arzttermin erzählt, also wusstest du es ja. Aber Len nicht, tut mir Leid, dass du mich so vermisst hast! Warum hast du mich gestern nicht mehr angerufen, Rin? Ich hab so darauf gewartet! Jetzt hab ich ja dieses neue Handy allerdings eingeweiht! Du hättest wirklich anrufen können, besonders, wo doch nächste Woche dieser Test ist und...”, wie ein Wasserfall erzählte sie vor sich hin, immer wieder durcheinander, mal an den einen, dann wieder an den anderen gerichtet und tippte nebenbei auf ihrem neuem Handy rum, wie sie es immer machte. Nach einigen Minuten verabschiedete sich Len und ging schon mal voraus. “Weiber...”, murmelte er dazu nur. Rin folgte ihm mit ihrem Blick geistesabwesend. “Willkommen zurück, meine Lieben”, wurden die beiden Zwillinge von ihrer Mutter empfangen. Ihr Vater saß am Tisch und faltete gerade seine Zeitung zusammen. Wie immer sah er ernst und beherrscht aus. Er ging auf sie zu, während die beiden ihrer Mutter gerade Fragen über die Schule beantworteten. “Len, wie alt bist du jetzt?”, schallte eine klare, aber doch tiefe Stimme zu ihnen. Verdutzt blickten jedes einzelne weibliche Wesen, wie auch der angesprochene selbst, den Kopf der Familie an. “Er ist 16, Schatz”, antwortete ihm seine Frau nachsichtig. Stumm nickten Len und auch Rin, um diese Aussage zu bestätigen. “Dann wird es Zeit, dass du dich nach einer Verlobten umschaust. Wenn du das Unternehmen eines Tages übernimmst, brauchst du eine ordentliche Frau, die dich dabei unterstützt. So wie mich deine Mutter unterstützt. Einen klugen Kopf und sie sollte auch hübsch sein. Zufälligerweise ist ein Freund mit seiner Tochter gerade in der Stadt. Sie soll ein sehr hübsches und tüchtiges Mädchen sein.” Mit offenstehendem Mund starrte Len seinen Vater ungläubig an. Eine Verlobte? Hatte er richtig gehört? Er war doch gerade erst 16! Wie konnte er da schon an eine Verlobung denken, erst recht, da er dieses Mädchen noch nicht einmal kannte! Doch noch ehe er etwas dazu sagen konnte, nannte sein Vater ihm den Zeitpunkt und Ort, zu welchem er das Mädchen treffen sollte. Bereits nächstes Wochenende. Das war nicht viel Zeit um sich darauf einzustellen. Kapitel 2: 2 ------------ Sonntag. Eigentlich hatten wir heute immer etwas gemacht. Ob nun zusammen oder mit Freunden. Heute aber nicht. Er musste lernen. Benehmen. Als ob er das nötig hätte! Manieren und anständiges Benehmen haben wir schon von klein auf gelernt. Nur, dass wir es nicht gerade oft für nötig hielten und lieber Streiche spielten. Aber das ist doch auch normal für Kinder, oder? Warum nur er? Warum nicht ich? Warum nicht wir beide? Eigentlich war ich doch die Ältere. Um ein paar Minuten. Doch ich war ein Mädchen und die Linie und das Geschäft gingen schon immer über die Männer des Hauses. Ich seufzte und ließ den Kopf auf das Kissen in meinen Armen fallen. “Hey! Neru an Rin! Hörst du mir eigentlich zu?” Als ich Nerus Stimme hörte, schaute ich auf. “Oh Gott, was ist eigentlich mit dir los?! Du kommst um 8 Uhr in der Früh an, wo du mir erst abgesagt hast! So früh und unangekündigt! Wenn ich nicht vergessen hätte, den Wecker auszustellen, würdest du noch immer im Regen stehen!”, schimpft Neru nun schon zum ich weiß nicht, wie vieltem Male. Im Regen stehen. Wann würde es wohl endlich aufhören immer wieder zu regnen? Bald war schließlich Sommer! Sommer, Sonne, Strand, Eis und Bikini. Dann würden Len und ich wieder die Tage im Ferienhaus verbringen. Feuerwerk, Wassermelonen, ganz viel Spaß. Nur wir zwei. “Rin! Also echt jetzt! Du schaust so deprimiert und abwesend und beachtest mich nicht einmal! Seit eure Eltern wieder da sind geht das nun schon. Jetzt erzähl schon. Was. Ist. Los?” Eindringlich schaute mich Neru an, doch ich wich ihrem Blick aus. Ich wusste selber nicht, was mit mir los war. Wie sollte ich ihr da antworten können? In Gedanken drückte ich das Kissen noch fester. Neru wusste noch nichts von Lens zukünftiger Verlobten. Bisher hatte ich noch nichts von den Verlobungsplänen gesagt. Denn ich wusste, dass sie ist in ihn verliebt war. Ich atmete tief ein und aus. Lugte aus dem Kissen hervor und schaute ihr vorsichtig ins Gesicht. Sie schien zu ahnen, dass es mehr als ein Streit war. Und es nicht direkt um mich ging. “Len...er ist...”, doch ehe ich mehr sagen konnte, war Neru von ihrem Stuhl aufgesprungen und stand da. Bereit für alles, was auch kommen sollte. Sogar das Handy hatte sie schon gezückt. “Was ist mit ihm? Wurde er entführt und vergewaltigt? Haben eure Eltern ihn verkauft?! Wehe, ich werde ihn zurückkaufen! Die Mafia, Yakuza, wer...” - “Weder noch! Viel schlimmer...” Wie versteinert starrte sie mich mit offenem Mund an, bis ihr das Handy aus der Hand glitt. “Er”, stockte ich, “wird nächste Woche ein Mädchen treffen. Unser Vater hat das Treffen arrangiert. Sie ist die Tochter eines Freundes und soll seine Verlobte und zukünftige Frau werden.” Nun, da ich es ausgesprochen hatte, spürte ich einen Stich. Meine Zunge wollte sich nicht mehr rühren. Ich konnte nicht mehr sagen. Auf einmal war mir unglaublich übel und meine Augen begannen zu schmerzen, als hätte ich zu lange ins Licht geschaut. Sie tränten. Eine Träne nach der anderen, ohne dass ich es so richtig wahrnahm. Während ich mich nicht rühren konnte und sogar ins Kissen biss, hob sie ihr Handy auf. Dann setzte sie sich wieder hin und starrte darauf. Jedenfalls glaubte ich das. Durch die Tränen konnte ich keine Umrisse mehr erkennen, lediglich Farbklekse. In meinen Gedanken wiederholte ich die Worte immer wieder. Len würde sich verloben. Mit einem fremden Mädchen. Einem anderen Mädchen. Das ich nicht kannte. Keine ist gut genug für ihn! Er ist zwar faul aber viel zu gütig, als dass irgendein Mädchen ihn verdient hätte! Ich will das nicht. Ich will keine Verlobung zwischen ihr und dieser anderen. Aber wer bin ich, ihm vorschreiben zu dürfen, mit wem er sich verloben darf? Wenn er sich in sie verliebt, dann...ist das doch nur richtig, oder nicht? Ja, es wäre nur richtig. Trotzdem. Warum auch immer. Für mich ist es falsch. Dieses Mädchen, das weder er noch ich kennen. Er sollte sich mit einer verloben, die ihn kennt. Länger. Neru vielleicht. Oder mit... ...mir? “Wir werden das verhindern!”, plötzlich hatte Neru ihre Stimme wieder und war selbstbewusster als je zuvor. Diese selbstbewusste Art riss mich je aus meinen Gedanken. Mit den Ärmeln versuchte ich mir die Tränen wegzuwischen, da reichte sie mir ein Taschentuch und schaute mich besorgt an. “Jetzt mach dir mal keine zu großen Sorgen! Das hat mich zwar wirklich vom Stuhl gerissen, aber ich lasse nicht zu, dass ein anderes Mädchen außer mir seine Braut wird!” Die eine Hand zur Faust geballt, streckte sie in die Luft und steht wie entflammt da. Leidenschaft, Wut und ungeheuerlicher Tatendrang, den man nur bei neuen Handys oder Len zu sehen bekam. Den restlichen Tag verbrachten wir damit, uns für jede nur erdenkliche Situation einen Plan auszudenken, wie wir das Treffen stören, es verhindern könnten. Wieder daheim ging ich gleich auf mein Zimmer. Hunger hatte ich genauso wenig, wie mich mit irgendwem zu unterhalten. Meine Eltern haben keine Anstalten gemacht, mit zu schelten, weil ich so lange fort war und nicht gelernt habe. Also konnte man mir ansehen, dass etwas nicht stimmte? Ja. Als ich in meinen großen Spiegel im Zimmer blickte, war ich richtig geschockt. Die verheulten, geschwollenen, roten Augen. Wie ein Zombie auf Drogenentzug. Nachdenklich betastete ich die geschwollenen Augen. Im Fernsehen hab‘ ich mal gesehen, wenn man Löffel in das Gefrierfach und sie dann auf die Augen legt, soll das besser werden. Überlegend, ob ich Gumi nun darum bitten soll und michgerade Bettfertig machen wollte, hörte ich jemanden geschäftig reden. Bei genauerem hinhören, schnürte es mir die Brust zusammen. Len. Mein Bruder war im Zimmer nebenan und telefonierte. Zu dieser späten Stunde. Ohne es wirklich zu wollen, saß ich noch ehe ich es bemerkte vor der Trenntür und linste durch den Spalt. Da saß er auf dem Boden, an sein Bett gelehnt direkt mir gegenüber. „Aber ich will noch keine Verlobte! Nicht irgendein Mädchen, das ich gar nicht kenne! Du weißt doch, dass ich…“, als er kurz aufschaute, schrak ich zurück und ging zur Seite. Hatte er mich gesehen? Doch statt meiner größten Befürchtung nach die Tür aufzumachen und zu fragen, ob ich ihn belauscht habe, stimmt er murmelnd seinem Gesprächspartner zu. Dem Ton nach, sprach er mit Kaito, seinem besten Freund. Mit seinen rund 19 Jahren, also gute drei Jahre älter als wir, ging er bereits an die Universität. Auch wenn er nicht danach aussah. Dass sich die beiden kennen gelernt haben, als Kaito ausversehen zu unserer Schule statt seiner ging und keine Vorlesung gefunden hat…unglaublich, wirklich unglaublich. So einer und Uni! Plötzlich wurde Len lauter. Hoffentlich konnten das unsere Eltern nicht hören, denn wie er fluchte! Wie wenig er eine Verlobte vorgestellt bekommen, wie wenig er nach der Pfeife unserer Eltern tanzen wollte. Noch ehe sein Zorn abgeflaut war, starrte er betreten, traurig zu Boden. Sein Blick war in diesem Moment so einsam. Am liebsten wäre ich reingegangen, hätte ihm das Telefon aus der Hand genommen und umarmt. Ihn gebeten, sich mir anzuvertrauen, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Alles. Nur dass er nicht mehr diesen schmerzlichen Ausdruck hatte, der mich selbst so tief berührte. Jäh versetzte dieser Anblick meinem Herzen einen Sprung. Es schlug schneller und mein Gesicht brannte beinahe. Ungläubig, verwirrt, um mich abzulenken, holte ich mein neues Skizzenbuch. Mein altes war voll, all die Zeichnungen aus meiner Freizeit und dem Unterricht waren da drin. Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, die außer meiner Lehrerin und Neru keiner kannte. Auch enthielt es fast nur Zeichnungen von meinem Bruder, weil er einfach das beste Motiv in meiner Umgebung war! Immer erhältlich. Verträumt starrte ich auf das leere Buch in meinen Händen. Dann nahm ich einen Kohlestift, setzte mich an den Spalt, von welchem aus ich Len davor beobachtet hatte und begann zu zeichnen. Sein feines Gesicht, das meinem glich und doch ein völlig anderes war. Seine sanften Gesichtszüge, die trotz des Schmerzes, den er gerade ausdrückte, erkennbar blieben. Meine Augen begannen wieder zu tränen, um mich herum schien alles dunkler zu werden. Die Lieder wurden mir schwer, das Telefonat nebenan wurde immer leiser. Ehe ich mich versah, rührte sich meine Hand nicht mehr, bis ich schließlich in tiefen Schlaf fiel. Ein Uhr zeigte das leuchtende Display des Handys nun an. Ein Uhr in der Nacht. Nun war also schon Montag. Heute war der Test über die Schullektüre. Hoffentlich ging alles gut. Len konnte nicht schlafen. Ständig dachte er an das Treffen in einer Woche. Vielleicht würde es ja doch ganz nett werden und sie konnten erst mal nur Freunde sein. Sein Blick wanderte von der Handynummer des noch immer unbekannten Mädchens durch das Zimmer und blieb an einem Lichtstrahl hängen. Konnte Rin etwa auch nicht schlafen? Wegen dem Test? Lernte sie noch? Seit ihre Eltern wieder zurückgekehrt waren, haben sie nichts mehr zusammen gemacht. Keine großen Gespräche mehr geführt, geschweige denn mit ihren Freunden. Nur noch gelernt. Leise stand er auf. Behutsam schlich er auf den feinen Spalt der Trennwand zu. Wenn er hinübergehen würde, über diese ‚Schwelle‘, so fühlte er, wären sie wieder vereint. Doch als er versuchte, sie zur Seite zu schieben, wollte ihm das nicht gelingen. Ungläubig versuchte er es darauf etwas kräftiger und tatsächlich – sie rollte zur Seite. Jedoch bereute er es zugleich, das getan zu haben, denn jäh rutschte und fiel etwas mit voller Wucht auf seinen Fuß. Gerade noch so konnte er einen Schmerzensschrei und Fluchen unterdrücken. Im Schein der Lampe sah er, dass es seine Schwester war. Sie schlief. Eine kurze Zeit, so lange, bis es ihm bewusst wurde, starrte er sie an. Dann setzte er sie vorsichtig auf und versuchte sie zu wecken, worauf sie allerdings partout nicht reagieren wollte. Also musste er sich was anderes überlegen. So würde sie nur krank werden. Als er sich zu ihr hinunter setzte, bemerkte er, was Rin auf ihrem Schoß hatte. Ihr Skizzenbuch. Er war beim Kauf dabei gewesen. Tatsächlich war es sogar von ihm. Es hatte ihr so gut gefallen. Darum hatte er es ihr geschenkt. Eigentlich wollte er es ihr nur aus der Hand nehmen und mitsamt dem Bleistift weglegen, aber er war neugierig, was seine Schwester gezeichnet hatte. Er blickte in sein eigenes Gesicht. Nicht fertig. Eine Skizze. Kohle. Wann hatte Rin das gezeichnet? Hatte sie ihn…belauscht? Er bückte sich vor Rin erneut, nahm sie auf seine Arme und trug sie, wie eine Braut, zu ihrem Bett. Genauso friedlich, glücklich, sah sie aus, aber er fragte sich, ob sie geweint hatte. Noch immer wirkten ihre Augen leicht geschwollen. Len legte Rin auf ihr Bett und deckte sie zu, anschließend löschte er das Licht. Aber anstatt gleich in seine Hälfte des Zimmers zurückzukehren, setzte er sich an den Bettrand. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und so schaute er sie noch immer an. Seine Schwester. Engelsgleich schlief sie. Immer an seiner Seite. Schon seit er denken konnte. Nun, da alles wie ein Traum schien, seine Zukunft wohl bald besiegelt sein würde, machte er sich Gedanken. So zierlich wie sie war, so fröhlich und manchmal launisch. Wie die Jahreszeiten. Jeder mochte etwas anderes an ihr. Manche aber einfach alles. Kaum merklich, neigte er sich nach vorne. Rutschte etwas näher heran. Weiter nach vorne. Noch ehe seine Lippen die ihre berührten, hielt er inne. Was tat er da? Sie war seine Schwester! Außerdem schlief sie und…Len kniff kurz die Augen zusammen. Ach was soll’s! Ohne weiter zu überlegen küsste er sie. Auf die Stirn. Sofort ging er zurück in sein Zimmer, wo er die Trennwand wieder zuzog. Mit den Fingerspitzen berührte er seine eigenen Lippen und fragte sich, wie ihm der Gedanke – seine Schwester zu küssen, richtig zu küssen – überhaupt kommen konnte. Verwirrt und mit erhitztem, hochrotem Kopf stand er gegen die Wand, die ihre beiden Zimmer trennte. Froh, dass es Nacht war. Froh, dass sie geschlafen hatte. Froh, dass es so gekommen war. Kapitel 3: 3 ------------ „Oh man! Der war aber richtig schwer! Wer hat bitte geahnt, dass wir Stilmittel, Charakterisierung und eine Astreine Nacherzählung liefern sollen?!“, bestürzt, ja genervt lehnte sich Len mit seinem Stuhl nach hinten an den anderen Tisch. Der Test über die Lektüre war gerade vorbei. „Ich hab die ganze Nacht nicht schlafen können! Dabei hab ich so viel gelernt, sogar fast das ganze Buch gelesen! Bis auf den Schluss und dann kommt ausgerechnet dieser am detailliertesten dran!“ Neru unterhielt sich mit Len und bestärkte ihm, dass der Test wirklich eine Frechheit war. Dabei erging es ihr von allen am besten darin. Literatur war ihr Fach, da konnte niemand aus unserer Klasse mithalten. Len hatte also nicht geschlafen? Schlecht. So wie er es beschreibt, hat er sich bei dem Test, genauso wenig wie ich, mit Ruhm bekleckert. Warum Len wohl nicht schlafen konnte? Gedanklich kehrte ich zum gestrigen Abend zurück. Ich bin von Neru heim, gleich auf mein Zimmer, dort wollte ich mich umziehen, als ich Len mit Kaito telefonieren hörte und habe stattdessen mein Skizzenbuch geholt und angefangen ihn zu zeichnen. Das lag nun auf meinem Schreibtisch. Jedoch weiß ich noch ziemlich genau, dass ich nicht ins Bett bin. Wie also, konnte es sein, dass ich heute Morgen in eben genanntem aufgewacht bin? Sogar noch mit meinen Freizeitklamotten! Irgendwer musste mich ins Bett getragen haben, aber Len war es nicht. Nur ein Traum, in Folge auf den Besuch bei Neru. Ja, das wird es wohl gewesen sein. „Hey, wie ist es bei dir gelaufen?“, richtete meine beste Freundin das Wort an mich. Zur Antwort bekam sie allerdings nur ein unverständliches, gereiztes murmeln, das ihr bedeutete, nicht weiter nachzuhaken. Mein Blick wanderte nach rechts, wo mein Bruder saß. Und ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbildete. Wenn nicht, dann schaute er mich auf beunruhigende Weise tief besorgt an. Sah ich immer noch so verheult aus? Tage vergingen, ohne auch nur ein erwähnenswertes Ereignis. Die Pausen verbrachten Neru und ich damit, unseren Len-Rettungsplan auszuarbeiten und ehe ich mich versah, war es auch schon wieder Donnerstag und das Wochenende nah. Donnerstag war einer der schönsten Schultage. Doppelstunde Kunst. Unser Lehrer saß immer vorne an seinem Pult, gab uns eine Aufgabe und kümmerte sich dann nicht weiter darum, außer jemand fragte ihn um Hilfe. So malten wir diesmal auf einer Leinwand unsere Partner, die ausgelost wurden. Schon wieder landete ich dabei, Len zu malen. Im Gegenzug war dann ich sein Modell. Entspannt, mit einem Buch in der Hand und einer Brille auf der Nase, saß er auf dem Stuhl, wie ein Intellektueller. Zugegeben, diese Aufmachung stand ihm. Kurz vor Ende der zweiten Stunde hielt er es allerdings nicht mehr aus und kam rüber, um mein Ergebnis soweit in Augenschein zu nehmen. Währenddessen unterhielt er sich mit einem aus unserer Klasse. „Sicher sieht das nicht im Geringsten nach dir aus Len! Rin tut mir jetzt schon leid von dir gemalt werden zu müssen.“ „Als ob du malen könntest! Bei dir wird das Gesamtbild allerhöchstens aussehen, als wärst du ausgerutscht und hättest einen Farbeimer drüber geschüttet!“, scherzten sie. Auch wenn sie es nicht ernst meinten, so versetzte spürte ich doch einen Stich in der Brust. Dann hörte ich nichts mehr. Beide standen hinter mir und betrachteten das Bild. Langsam wurde mir das unangenehm und ich wollte mich gerade umdrehen und schauen, ob sie überhaupt da waren, als ich ein „Wow“ hörte. Von beiden. „Len…seit wann kann deine Schwester so gut malen?“ „Ich weiß es nicht…den Moment muss ich verpasst haben“, meinte Len. Beide sahen sie das Bild mit offenem Mund an und kurz darauf tummelte sich die ganze Klasse um ihr Bild. Dann läutete die Schulglocke zum Unterrichtsende. „Hey Rin! Warte doch!“ „Ja, warten wir auf Len!“, meinte Neru. Hastig packte Len seine Sachen zusammen und holte uns schließlich ein. „Hast du noch mehr Bilder? Ich mein daheim. Oder in deinem Skizzenbuch oder wo auch immer?“, er klang interessiert, Neru machte große Augen. Ich wusste, dass sie an mein altes Skizzenbuch dachte und wie viele Bilder von ihm da drinnen waren. Auch die ein oder andere ausgedachte Szene von ihr und mir, wie ein Date zwischen ihnen aussehen könnte. Vielleicht ein Kuss und mehr. Unter keinen Umständen! „Ehm…ja…nein…also…vielleicht, aber das sind so alte Zeichnungen, dass ich sie dir ganz sicher nicht zeige! Viel zu peinlich!“, blockte ich. „Genau! Was bist du eigentlich für ein Bruder? Ihr seid immer zusammen und wisst nicht, was der andere gut kann? Schämt euch!“ „Doch, Rin kann gut nerven“, grinste Len daraufhin. „Aha! Und was ist mit dem verehrten Herrn, der einem, selbst wenn er schweigt, das Ohr abkaut?“, witzelte ich, erleichtert über den Themenwechsel. Wir drei scherzten und stritten sogar ein wenig, bis wir uns an der großen Kreuzung trennten. Danach wurde zwischen uns wieder still. „Also…zeigst du mir nun ein paar? Ich würde wirklich sehr, sehr gern ein paar Bilder sehen. Bitte~“, Len flehte schon fast. Trotzdem blieb ich stur und ging nicht weiter darauf ein, bis er schließlich aufgab. Allerdings murmelte er noch etwas vor sich hin und es hatte ganz den Anschein, dass er sich damit nicht zufrieden geben würde. Dann kam der Tag auf den wir alle gewartet hatten. Weltuntergang. Rückgabe des Tests. Nach der Verbesserung, Ende der zweiten Schulstunde, Frühling. Ausgelöst durch Teenager im Alter zwischen 15 und 17. Wenn es noch ein Morgen gibt, wird das mit Sicherheit die Titelseiten der Zeitungen zieren. Oder jedenfalls bei uns zuhause. Sowohl Len, als auch ich waren unteres Mittelmaß. Besser, als wir erwartet hatten, aber schlechter, als wir sollten. Beinahe zeitgleich sprachen wir jeweils den anderen an. „…meinst du, das wird ordentlich Ärger geben?“, worauf wir losprusteten. Neru hingegen starrte uns nur ungläubig an. „Wie könnt ihr jetzt nur lachen?! Am Ende müsst ihr noch in die Nachprüfung!“, sichtlich sauer stauchte sie uns zusammen, bis sie wieder in ihren üblichen Rausch des Glücks verfiel. „Hach~ der Test war so toll, so einfach! Ich dachte schon ich habe die 2. Aufgabe falsch beantwortet, aber dabei hab ich sie sogar mit voller Punktzahl richtig! Hoffentlich werden wir noch eine so schöne, untypische Herzschmerzgeschichte durchnehmen. Hach, das Buch war so toll, ich könnte es immer wieder lesen! Das muss ich gleich meiner Mutter mitteilen“, mit diesem Satz holte sie ihr Handy raus und tippe wie in Lichtgeschwindigkeit eine zwei Seiten lange SMS. Daheim bekamen wir wie erwartet Ärger von unserer Mutter. Für unseren Vater war Schule nur das halbe Leben, er meinte, am meisten lernt man sowieso im Alltag und der Arbeit. Bis Sonntag bekamen wir Hausarrest und Telefonverbot. Aber dafür gibt’s immer noch Handys. Am nächsten Abend rief ich also meine Freundin vom Handy aus an. Von Len wusste ich, dass das Treffen morgen Mittag stattfinden würde. Eine Stunde vorher wollten wir uns treffen und unseren Plan vorbereiten. Alles war perfekt. Pünktlich saßen wir bereits eine halbe Stunde vor dem Treffen in einem Gebüsch, von wo aus, wir den Treffpunkt im Auge hatten. Len war bereits dort, aber von dem Mädchen war keine Spur. Gestern hatte er von unserem Vater ein Bild von ihr bekommen. Sie hatte lange, sehr lange, Haare, die sie zu Rattenschwänzen zusammengetan, trug. Ein nettes Gesicht, eine schlanke, feminine Gestalt und ein bezauberndes Lächeln, das einen jeden verzauberte. Sie schien zu perfekt auf dem Bild. Wahrscheinlich war sie ein richtiger Hausdrachen und das alles nur Fassade! So einer konnte ich, ähm, ich meine wir, Len nicht überlassen. Neru neben mir brannte vor Eifersucht und Tatendrang. Plötzlich erhielt ich einen Anruf. Len. Gerade noch so konnte meine Freundin verhindern, dass ich aus dem Gebüsch hochschreckte und unser Versteck preisgab. Vorsichtig schlich ich mich also davon und hinter den Essensstand daneben, dann nahm ich den Anruf entgegen. Mein Bruder wollte wissen, ob ich nicht doch dabei sein möchte, er allein würde sich nicht so ganz trauen. Da machte mein Herz einen Satz. Mir wurde das Gesicht heiß. Spontane Planänderung dachte ich. „Tut mir Leid, es geht nicht. Ich…habe gerade ein Problem, da sind so Typen und…NEIN, Lasst mich in Ruhe!“, ich spielte Len eine Szene am Handy vor, dass ich belästigt würde. Er sprang darauf an, fragte, wo ich sei und verließ, wie ich sehen konnte, den Treffpunkt. Auch wenn ich mich nicht ganz wohl dabei fühlte. Schnell schrieb ich Neru eine SMS, dass ich ihn weglenkte. Nicht weit entfernt stürzte ich mich in Lens Arme und erzählte ihm eine Geschichte, was angeblich passiert war. Er tröstete mich, nahm mich in den Arm und diesen Schutz, den er mir bot, diese Wärme, ließ mir echte Tränen über die Wangen laufen. Neru unterdessen wartete im Gebüsch auf das Mädchen. Sie würde es etwas unfair finden, wenn sie da stehen und auf ihren Zukünftigen warten würde. Plötzlich vernahm sie ein Rascheln und dann wurde ihr von hinten der Mund zugehalten. So konnte sie nicht schreien. Versuchte man etwa, sie zu entführen? Aber nicht mit ihr! Mit voller Kraft rammte sie ihren Ellbogen in den Bauch der Person hinter ihr. Mit Vergnügen hörte sie einen Aufschrei und wie er sich unter Schmerzen krümmte. Doch als sie sich umdrehte, war sie mehr als erstaunt. „Kaito!“, entfuhr es ihr, „wa-was machst du hier? Wieso…? Und was sollte das eben!“ Sauer half sie ihm, sich aufzurichten. „Das würde ich auch gerne wissen. Was machen ein älterer Junge und ein viel zu junges Mädchen, die beide noch zur Schule gehen im Gebüsch?“, sie blickten in das Gesicht von Meiko Sakine, „ich hoffe, ihr habt dafür eine gute Erklärung!“ Dann begutachtete sie Kaito. Mit festem Griff packte sie ihn am Schal, den er fast immer trug, und schleifte ihn hinter sich her. „Das fällt unter Exhibitionismus, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen!“ „Aber ich hab doch gar nichts getan!“, verteidigte sich Kaito. „Dann Vergewaltigung! Noch schlimmer!“ „Aber ich hab doch gar nichts-„, sie versetzte ihm einen Schlag und er wurde benommen von ihr weggeführt. Neru fragte sich nur, was für ein Theater das sein soll und folgte nach, um zu verhindern, dass Kaito wirklich noch eingesperrt wurde. Keiner bemerkte das hübsche Mädchen, das am Treffpunkt stand und alles beobachtete. Sie ging kurz darauf nach einem Blick auf ihr Handy. „Geht’s wieder?“, besorgt, wischte Len mir mit einem Taschentuch die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Ja…danke“, versuchte ich mit einem Lächeln zu erwidern. „Sicher?“ Heftig nickend versuchte ich meine Aussage zu unterstreichen, doch er sah mich noch immer leicht ungläubig an, darum stand ich auf, und schlug vor aufs Frühlingsfest in der Nähe zu gehen. Bald gab er klein bei und wir stürzten uns ins Vergnügen. Auf die kleine Achterbahn folgte Zuckerwatte, dann Kettenkarussell, Budenschießen, Lose ziehen, wir hatten viel Spaß. Die Sonne begann unterzugehen und die Lichter wurden eingeschalten. Alles wurde in ein prächtiges, goldenes Licht getaucht, passend zu dem Abendrot. „Es wird schon dunkel. Sollten wir nicht besser nach Hause?“, bemerkte Len. „Nur noch ein bisschen! Schau, schau, da ist ein Purikura! Los, los, lass uns noch ein paar Fotosticker machen!“, ich zerrte ihn leicht am Ärmel in Richtung des bunten Fotoautomaten. Die Auswahl des Motives und der Bilderanzahl überließ er mir, was auch gut so war. Das Endergebnis konnte sich sehen lassen. Jeder von uns bekam die Hälfte der kleinen Sticker. „Sieht tatsächlich ganz nett aus“, er holte sein Handy raus und klebte den Sticker vorne drauf, mit einem süßen Lächeln im Gesicht. Ich tat es ihm gleich, nur klebte ich einen in meine Kette rein. Eine hübsche, kleine Kette in Gestalt eines Panda, die man öffnen konnte. Die Kette hatte ich letztes Jahr von unseren Eltern geschenkt bekommen. Schließlich begaben wir uns, trotz meines Quengelns heim. Nun war es bereits dunkel und um schneller wieder daheim zu sein, nahmen wir eine Abkürzung. Allerdings sind diese Gassen kaum beleuchtet. Früher haben wir sie öfter genutzt und kannten uns daher aus, trotzdem machten sie einen gefährlichen, furchteinflößenden Eindruck. Doch zu zweit war das nie ein Problem. Hand in Hand sind wir immer heil angekommen. Aber jetzt war das anders. Wir waren älter. Hand in Hand. Unvorstellbar. Ein wenig traurig gestimmt, sah ich die dunkle Gasse entlang, meine Hände wurden kälter. Ich schaute auf Lens Hand, dann in sein Gesicht. Unsere Blicke begegneten sich. Schnell blickte ich wieder weg. Warum auch immer, es war mir peinlich an damals zu denken. Jetzt daran zu denken und herbeizusehnen, dass wir wieder Kinder sein könnten, bei denen das noch nichts sagte. Gerade wollte ich Anstalten machen, meine Hand in die Jackentasche zu stecken, als er sie nahm. Meine kalte Hand in seiner warmen. Doch als ich mit großen Augen aufschaute, blickte er verschämt weg. Keiner von uns sagte was. Langsam gingen wir die Gasse hinab. Ohne Angst. Mit leichtem aber beruhigendem Herzklopfen. Das, das man auch bekommt, wenn man sich jeder Regel wiedersetzt. Rin war bei Neru. Sie mussten irgendetwas besprechen. Frauensache haben sie gesagt. Gumi war beim Arzt und sein Vater musste etwas geschäftlich abklären. Seine Mutter war gerade Einkaufen. Das Haus war also leer, nur er noch hier. Genau zur rechten Zeit. Len hatte nicht vorgehabt sich von Rin mit einem solch laschem Argument wie „Die Bilder sind viel zu alt, das ist mir peinlich“, abspeisen zu lassen. Er würde seine Chance nutzen. Auch wenn es sich eigentlich nicht gehörte in anderer Leute Zimmern zu stöbern, er wollte ja bloß die Bilder sehen. Dann hatte er endlich das alte Skizzenbuch gefunden. Das hatte Rin immer und überall mit hingenommen, daran konnte er sich noch zu gut erinnern. Aber schon damals durfte er nie auch nur einen Blick hinein werfen. Er freute sich schon darauf, was sie alles gezeichnet haben konnte. Blumen? Frau Sakine? Oder Frau Yowane, die stellvertretende Schulleiterin? Kaito oder Neru? Vielleicht Gumi bei der Arbeit oder Essen? Vielleicht sogar Szenen aus ihrem Lieblingsmanga? Doch auf der ersten Seite war nichts von allem, an das er gedacht hatte. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihr und…ihm! Das Foto von ihrem gemeinsamen zehnten Geburtstag. Und dann konnte er es nicht mehr glauben, was er sah. Jede Seite, die nicht beschrieben sondern auf die gezeichnet war, war ein und dasselbe Motiv. Immer und immer wieder. Unter manchen stand „Für Neru“. Aber bei den ganzen anderen waren keine Bemerkungen. Dafür waren sie mit viel Gefühl, viel ausführlicher gezeichnet worden. Von der ersten zur letzten Seite sah man eine unglaubliche Verbesserung. Obwohl es immer dasselbe Motiv war, war es doch nie gleich. Nie hatte er gewusst, dass ein Mensch so viele unterschiedliche Seiten zeigen konnte. Nie war ihm das bewusst gewesen. Nie hatte er etwas davon gemerkt. Nun kam ihm der Gedanke. Konnte es sein? Hatten ihre Augen nie ein anderes Motiv gekannt? Lagen ihre Augen tatsächlich die ganze Zeit auf…ihm? Jetzt musste er sich erst mal setzen. Immer wieder blätterte er die Bilder durch. Es waren Scherzhaft gemeinte dabei. Wie Neru und er sich küssten. War sie vielleicht in ihn verliebt? Aber die anderen Bilder zeigten ihn und nur ihn. Die, die nicht für Neru waren. Wie er lachte, weinte, abwesend aus dem Fenster schaute. Am Strand, beim Essen, wie er schlief. Wann hatte sie das alles gezeichnet? Warum hat er nichts davon gemerkt? Er kann sich nicht mal an die Momente erinnern. Schließlich schaute er abwesend das letzte Bild an. Und er schaffte es nicht, den Blick abzuwenden, denn ausnahmsweise stand darunter eine Anmerkung. Kein „Für Neru“ oder sonst was in der Richtung. Sondern ein „Ich wünschte, dieses Lächeln gälte mir“. Immer und immer wieder glitten seine Augen über diesen Satz. Über diese feine, säuberliche Handschrift seiner Schwester. Er sah zwei, drei eingetrocknete Wasserflecken. Oder waren das Tränen? Sein Gesicht wurde heiß, er fühlte sich aufgeregt und fing kaum merklich an zu Zittern. Besser er legt das Buch zurück, bevor sie ihn doch noch überraschte. Just in diesem Moment, hörte er die Eingangstür unten aufgehen und eine fröhliche Begrüßung in das leere Haus rufen. Rin war zurück. Jetzt musste es schnell gehen, nur das Buch zurücklegen und dann...aber da fiel es ihm herunter. Erstarrt blieb Len stehen. Er hörte die Schritte auf der Treppe, riss sich zusammen und hob das Skizzenbuch auf. Gerade als er sich wieder aufrichtete, trat Rin ins Zimmer. Versteinert blieb Len stehen. „Oh…hi. Wolltest du etwas?“, fragte ihn Rin. Doch ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig von angenehm überrascht zu einem Entsetzen, als sie sah, was er in den Händen hielt. „Das…“ „Es tut mir leid!“, er wich einen Schritt nach hinten zurück. „Was…“, ungläubig schaute ich ihn an, doch er wich meinem Blick aus. Dass er nichts gesehen hat, konnte er nicht sagen. Er konnte seine Zwillingsschwester nicht belügen. „Warum?!“, sagte ich, so verletzt, worauf Len zusammenzuckte. „Hast du…?“ Schwach nickte er, „Ja.“ „Aber…warum?“, ich war den Tränen nahe. „Wie konntest du!“, ich riss ihm das Buch aus der Hand in meine Arme, versuchte es zu verstecken und stand hinter ihm da. Nun liefen mir die Tränen doch übers Gesicht. Ich war so tief verletzt. Als hätte er mich verraten. Konnte er meine Gefühle aus den Bildern herauslesen? Endlich war mir klar geworden, was mich antrieb, ihn immer wieder zu zeichnen. Ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken, alles zu verzeihen. Keine als gut genug für ihn zu empfinden. Über die Jahre habe ich ihn so lieb gewonnen, mein ganzes Herz geschenkt. „Ich…wollte eigentlich bloß mehr Zeichnungen sehen…aber ich wusste nicht…Rin…diese Bilder…? Das bin doch…immer ich?“ Stumm, unter Tränen, nickte ich, wissend, dass er es nicht sehen konnte. Aber er wusste die Antwort auch, ohne hinzusehen. Ich spürte ihn hinter mir. Er machte Anstalten etwas zu machen. Irgendetwas, ihr Trost zu spenden. Er konnte nicht bereuen das Skizzenbuch angeschaut zu haben. Aber er bereute entsetzlich, sie dadurch verletzt zu haben. Für ihn war das unentschuldbar. Sie war doch fast sein zweites Ich. Die ihm nächste Person. Und er war schuld, dass sie hinter ihm stand, zitterte, weinte, schluchzte, litt. Er sah über seine Schulter, sah, wie verloren sie da stand, wie verletzt, wie hilflos. Er nahm seinen Mut zusammen. In einer Bewegung drehte er sich um und legte die Arme um mich. Warum?! Wie konnte er! Er hatte doch die Bilder gesehen! Meine Gefühle gesehen! Was dachte er sich hierbei? Vorsichtig, aber kräftig genug, befreite ich mich, nun heftiger zitternd. „Hör…hör auf damit!“, protestierte ich schwach. Unverständlich, nun als wäre er verletzt schaute er mich an. In seinem Blick lag Schmerz. „Bitte…ich bin schon verwirrt genug…ich…mach mir keine Hoffnungen, bitte.“, flüsterte ich durch meine Tränen, „es…es ist nicht so, dass ich dich nicht mehr mag oder so…bitte deute das nicht falsch…aber…du hast doch die Bilder gesehen! Mir wurde das erst vor kurzem bewusst! Neru wollte immer, dass ich dich zeichne und das habe ich getan! Doch dann zeichnete ich dich selbst dann, als sie mich nicht mehr danach fragte. Ich stellte fest, dass ich nur noch deinen Blick suchte, mich nach deiner Nähe sehnte, deine Berührungen begehrte. Ich wollte nicht zulassen, dass dich eine andere bekam, nicht verstehen, dass dich jemand außer mir verdiente. Das gestern mit den Typen war gelogen. Als du mich angerufen hast, sah ich meine Chance das Treffen zu verhindern, dich für mich zu haben. Auch wenn ich weiß, dass es falsch ist, ich kann nicht anders. Ich kenne dich am besten, am längsten! Der Tag gestern war so schön, ich wünschte, es würde immer so sein. Nur wir beide. Dann gestern in der dunklen Gasse. Ich war so glücklich! Dass du dieses Mädchen nicht treffen wolltest hatte mich zu hoffen gelehrt und mir bewusst gemacht, warum ich mich in deiner Gegenwart anders fühle. Warum sich mein Herz nach dir verzehrt, meine Gedanken sich nur um dich drehen. Warum ich mir wünschte, dass jedes Lächeln von dir nur mir gilt. Und du mich, wenn du traurig bist, einsam, unglücklich, du dich nach mir verzehrst. Warum ich mir wünsche, von dir begehrt zu werden! Ich…Ich…“, jetzt hatte ich schon alles gesagt, was in mir vorging, was ich dachte, was ich noch nie sagen konnte. Niemandem. Da dürften drei Worte doch nicht schwer sein? Täglich werden sie gesagt. Aber ich habe Angst. Drei Worte. Aber drei Worte, die nicht rückgängig gemacht werden können. Drei Worte, die endgültig sind. Ich musste schlucken, schaute ins sein Gesicht und dann presste ich sie hervor. Die drei Worte. „Ich liebe dich“ Kapitel 4: 4 ------------ Len sah völlig überrascht aus. Sie…Rin…liebte ihn? Hatte er richtig gehört? Fest schaute sie ihm in die Augen. Wahrscheinlich schon, denn nach einem Scherz sah das nicht aus. Die Bilder, ihr Verhalten waren Beweis genug. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Ist das…wahr?“, auch wenn es keinen anderen Schluss zuließ, dass sie die Wahrheit sprach, er konnte seinen Ohren nicht trauen. Doch Rin schaute ihn nur mit noch größeren Augen an. „Doch…ich liebe dich! So sehr, gegen alle Regeln! So sehr, dass es weh tut“, schrie ich schon fast. „Glaubst du etwa, es fällt mir leicht, dir das zu gestehen? Es mir einzugestehen? Was denkst du, werden unsere Eltern sagen? Was Neru? Was alle anderen? Ich habe Angst davor. Ich brauche keine Antwort von dir. Denn am meisten fürchte ich, dass…dass…dass du mich nicht mehr…“, ich konnte nicht mehr sagen. Mir schnürte es die Brust zusammen, ein Kloß steckte mir im Hals, der mich zu ersticken drohte, weil er meine Kehle wie ein Messer durchbohrte. Len machte noch einen Schritt auf mich zu. Dann strich er mir mit einer Hand durchs Haar und sah mich mit so einem unbestimmten Blick an. Mit diesem Ausdruck, den er beim Telefonat mit Kaito letztens hatte. Als er über seine ‚Verlobte‘ redete. Eigentlich genau derselbe Ausdruck, nur lag nicht dieser Widerwillen darin. Zärtlichkeit. Als wolle er sagen… “Du Idiot“, meinte er leicht wehmütig. Noch einen halben Schritt. Mit der anderen Hand hob er sanft mein Kinn an. Die Tränen rannen mir weiter über die Wangen. Wann ist er so groß geworden? Wann hatte ich mich verliebt? Sein Kopf neigte sich leicht. Immer näher. Ich schaute ihm in seine blauen Augen. So tief wie der Ozean schien es mir. Sie waren wie meine und doch besonders, weil es die seinen waren, in die sie blickte. Zärtlich und weich trafen sich unsere Lippen. Ich schloss meine Augen und streckte mich ihm entgegen. Seine Hände glitten meinen Rücken hinab, zogen mich näher zu ihm, während er mich festhielt. Verlangen stieg in ihm auf, seine Lippen wurden fordernder. In seinen Armen - unter diesem leidenschaftlichen Kuss - schmolz ich dahin. Wie Karamell. Gerade putzte ich mir verschlafen die Zähne, als unsere Türklingel läutete. Wer konnte das so früh sein? Noch im Top, aber sonst fertig angezogen, schaute ich die Treppe hinunter in den Flur. Len kam mir, ebenfalls nur mit T-Shirt und Uniformhose bekleidet, entgegen. Eine unbekannte Frauenstimme war zu hören. Dann unsere Mutter, wie sie nach uns rief. Schnell brachte ich die Zahnbürste ins Bad und eilte mit Len nach unten. Am Esstisch saß eine hübsche, vielleicht Anfang 20 Jahre, junge Frau mit langen offenen Haaren. Sie wirkte sehr nett, aber auch gebildet. Uns wurde sie als Megurine Luka vorgestellt. Die große Schwester des Mädchens, das Lens Verlobte werden sollte. Meine Augen wurden groß. Sollte jetzt etwa sie den Platz ihrer Schwester einnehmen? „Guten Morgen. Verzeiht mir, dass ich Sie so früh störe, es wird auch nicht lange dauern“, ihr Lächeln war nett, aber doch geschäftsmäßig. „Nun, ich bin hier, um den Platz meiner Schwester einzunehmen. Ich habe von dem gestrigem Tag erfahren und da Miku nun abreisen musste…sicher wissen Sie worauf ich hinaus möchte.“ Also tatsächlich! Jetzt, da es mit ihrer Schwester…Miku hieß sie? nicht geklappt hatte, wollten sie einfach die Nächste unter die Haube bekommen! Unerhört! Verstohlen linste ich zu Len, der leicht missmutig gestimmt zu einer Antwort ansetzte, doch unser Vater antwortete noch vor ihm, „Danke, Ihr Angebot ehrt uns sehr, auch, dass Sie uns persönlich Ihre Aufwartung machen. Aber dem Anschein nach, ist mein Sohn noch nicht für eine Vermählung oder gar Verlobung bereit.“ Sowohl ich als auch Len stutzten und schauten unseren Vater erstaunt an. Er konnte doch gar nichts bemerkt haben? Als Luka sich verabschiedete, drängte uns Mutter, wir sollen uns schnell anziehen und in die Schule gehen. Vater meinte, dass wir wirklich noch Kinder seien. Len solle sich nach einer Braut umschauen. Wenn er bis zu seinem 18. Geburtstag keine hätte, würde er sicherstellen, dass er eine bekäme. In der Schule verhielten wir uns wie immer. Keiner von uns traute sich, zu zeigen, dass wir nun mehr oder weniger ein Paar sind. Kein Händchenhalten, kein plötzlicher Sicherheitsabstand und auch in der Gegenwart von Neru machten wir keine Anspielungen. Die Überraschung erwartete uns daheim. Beim Abendessen verkündeten unsere Eltern nämlich, wieder auf Geschäftsreise gehen zu müssen. Es gäbe gewisse Komplikationen, die bereinigt werden müssten. Morgen früh ging ihr Flugzeug. Wie lange sie weg sein würden, war noch ungewiss, daher konnte es sich nur um Wochen und Monate handeln. Das hieß nun sowohl für Rin, als auch für Len, dass die Situation erst mal entschärft war. Während wir uns in der Schule normal, wie immer verhielten, was bedeutete, dass sich das Zuspätkommen und Nachsitzen wieder einbürgerte, verbrachten wir unsere Nachmittage die ganze Woche über gemeinsam. Den einen Tag waren wir beim Karaoke, den anderen im Kino. An einem sogar auf dem monatlichen Markt. Da gab es alles, nützliches, wie unnützes. Ob Kerzen, Papier, Musikinstrumente oder sogar Haustiere. Ein Stand vertrieb Plüschtiere, Anhänger und alle Arten von Accessoires, die in Mädchenaugen eindeutig in die Kategorie „Süß“ gehörten. Dort sah ich einen Anhänger in der Form eines Violinenschlüssels und vielen kleinen Noten an Schnüren. Passend dazu gab es dasselbe Model in Form eines Bassschlüssels. Wir kauften dem jeweils anderen einen Anhänger. Den Bassschlüssel bekam Len. Obwohl wir mehr als pünktlich waren, gab es in unserer Klasse einen Tumult. Und nachdem wir ins Klassenzimmer getreten waren, wurden wir gleich von der Nachricht erschlagen. Alle starrten uns nur heimlich an, als würden sie es nicht wagen, etwas zu sagen. Als würden sie versuchen etwas zu entdecken, darauf warten, dass es jemand aussprach. Doch es tat keiner. Trotzdem wussten Len und ich, was sie beschäftigte. Ob wir tatsächlich zusammen waren. Wir, die Zwillinge. Es musste uns jemand letztens gesehen haben. Beim Karaoke vielleicht oder auf dem Markt. Vielleicht auch wann anders, alles war möglich. Und wenn jemand auch nur ein „Ich liebe dich“ aufgeschnappt hatte. Nun ging das Gerücht um. Unaufhaltsam verbreitete es sich wie ein Lauffeuer. Weiterhin verhielten wir uns wie immer, als wüssten wir nicht, was man hinter unseren Rücken über uns sprach. Allerdings schien die Lehrerschaft noch nichts davon zu wissen. Ebenso wenig wie der Direktor oder Neru. Auch wenn ich mir bei ihr nicht ganz sicher war. Hartnäckig hielt sich das Gerücht. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer und schlimmer. Mittlerweile wurden wir auch schon ganz unverschämt angesprochen, ob wir die Inzest-Zwillinge seien. Auch auf der Straße. Ein jedes Mal machte Neru entweder einen Aufstand oder aber wir machten eine sarkastische, herablassende Bemerkung, die dem Gegenüber erst mal die Sprache verschlug. Auf den Mund gefallen waren wir ja noch nie. Neru hatte bisher noch nicht einmal nachgefragt, doch ich merkte, wie es ihr langsam aufs Gemüt schlug. So sehr ich es wollte, ich konnte nicht. Wie sollte ich ihr gestehen können, den zu lieben, der wie mein anderes Ich war? Dass ich den liebte, den sie begehrte? Und dass er nun mehr, als alles andere, mir gehörte. Nach außen hin, in der Schule oder auf der Straße, ließen wir uns nichts anmerken, aber daheim litt die Stimmung dafür stark. Wir hatten uns Gumi anvertraut, schließlich war sie uns immer wie eine große Schwester oder Mutter. Gütig, wissend, wohlwollend. Sie nahm uns in den Arm und meinte, wenn es so sei, dann wäre es auch richtig so. Man hatte uns nie trennen können, da überraschte sie das nicht. Tatsächlich schien sie sogar richtig glücklich darüber. Aber all das nahm uns nicht die Last von den Schultern. Wie man uns ächtete, hinter unserem Rücken tuschelte, die Blicke. Ich hielt dem ganzen weniger stand als Len. In die Schule wollte ich schon gar nicht mehr, es war kaum auszuhalten! Am liebsten wäre ich Anfang des Tages in die nächstbeste Toilette gerannt und hätte mich bis zum Schulende verkrochen. Aber ich hatte Len an meiner Seite. Er unterstützte und verteidigte mich. Wenn ich dann unter diesem Druck zusammenbrach, wenn wir wieder daheim waren, dann nahm er mich in den Arm. Er drückte mich fest an sich und auch wenn ich wusste, dass er genauso litt, konnte ich ihm vielleicht nur dadurch Trost spenden. Schließlich kam es, wie es kommen musste. In der Pause sprach uns Frau Sakine an. Nach der Schule sollten wir ins Direktorat. Also war es nun tatsächlich zur Schulleitung durchgesickert. Wenn wir Glück hatten, hatten sie unsere Eltern noch nicht informiert oder aber eher gefragt, ob etwas an diesem Gerücht dran war. So saßen wir pünktlich nach der Schule auf dem Flur vor dem Direktorat. Frau Sakine hatte uns herbegleitet. Noch ehe sie ging, wünschte sie uns viel Glück. Wusste sie etwa auch davon? Len saß ganz steif da, als wäre das nun unser Todesurteil. Wahrscheinlich würden sie versuchen uns zu trennen, aber wenn wir das überstehen würden, wär alles gut. Nur noch ein Jahr auf dieser Schule, dann stand uns die Welt offen. Ich sah, dass er Angst hatte. Ein wenig…ich griff nach seiner Hand, starrte aber noch immer auf die Wand gegenüber. Er drückte meine Hand. Fest. Dann kam die Stellvertretende Schulleiterin Frau Yowane. Sie bat uns herein, der Schulleiter würde gleich kommen. Wie immer sah sie sehr unglücklich aus. Aber vielleicht machte auch sie sich ihre Gedanken. Wir hatten Angst vor dem, was kommen würde. Von nun an sollte es anders werden. Dies war nicht irgendeine Schule, sondern eine Privatschule. Für Leute mit etwas mehr Geld oder Firmen und Stand. Ein Skandal wäre Rufmord und das würde man nicht zulassen. Hinter uns öffnete sich die Tür. Ein Mann kam herein. Keiner von uns drehte sich um. Wozu auch? Er ging einmal um uns herum, dann nahm er hinter dem Pult vor uns Platz. Verärgert. Sehr verärgert sah er aus. Ich hatte Angst. Len auch. Unsere Hände ineinander wurden fest wie eine Verankerung. Zu zweit würden wir das schon durchstehen. Ungefähr eineinhalb Wochen waren wir jetzt ein Paar. Eine Woche davon war es noch unser eigenes, persönliches Glück. Nun sollten wir getrennt werden. Ins Ausland. Der Atlantik sollte uns trennen, denn er sollte nach England, ich nach Amerika. Sobald wir dieses Jahr abgeschlossen haben. Davor sollte er zu unserer Oma ziehen, die am anderen Ende des Landes wohnte. Denn noch am selben Tag, wie wir ins Direktorat gerufen wurden, waren sie informiert und am nächsten Morgen wieder da. Unser Vater machte einen Aufstand. Kinderei nannte er unsere Gefühle füreinander. Nichts als Kinderei, Einbildung. Unsere Mutter hingegen sagte nichts dazu, sie weinte aber heimlich. Bereits in wenigen Tagen würden wir uns trennen müssen. Erst mal für immer. So lange, wie unsere Eltern noch Macht über uns hatten. Verzweifelt suchte ich um Rat. In all meinen Büchern die ich gelesen hatte. Neru konnte ich einfach nicht fragen. Weder weil ich es übers Herz brächte, noch, weil sowohl Len als auch ich Hausarrest hatten. Kein Handy und kein Telefon mehr. Nicht einmal Briefe durften wir schreiben. Bis auf die Mahlzeiten uns nicht sehen oder sprechen. Die reinste Qual. Die Minuten vergingen wie Stunden und die Stunden wie Wochen. Dann saß ich nur noch auf meinem Bett, das Kissen im Arm, die Beine angezogen und weinte, bis ich nicht mehr weinen konnte. Bis alle Tränen versiegt waren. Stumm litt ich vor mich hin. Und wenn ich wieder so verzweifelt war, dass ich schreien könnte, brach mir die Stimme. Stumme Schreie der Verzweiflung. Weder Essen noch Schlafen konnte ich. Um mich herum spürte ich, wie mein Körper zerfiel, das Gefängnis meiner selbst. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn endlich wieder zu berühren, zu sehen, ohne dass ein Auge darauf geworfen wird. Seine Stimme zu hören, sein Lächeln. Keiner von uns war seither wieder glücklich. Wortwörtlich war uns das Lachen vergangen. Manchmal schaute ich auch nur aus dem Fenster in das Abendrot des Himmels. Des unendlich weiten Himmels und beneidete die Vögel, die so frei und unbändig waren. Versuchte die winzigen Sterne am Firmament auszumachen, suchte nach einer Sternschnuppe, die meinen Wunsch würde wahrmachen. Wartete auf das Morgengrauen, wie die Stadt erwachte. Die geschäftigen Leute mit ihren kleinen Problemen. Ich erinnerte mich zurück an die Zeit, zu der wir noch nicht getrennt waren. Wo auch wir diese unbedeutenden, den Alltag bestimmenden Probleme hatten. Wo wir Teil dieser Gesellschaft waren. Nicht besonders, nicht anders, aber wie alle anderen. Nicht getrennt. Konnte man dem nicht ein Ende bereiten? Irgendwie? Aber sowas lernte man nicht in der Schule. Nichts, das einem in Notsituationen hilft. Da kam mir ein Gedanke. Unsinnig. Aber vielleicht gab es tatsächlich einen Ausweg. Wieder suchte ich meine Bücher ab. Aber ich fand und fand es einfach nicht. Also fragte ich beim Abendessen nach. „Len, hast du zufällig meine Lektüre mitgenommen? ‚Die Leiden des jungen W.‘?“ Nun lag die ganze Aufmerksamkeit auf mir. Alle waren verdutzt, hatten aufgehört zu essen Skeptisch beäugte mich mein Vater. „Was willst du damit?“, fragte er. „Lesen. Was macht man sonst mit einem Buch? Meine habe ich schon alle durch. Die letzten Tage habe ich überlegt und gedacht, wenn ich nun schon daheim bin, kann ich es nochmal lesen, wo ich doch so schlecht im Test war.“ Das schien die richtige Antwort zu sein, denn wenig später übergab mir meine Mutter die Lektüre von Len. Kein Auge tat ich zu, denn ich las die ganze Nacht. Ähnlich wie bei uns war es auch da! W. liebte ein Mädchen, doch sie war schon glücklich verlobt. Obwohl er sich schwor, sich nicht zu verlieben, konnte er nichts dagegen machen und suchte ihre Nähe. Trotz, dass es in der Gesellschaft verpönt war, gab er nicht auf und glaubte letztendlich sogar, dass sie ihn ebenso liebte. Entgegen aller Vernunft. Aber ein Ereignis, führte dazu, dass er einen Ausweg suchte. Er konnte sie nicht haben. Selbst wenn ihm ihr Herz gehörte, so würde sie nie die seine sein. Um sich von dieser Qual, den Zwängen zu befreien, seine Denkweise zu zeigen, die so anders als die der anderen war, wollte er sich befreien. Mut beweisen, sich selbst ‚verwirklichen‘. Freiheit. Er nahm eine Pistole und drückte ab. Seine Denkweise war mir so vertraut wie die Situation. Konnte das wirklich der Ausweg sein? Er hatte sie geliebt, seit er sie kannte und würde sie auch in den Tod noch lieben. Es hatte auch was von Romeo und Julia. Gab es viele dieser Tragödien? Auch unsere Liebe nenne ich eine Tragödie. Aussichtslos. Ich stand auf und schaute in den Spiegel. Auf das Abbild des Mädchens. Das Abbild, das ihrem Liebsten so sehr glich. Wie ein anderes Ich. Bildete ich mir das nur ein? Oder war das im Spiegel er? „Len?“, entfuhr es mir. Hatte er zeitgleich meinen Namen gesagt? Ich streckte die Hand aus, genau wie er. Wie konnte das sein…? In mir keimte schon die Hoffnung auf, seine Wärme zu spüren, sein Lächeln zu sehen. Dass er mir einen Ausweg von hier zeigte. Doch das einzige, was ich spürte, war das kalte Glas des Spiegels. Wir durften wieder wie gewöhnlich zur Schule, doch das hieß nicht, dass es nun besser war. Im Gegenteil. Neru mied mich. Sie war enttäuscht. Mit Sicherheit. Dass ich es ihr nicht erklärt habe, sie nicht angerufen habe. Schließlich wusste sie nicht, dass ich es nicht konnte. Auch wenn ich nun mein Handy wieder hatte. In etwa zwei Tagen würde Sommeranfang sein. Für viele die schönste und glücklichste Zeit. Aber für mich die schrecklichste. In etwa zwei Tagen würde Len wegziehen. Wieder sah ich den Vögeln nach, wie sie am Nachmittagshimmel flogen. Da fasste ich meinen Entschluss. Ohne Reue. So kam es, dass ich nun hier stehe. Hinter den Gittern auf dem Schuldach. Vor etwa einem Monat begann die Tragödie meines Lebens. Wie eine Geschichte – meine Geschichte. Doch das ist das Leben. Die Schullektüre hat mir bewusst gemacht, dass es keine Schwäche ist, Schwächen zu haben. Zu zeigen. Solange man dazu steht. Alleine ist es nicht auszuhalten, aber mit jemandem an deiner Seite, der dir teurer ist als alles andere auf der Welt, ist alles möglich. Denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen – niemals. Egal, wie sehr man weint, fleht, bittet, schreit oder innerlich zerbricht und der Körper um einen herum stirbt. Sie hält nicht. Dreht sich nicht zurück. Wenn ich bleibe, muss er weg. Wenn ich sein Treffen mit der Verlobten – Miku – nicht verhindert hätte, wäre er vielleicht glücklich. Ohne mich. Aber glücklich. Wenn ich ihm meine Liebe nicht gestanden hätte. Ein kleiner Fehler. Der Fehler ihn zu lieben. Seine Perspektiven zu blockieren. Mit mir würde er kein Glück finden, das weiß ich. Aber solange es mich gibt, wird er auch nicht erneut jemanden finden. Ich weiß, dafür ist er zu treu, zu gut. Darum wollte ich ihn keiner anderen überlassen. Aber das war viel zu selbstsüchtig. Ja, auch wenn ich es bereuen sollte, kann ich es doch nicht. Auch wenn es nur eine Woche war. So war es eine Woche voll Glück mit ihm. Keiner wird mir je diese Erinnerung nehmen können. Das Gefühl. Die Liebe, die er mir schenkte. Das Vertrauen. Niemand wird unser Band zerreißen. Selbst, wenn ich nicht mehr bin. Ein letztes Mal schaue ich das Foto in meiner Kette an. Den Fotosticker, den wir gemacht hatten. Als noch alles gut war. Ich fühle, dass es so kommen musste. Es ist richtig. Unten stehen die Schüler, die Lehrer. Der Direktor. Alle sind aufgebracht. Wahrscheinlich rufen sie mal wieder meine Eltern an. Aber die packen gerade die Kisten mit Len. Er wird nicht kommen. Ich werde ihn kein letztes Mal sehen. Unten sehe ich auch Neru stehen. Entsetzt. Sie schreit laut ein ‚ Rin! Bitte nicht!‘. Jedenfalls glaube ich das. Ihr Gesichtsausdruck, den ich meine zu sehen, ihre Gesten, dass sie weint, schmerz ein wenig. Aber so muss es sein. Ich bin froh, zu wissen, dass sie mich doch vermissen wird. Auch wenn ich weiß, sie wird niemals heraufkommen. Sie kann es nicht. Genauso wenig, wie ich ihr das mit Len sagen konnte. Wir beide wissen das. Da hole ich mein Handy heraus und schreibe ihr eine SMS. Ein Lebewohl. Eine Entschuldigung. Ein Viel Glück. Wie viel ich an ihr habe. Auch jetzt in diesem Moment. Dann zögere ich. Soll ich es wagen? Ihn anzurufen? Ein letztes Mal seine Stimme hören? Werde ich dann noch springen können? Aber ein letztes Mal… Nein. Besser nicht. Sonst springe ich tatsächlich nicht mehr. Unten sehe ich jemanden in das Gebäude rennen. Vielleicht haben sie einen Psychologen oder so geholt um mich davon abzubringen. Denn das wird ein großer Skandal, wenn es öffentlich wird. Unwillkürlich muss ich lächeln, doch gleichzeitig rinnt mir auch eine Träne übers Gesicht. Nun ist es also tatsächlich vorbei. Der letzte Frühlingstag. Eine angenehme, warme Brise. Es kommt leichter Wind auf. Von hinten, als wolle er mich zum Springen verführen. Sanft und wohlwollend. Ich schließe die Augen und spüre die Freiheit. Rieche die Blumen, die frische Luft, das nahe Ende. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich nahm an, ohne darauf zu achten, wer mich anrief und erstarrte zugleich mit der Nennung meines Namens. Len! Das musste wohl eine Fügung des Schicksals sein, sofern man an sowas glaubte. Irgendwie war ich sogar erleichtert. „Hi Len“, sagte ich, fröhlich, „schön, dass du anrufst, ich habe gerade an dich gedacht.“ Ein Lächeln lag mir auf den Lippen. „Rin! Was machst du?!“, schrie er verzweifelt. Das Lächeln verging und mir war, als würde ich seelenlos, eiskalt werden. Resistent. Ich durfte mich nicht abbringen lassen. So schwer es mir auch fiel. „Was meinst du?“ „Rin! Bitte! Neru hat mich angerufen! Ich habe mich schon gewundert, dass du in der Schule geblieben bist, aber…bitte, tu es nicht!“, er klang verzweifelt, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen, als wäre dieser Gedanke, dass ich sterben würde, unerträglich. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Auch mir riss es ein Stück aus dem Herz. Wie gern würde ich ihm versichern, dass ich es nicht täte! Aber das konnte ich nicht. Niemals. „Len…“ „Rin! Bitte!“, hörte ich aus dem Telefon und hinter mir. Die Tür wurde aufgerissen und er trat hinaus ins Licht des Sonnenuntergangs. Ich drehte mich zu ihm um. Das Gitter trennte uns beide, als er näher herantrat. Seine Finger verkeilten sich in den Eisendrähten. Er drückte so fest, dass ich schon Angst hatte, er würde sich gleich die Haut aufreißen. Ich ergriff seine Hände. „Len…es ist gut so. Ich bin glücklich und dankbar für das, was du mir gabst. Dass ich dich lieben darf. Für noch mehr. Dass auch du mich liebst. Dass ich dich noch ein letztes Mal sehen durfte. Len…danke“, ich lächelte. Tatsächlich brachte es mich nicht ab zu springen. Aber es festigte meinen Entschluss. Wenn ich springe, werde ich nur noch ihn vor Augen haben. Ich ließ seine Hände los, wandte mich wieder um. Entfernt hörte ich Len schreien, wie er an der Tür des Gitters rüttelte. Wie sie aufging. Aber es war zu spät. Die Augen geschlossen, machte ich den nötigen Schritt. Es war vorbei. Seine Hände, die er nach mir ausstreckte, konnten mich nicht mehr erreichen. Kopfüber fiel ich nach unten, wie seine Tränen. Wie sein Rufen. Mit seiner Stimme im Kopf, seiner Wärme in Gedanken, seinem süßesten Lächeln vor Augen, war ich so glücklich wie an jenem Nachmittag. Ich bereute nichts. Kapitel 5: 5 ------------ In einer Woche sollte die Beerdigung stattfinden. Schule war seit Sommeranfang keine mehr. Alle trauerten. Der Umzug war auch abgesagt. Was mich betrifft – ich war die ganze Zeit in ihrem Zimmer. Mochte man es als noch so abartig empfinden, konnte ich nicht anders. Überall roch es noch nach ihr. Ich schlief sogar in ihrem Zimmer. So sehr es mich auch schmerzte, ohne würde ich noch mehr zerbrechen. Tagein, tagaus war ich in ihrem Zimmer. Fast ununterbrochen. Der Schmerz, die Trauer über ihrem Verlust, war, wie wenn die Erde keine Sonne kannte. Mein Weltuntergang. Kein Muskel wollte sich rühren, kein anderer Gedanke kam mir, als sie. Warum musste es so kommen? Wer hatte Schuld daran? Gumi besuchte mich täglich. Oft kam sie aber nicht weiter, als vor der Tür zu stehen. Auch Neru und Kaito kamen vorbei. Dabei ließ einer von ihnen, ich weiß nicht wer, denn für mich war alles so abwesend, fremd, eine Bemerkung fallen. Meine Augen seien so leblos, so tot, wie Rin es jetzt war. So regungslos wie mein Körper. Wie ein ins Koma gefallener. Auch unsere Lehrerin Frau Sakine kam vorbei. Doch sie war so hilflos und konnte es nicht ertragen, dass sie bald wieder ging. Keine Worte drangen zu mir durch. Ich war wie betäubt. Dass alles um mich herum litt, war mir egal. Sie hatten es verdient. Rin hatte genauso gelitten, vielleicht sogar schlimmer. Auch wegen mir. Warum hatte ich nichts bemerkt? Spätestens, als sie nach der Lektüre fragte! Da dachte sie vielleicht noch nicht daran, aber sie hat ihr einen Ausweg gezeigt. Und da dachte ich, dass es vielleicht ein Wink war. Ein Hinweis, den ich hätte verstehen müssen. Das Ende, die Geschichte! Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, was Rin gedacht haben musste. Es war genauso eine aussichtslose Tragödie wie die unsere. Wie es sie täglich überall auf der Welt seit Jahren gab! Meine Eltern stritten unten. Das machten sie seit ihrem Tod öfter. Sie bereiteten die Beerdigung vor. Fanden sich einfach damit ab, dass sie nicht mehr wahr. Getrennt von uns. Musste das sein? Da kam mir noch ein Gedanke. Ich schien wohl heut meinen Tag der Einfälle zu haben. Jetzt waren wir getrennt. Aber es gab einen Ort, wo wir wieder vereint sein würden. Nur einen. Wo uns niemand mehr trennen konnte. Die ganze Zeit, seit damals lag die Lösung vor mir. Wie Rin fasste auch ich einen Entschluss. Meinen Entschluss. Ein Entschluss aus Liebe. Ich würde sie nicht allein lassen. Nicht noch einmal. Es war dunkel. Finstere Nacht. Der Himmel war mit Wolken überzogen, kein Stern, kein Mond zu sehen. Leise schlich ich ins Wohnzimmer. Einen Schritt vor den anderen, das Ziel vor Augen. Gezielt ging ich auf die Kommode zu. Ich wusste, dass er sie in der ersten Schublade aufbewahrte. Sie war schwerer, als man dachte. So klein war sie doch. Meine Hände begannen ein wenig zu zittern. Schließlich machte man das ja nicht jeden Tag! Schon gar nicht als normaler Schüler. Das kalte Eisen in den Fingern, kühlte die Hitze, die in mir aufstieg. Kurz wägte ich sie ab. Ließ das Gewicht auf mich wirken. Das Gewicht der Schuld, die auch mich betraf. Langsam hob ich sie an. Setzte den Lauf an meinen Kopf. Blickte in den Spiegel vor mir. Blickte in ihr Gesicht. Und lächelte, wie sie es tat. Jetzt werde ich bei dir sein. Auf ewig. Nichts kann unser Band trennen, niemals. Nur mit dir, hat das Leben Sinn. Dann drückte ich ab. Epilog: -------- Die Wiesen waren saftig grün. Obwohl es bereits Sommer war, wehte eine kühle Brise. Beide. Kurz aufeinander. Sie hatten beide auf einmal verloren. Ihre Schüler, ihre Klassenkameraden, ihre Freunde, ihre Kinder. Entgegen aller Verachtung, Hass, Gleichgültigkeit, davor, waren sie nun alle hier. Alle einte die Trauer. Der Schock. Diese Tragödie, die sie alle gleichermaßen verschuldeten. Auch die Farbe der Kleidung einte sie. Es machte keinen Unterschied, wer sie waren, denn nun waren sie gleich. Kleine Gruppen. Neru, Kaito und Meiko – Frau Sakine, standen beisammen. Die Trauer war überwältigend. Selten hatte man eine solch große Ansammlung gesehen. Die Eltern an vorderster Front. Nach und nach leerte sich der Platz, bis nur noch ihre engsten Verwandten und Freunde da standen. Kaito mit einem Strauß weißer Lilien. An einer Schulter weinte Neru, an der anderen Meiko. Seit damals im Park waren sie Freunde, die nun ein noch engeres Band einte. Eines, das sich im Laufe des Lebens wandeln, aber nie zerreißen würde. Aber auch die Gesellschaft wandelte sich. Mehr Toleranz, andere Perspektiven. Mehr Freiheit. Keiner wollte, dass sich wieder eine solche Tragödie abspielte. Eine, die eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, mit etwas mehr Verständnis. Zwei Tauben saßen auf dem Ast über dem Grab. Zusammen, wie es die Zwillinge waren. Konnten sie es sein? Ein weiteres Mal begann die Sonne am Horizont zu verschwinden. Tauchte die Stadt gleichmäßig in ein goldenes Licht. Bald würde ein neuer Tag anbrechen. Ein neuer Anfang. Für Rin und Len war es das Ende ihres Lebens. Aber der Anfang ihres Glücks. Niemand konnte mehr etwas dagegen machen. Zeit spielte keine Rolle mehr. Nun waren sie gemeinsam. Unzertrennbar. Für immer zusammen. Im Tode vereint. Auf ewig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)