Geister der Weihnacht von FreeWolf (Weihnachten 2009) ================================================================================ Kapitel 1: Spiegelscherben | Der Geist der vergangenen Weihnacht ---------------------------------------------------------------- Spiegelscherbe | Der Geist der Vergangenen Weihnacht „Weißt du“, langsam stehst du auf, machst ein paar Schritte, nachdem du dich gestreckt hast. Ich kann nicht anders – meine Augen kleben förmlich an dir. Irgendwie. Es ist eine Pause entstanden, denn ich habe nichts auf deinen begonnenen Gedankengang geantwortet – normalerweise beginnst du Gespräche immer so, dass du einen Satz beginnst und den Rest der Welt damit beauftragst, ihn nach deinen Vorstellungen fertigzustellen. Du blickst mich an, aus diesen hellen, undurchdringlichen Augen, und ich frage mich, was du wohl gerade denken magst. Ich frage mich das schon seit dem Zeitpunkt, an dem ich zum ersten Mal diese Kristalle, diese Spiegelscherben der Schneekönigin geblickt habe. Es ist so schräg. So seltsam. Ich mag es nicht, angesehen zu werden. Es macht mich unglaublich nervös. Und gleichzeitig starre ich dich die ganze Zeit an, kann meine Augen nicht von dir Lassen. Du bist wie das Licht, um das die Motte schwirrt – unerheblich zu sagen, dass ich das Insekt bin – und schließlich verendet, wenn sie ihm zu nahe kommt. Ob ich auch so enden werde? Verendet in deinem Glanz? Ich seufze ungehört, blickte zum Fenster hinaus, verloren, vertieft in meinen seltsamen Gedanken. Es schneit; ich liebe Schnee. Ich mag es, wie er unter den Sohlen der dicken Stiefel knirscht, die mir zu groß sind, weil es hier nur gebrauchte und abgetragene Sachen gibt, und mich deshalb immer zum Ziel der Schneeballschlachten der anderen Kinder machen, wenn ich mich überhaupt in den Hof traue. Die anderen Kinder sind so anders als ich – du auch. Alle sind so kalt und verbittert, selbst im Spiel. Oft gibt es schlimme Prügeleien – ich will dabei nicht mitmachen. Ich will niemanden verletzen. Das Fenster ist vergittert, wie ich jetzt bemerke. Wie dumm von mir, das zu vergessen. Wir sind hier alle irgendwie eingesperrt.. ich hätte Lust, einfach Flügel auszubreiten, die ich nicht habe, und wegzufliegen. Wie meine Mutter. „Was ist heute mit dir los?“, dringt auf einmal deine Stimme zu mir herüber. Ich schüttele den Kopf, wie ein Schlafwandler, der aufwacht, und blicke wieder zu dir. Du siehst mich eindringlich an, gerade so als könntest du mich durchschauen, und ich schüttele ein weiteres Mal den Kopf. Mit leiser Stimme erwidere ich „Nichts“, ehe ich wieder aus dem vergitterten Fenster blicke. „Nichts..“, wiederholst du nachdenklich. Ich mag es, dir zuzuhören. Du redest nie viel, aber wenn du etwas zu sagen hast, dann sagst du es so, dass dir wirklich jeder zuhört. Das macht dich zum Streitschlichter im großen Schlafsaal. Vielleicht hat dein hohes Ansehen beim Direktor auch etwas damit zu tun, wer weiß. Vielleicht hat meine Mama auch gedacht, nichts ist los, als sie gegangen ist. Sie hat einfach ihren Koffer genommen und ist gegangen – ohne mich mitzunehmen. Ich habe hierbleiben müssen, in der Kälte, die mein Vater ins Haus ließ, weil er die Heizungsrechnung nicht bezahlen konnte. Ich habe doch auch nichts gedacht, als ich einfach freudestrahlend die große Pranke ergriffen habe, die mein Schicksal darstellt. Ich habe meinem Vater noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Deine Augen ruhen schon wieder auf mir, und ich frage mich wieder, ob die Schneekönigin nicht doch vielleicht einen Splitter des Spiegels in deinem Auge vergessen hat. Du schielst ein bisschen, aber das macht dich nur noch perfekter. Du legst den Kopf schief, lächelst eines deiner seltenen Lächeln, weil gerade niemand da ist. Der Schlafsaal ist wie ausgestorben, und ich wickle mich enger in die Decke, die zwar auf der Haut kratzt, aber dafür wirklich warm hält. Dafür ist der Schlafsaal eiskalt. „Du bist heute so abwesend“, du sprichst, und es hallt in dem Saal seltsam wider. Beinahe so, als würdest du zweimal sprechen, doch nur einmal die Lippen bewegen. Deine Augen sind noch immer wie Spiegelscherben. „Worüber denkst du nach?“ Ich blicke dich offen an, doch ich weiß, dass du genauso wenig in mir lesen kannst wie ich in dir. Du hast es mir doch irgendwann einmal gesagt, als wir nebeneinander im Schnee hockten. „Ich..“ Es macht keine Mühe zu sprechen, aber die richtigen Worte zu finden.. Ich bin nicht wie meine Mutter, die die schönsten Geschichten erzählen konnte, von Helden bis hin zu kleinen Jungen namens Yuriy oder Wanja. Ich habe ihr immer zugehört als wäre es die letzte Geschichte, die ich in meinem Leben hören würde. Irgendwann ist die dann ja auch gekommen. Die letzte Geschichte. „Kennst du die Geschichte von der Schneekönigin?“ Du blickst mich so überrascht an und schüttelst perplex den Kopf. War dir nicht klar, dass ich in meinem Kopf all die schönen Geschichten habe, die mir erzählt wurden? Auch die weniger schönen. Und die allerletzte. Die mit der Spiegelscherbe, an die ich immer erinnert werde, wenn ich in deine Augen blicke. Weil du auch eine dieser Scherben im Auge hast, weil du wegen der so tust als könne dir nichts etwas anhaben.. Ich versuche mich an die Stimme meiner Mutter zu erinnern, die immer genau den richtigen Ton getroffen hat. „Irgendwo an der Küste, weit, weit weg von hier fließt der Fluss Newa. Dort, wo sie und das Meer sich treffen, liegt die Stadt St. Petersburg, und irgendwo dort, mitten in der Stadt, waren zwei Häuser über einen Dachgarten verbunden. Da lebten auch zwei Kinder..“ Und so erzähle ich dir die Geschichte, irgendwie erzähle ich sie auch mir selbst, bloß, dass ich in mir drinnen die Stimme von Mama höre, die mit jedem Mal schwächer wird. Aber ich kann einfach überhaupt keine Geschichte mehr erzählen. Dann würde ihre Stimme ja vollkommen verschwinden, und das will ich nicht. Heute ist sie ein flüstern, diese Geschichte in mir drinnen, und ich muss tief hineinhorchen, um sie zwischen all den Geräuschen hören zu können. „Die Schneekönigin nimmt den jungen Pjotr mit sich, weil er die letzten Scherben von ihrem Spiegel trägt. Eine ist in seinem Auge, die andere in seinem Herzen. Er darf in ihrem Schlitten aus Eis sitzen, der gezogen wird von weißen Hengsten, eingehüllt in den weichen Pelzmantel der Königin, der genauso weiß ist wie ihre Haut. Dampf steigt aus den Nüstern der schönen Pferde auf, während sie über Wolken fliegen, und nach langer, langer Zeit..-“, ich verstumme abrupt, denn ich tauche weiter an die Oberfläche. Um mich herum ist ein seltsames Geräusch entstanden, ich sehe viele Kinder rund um uns beide. Sie hören mir zu, haben sich zu zweit und zu dritt auf ein Bett gesetzt und sich eng aneinandergeschmiegt, um nicht zu frieren. Ich wünschte, du würdest dich zu mir setzen statt auf deinem Bett, denn auch mich friert, obwohl es keiner bemerkt. Ich friere mit dem kleinen Jungen, der im kalten Schlitten gen Norden fährt, obwohl er in einen warmen Wintermantel gehüllt ist. Die Jungen rund um mich zeigen sich empört über mein so plötzliches Ende und bedrängen mich, doch weiter zu erzählen. „Bitte! Wie geht es weiter?“ – „Ja, was passiert mit Pjotr?“ – „Kommt er denn zu Anja zurück?“ Sie wollen alle wissen, wie es weiter geht, und sie starren mich an, doch seltsamerweise macht es mir jetzt nichts mehr aus. Ich weiß nur, dass dein Blick anders ist als der von allen anderen. Dass du nicht nur einen Teil des Bildes siehst – irgendwie. Ich weiß nicht, wie du das machst. Aber du kannst nicht nur mich sehen oder die Geschichte. Du siehst auch meine Erinnerungen, obwohl du sie gar nicht richtig siehst. Das ist seltsam. Ich lausche wieder in mich hinein, erzähle weiter. Wie ging es weiter? „Während Pjotr im eisigen Schloss der Schneekönigin ihren Spiegel zusammensetzt, hat sich Anja auf die Suche nach ihm gemacht. Sie begegnet seltsamen Leuten, und muss sich zu Fuß durch die eisige Steppe schlagen..“ Ich versinke wieder in der Geschichte, studiere die Gesichter der alten Frau, die das kleine Mädchen für kurze Zeit bei sich aufnimmt, das der Räubertochter, die Anja das Rentier geschenkt hat, und die lustige Schnauze des Rentiers, das sie bis zum eisigen Schloss trägt. Ich betrachte ihre Gesichter und ihre Gesten, wie sie Anja helfen, und versuche, die trotzige Güte der einsamen Räubertochter zu beschreiben, genauso wie diese seltsame Hingabe der alten Frau im Frühlingsgarten. Ich kann nichts sehen, denn ich bin irgendwo im Schloss der Träume, das meine Mutter für mich erbaut hat. Ich bin ihr dankbar dafür, sonst könnte ich jetzt nicht dort hin wann immer ich will. Und gleichzeitig kann ich all die anderen, die sich um mich scharen und mir zuhören, fühlen. Seltsam.. Ich tauche erst auf, als die Geschichte sich dem Ende zuneigt. „Als Anja erkennen muss, dass sie Pjotr nicht helfen kann, ohne dass sein Herz zu schlagen aufhört, umarmt sie ihn. Auch wenn seine Haut eiskalt und seine Lippen blau sind, auch wenn er sich ihr gegenüber herrisch und kalt verhält. Anja weint um ihren lieben Freund, und eine Träne – eine einzelne Träne – tropft auf seine Brust, genau über seinem Herzen. Die Scherbe kann all der Wärme nicht mehr standhalten und schmilzt, schließlich war sie nur aus Eis, genauso wie die im Auge, weil Pjotr ebenfalls die Tränen kommen. Es tut ihm so leid, wie er Anja behandelt hat…“ Später – es ist schon Nacht und von überallher sind leise Atemgeräusche zu vernehmen – bemerke ich deinen Blick. Deine Augen funkeln im Mond und ich sehe wieder die Spiegelscherbe darin aufblitzen. Um uns herum träumt alles von Schneeköniginnen und kleinen Kindern, die sich am Ende in den Armen halten. Der Ausdruck deiner Augen verändert sich nicht, doch ich höre dein Flüstern, das über die schmale Kluft zwischen unseren Betten fliegt. „Yura.. War sie das?“, fragst du. Ich blicke dich überrascht an. Woher weißt du, dass-? „Ja“, bejahe ich schlicht, kann meinen Blick nicht von deinem lassen. Es ist verhext. Du bist verhext. Die Schneekönigin. Es ist die letzte Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat. Auch sie hat dich nicht so sehr gerührt, dass die Spiegelscherben in deinen Augen geschmolzen wären.. ~Owari~ Wer kennt Die Schneekönigin"? Ich bin mir mit der Handlung des Märchens nicht mehr so sicher – ist schon eine Weile her, dass ich das zuletzt gesehen/gelesen habe.. *zerknirscht grins* Nun denn, ich hoffe, es hat sich doch der eine oder andere Leser gefunden..? *knuddel* FW Kapitel 2: Ritratto | Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht ----------------------------------------------------------- Ritratto | Der Geist der gegenwärigen Weihnacht Note: „Ritratto“ ist Italienisch für „Portrait“, und es erschien mir gerade passend für den Geist der gegenwärtigen Weihnacht^^. Fröhliche Weihnachten und ein wundervolles Jahr 2010 voller Überraschungen und Freuden, an die ihr immer denken könnt. ~*~*~*~*~*~*~*~*~ „Was machst du denn hier?“ Verwundert blickte Boris auf seinen ehemaligen Teamkollegen. Der Rotschopf hob seinen bis dato gesenkten Kopf leicht an, um ihn aus zu schmalen Schlitzen verengten Augen hindurch leicht verwirrt anzublinzeln. „Du selber hast mich herbestellt.“, gab er schließlich nach einigen Minuten des stummen Anstarrens von sich, fröstelte leicht, als eine Böe über sie beide hinwegfegte. Boris drückte sich vor einer nächsten Böe in den Windfang des Mehrfamilienhauses, in dem er Quartier bezogen hatte, und verfluchte im Stillen das defekte, stetig flackernde Deckenlicht, das der Hausmeister noch immer nicht repariert hatte – der alte Herr ließ sich damit immer ewig und drei Tage Zeit, meckerte ein schlecht gelaunter, nörglerischer Teil in dem Silberhaarigen. Boris nieste hinter vorgehaltener Hand, duckte seinen Kopf zwischen die Schultern und zog den Kragen seines grauen Wollpullovers über die Nase, welcher sich sogleich durch seinen Atem und die Kälte hier draußen klamm anzufühlen begann. Auch Yuriy hatte sich tief in seinem Mantel vergraben, um den eisigen Böen, die durch die Straßen Wladiwostoks fegten, zumindest zu einem Teil entgehen zu können. Sie beide hatten schon immer eine starke Abneigung gegenüber dieser schneidenden Kälte empfunden – als Straßenkind lernte man solcherlei Wettererscheinungen wahrlich zu hassen – die für diesen Teil Russlands, besonders nun im Dezember, leider typisch war. Soweit sich Boris zu erinnern glaubte, war Yuriy die Kälte noch mehr zuwider als ihm selbst. Apropos Yuriy.. der Rotschopf schien einen längeren Fußmarsch durch die verschneiten Vorstadtstraßen hinter sich zu haben – er sah einem Schneemann gar nicht einmal mehr so unähnlich.. Boris schmunzelte unter seinem Rollkragen insgeheim über diesen seltsamen Gedanken. Was sollte überhaupt diese kryptische Antwort, die der ehemalige Teamleader der Demolition Boys von sich gegeben hatte? „Ich weiß, dass Gastfreundschaft ein Fremdwort für dich ist“, meldete sich plötzlich Yuriy zu Wort und drückte seinen Unmut über das Wetter, in dem er hatte aus dem Haus gehen müssen, durch ein übertriebenes Frösteln aus. Er grummelte: „Du könntest mich trotzdem langsam mal reinlassen, bevor ich dir hier auf der Schwelle erfriere.“ Boris schreckte aus seinen verworrenen Gedanken hoch, hob seinen Blick kurz vom Rotschopf zum Oberlicht, und es blieb fraglich, ob er nicht vielleicht die unsichtbaren Sterne oder bloß das flackernde Deckenlicht über ihm um Erleuchtung bat. Schließlich gab er dem anderen mit einem vagen Nicken an sich vorbei in Richtung Flur zu verstehen, dass der Rotschopf eintreten konnte. Das Flurlicht flackerte kurz, ehe es tatsächlich anging, und Boris verzog den Mund, als er die Familie aus dem ersten Stock streiten hörte. Schon wieder. Boris ignorierte den fragenden Blick seines ehemaligen Teamleaders – immerhin war er ihm keine Rechtfertigung mehr schuldig – und schritt an ihm vorbei die Treppe hoch. Boris‘ Mund nahm unter dem warmen, inzwischen allerdings unnötigen Schutz des Rollkragens einen nachdenklichen Zug an, und er blickte über die Schulter hinweg zum Rotschopf, der hinter ihm die Treppen zur Mansarde erklomm. In Gedanken war er wieder – oder noch immer? – bei der Antwort Yuriys auf seine Frage. Warum sollte er den Rotschopf denn bitte herbestellt haben? Sie hatten seit Jahren – gefühlten Ewigkeiten – nichts mehr miteinander zu tun gehabt. Er wusste ja noch nicht einmal, wohin es den Rotschopf während der letzten Jahre verschlagen hatte. Er machte eine einladende Geste in Richtung der offenstehenden Wohnungstür aus hellem Holz, welche helles Licht ins Treppenhaus verströmte, und winkte Yuriy durch, welcher ohne ein Wort an ihm vorbei schritt und in der Diele stehen blieb. Boris drückte sich an ihm vorbei, ließ dem Anderen Zeit, sich überrascht umzusehen, kaum, dass die Tür geschlossen war. Er hatte von Anfang an mit Kritik oder Überraschung seitens des Rotschopfes gerechnet, sodass er sich für alles gefeit hielt, was Yuriy von sich geben würde, zumindest unterbewusst, und schlenderte nun angenehm ruhig an dem Rothaarigen vorbei in die warme Wohnung und durchquerte sogleich zielstrebig den weitläufigen Raum, welcher Wohnzimmer, Küche und Atelier in einem darstellte, und betrachtete mit einer gewissen Ungeduld die Uhr – er erwartete doch schließlich noch sein Modell, damit er endlich mit seinem neuen Bild anfangen konnte..! Ärgerlich stellte er fest, dass die besagte Person schon gute fünf Minuten zu spät dran war – es war nicht viel Zeit, doch alles musste bezahlt werden, und auch wenn Boris von sich behaupten konnte, nicht gerade schlecht zu leben – SO viel Geld hatte er nun auch wieder nicht zu verprassen. Schließlich gelangte der Silberhaarige in sein Zimmer, wo es um einige Grade kühler war als im beinah überheizten Hauptraum. Boris suchte in dem Haufen aus gebrauchten, mit Farbe befleckten Kleidern, die auf dem Boden verstreut lagen, nach einer seiner CDs, welche er gerne zum Malen in den Player einlegte, und fand sie schließlich auf dem von Notizheften beinah begrabenen Schreibtisch, der sowieso bloß als Ablage benutzt wurde. Außerdem nahm er einen der Gästebademäntel mit sich – Boris hatte durchaus bemerkt, dass Yuriy nass war bis auf die Knochen. Boris ging am Kamin vorbei, an seiner schon bereitgestellten Staffelei und betrachtete im Vorbeigehen seine drei, vier noch unvollendeten Bilder, welche nebeneinander gestapelt, in der Hoffnung auf eine Inspiration – einem einzigen klaren Moment, in welchem er das Bild klar und deutlich vor sich sehen konnte – dort auf die Vollendung warteten. *~ Yuriy beobachtete, wie Boris durch den weich aussehenden, weißen Teppich und über Parkett durch den Raum lief, der wohl gut die Hälfte des Dachgeschosses einnehmen musste, und konzentrierte sich darauf, die Kälte irgendwie aus seinen Knochen zu bekommen. Er war, als er fluchend auf der Suche nach dem richtigen Haus auf dem Weg vom Bus-Stopp die Straße entlanggelaufen war, immer wieder von vorbeifahrenden Autos mit Eiswasser aus gut versteckten, aber umso tieferen Pfützen von Kopf bis Fuß abgespritzt worden, und der eisige Wind aus der sibirischen Tundra hatte sein Übriges getan. Yuriy war froh, sich bis jetzt zumindest noch keine Lungenentzündung geholt zu haben – immerhin hatte er noch einen Job zu erledigen heute Abend. Er hängte nun seine Socken und Jacke nahe an den Heizkörper, während er seine Schuhe darunter platzierte. Der Rotschopf nieste vernehmlich und entschied sich fürs erste, einfach an derselben Stelle stehenzubleiben, um die sich schon seit den letzten Minuten eine Wasserpfütze sammelte. Yuriy konnte förmlich das Eis und den Schnee, welcher in sich in seinen Haaren und seinen Kleidern festgesetzt hatte, schmelzen und seine restliche Kleidung langsam aber sicher durchnässen fühlen. Er blickte sich kurz nach einem Lappen um, welchen er jedoch nicht finden sollte. Stattdessen fand sein Blick ein Bild, welches im durch einen Wandschirm abgetrennten Eingangsbereich hing und seine Aufmerksam auf sich zog. Es war eine schlichte Abbildung von Sonnenblumen – um genauer zu sein, das erkannte Yuriy auf den zweiten Blick, waren es die Sonnenblumen Vincent Van Goghs. Auf den dritten Blick erkannte er, dass es bloß eine Fälschung war, wie die Signatur am linken unteren Rand bewies, und doch – vielleicht war es ja gerade das, was den Rotschopf derart beeindruckte – troff das Bild nahezu von der verzweifelten Ausdruckskraft, die schon an den Originalen des Künstlers beeindruckte. Yuriys Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln, welches wohl dieselbe Verzweiflung anheim haben mochte. Er hatte nicht erwartet, in solch eine Wohnung geführt zu werden – vor allem nicht in ein solches Domizil voller eigener Produktionen des Künstlers. Das letzte Mal, als er Boris gegenübergestanden war, hatte dieser seinen Anteil der Miete kaum zusammenbringen können und sich mit zig Nebenjobs über Wasser halten müssen. Anscheinend hatte sein alter Freund – falls sie dies nach dieser Ewigkeit ohne Kontakt denn noch so zu bezeichnen waren – es zu etwas gebracht in diesem seltsamen Gewerbe, das man Malerei nannte.. Der rotschöpfige Russe schreckte erst auf, als Boris ihm einen Bademantel hinhielt. Verdutzt blickte Yuriy den Besitzer der Wohnung an, welcher hinter sich auf eine hölzerne Tür in der Wand deutete. „Da hinten ist das Bad, der Trockner ist nicht zu übersehen und die Dusche wirst du wohl finden, oder? Danach kannst du mir dein Auftauchen erklären.“ Yuriy reagierte mit einigen Sekunden Verzögerung, bewegte sich langsam, gerade so als wären seine Gliedmaßen eingefroren, über den weichen Teppich, in den er leicht einsank, jedoch nicht, ohne zuvor einmal kurz und überaus dankbar genickt zu haben. Yuriy genoss das Gefühl der weichen Unterlage auf dem Boden, die seine Füße schon jetzt wärmte. Seine Arbeit konnte sich die paar Minuten noch gedulden – er war sowieso bloß fünfzehn Minuten in Verspätung mit seinem Job. Außerdem spielte er mit dem Gedanken, seine Entlohnung diesmal einfach unter den Teppich zu kehren – wie er seinen ehemaligen Teamkollegen kannte, hatte der bestimmt schon bezahlt. Das Badezimmer hatte zwar die abgeschrägten Wände einer Mansardenwohnung, was der Rotschopf in seinem hohen Wuchs normalerweise als störend empfand, doch Yuriy übersah dies absichtlich. Lieber steckte er seine Kleider in den Trockner und sich selbst unter die Dusche. Das heiße Wasser perlte über seine abgekühlte Haut, die sich leicht rötete, als das Blut wieder mehr zu zirkulieren begann, und verschwand mit einem leise gluckernden Geräusch im Abfluss. *~ Boris brühte den Tee auf, den guten, allerdings ohne Samowar – es war ihm ein Graus, dass das praktische Stück russischer Tradition nicht in seiner Wohnung stand, doch irgendwie war es dann doch in Ordnung, zumindest für ihn. Er hatte ohnehin kaum Zeit zu einer anständigen Tasse Tee – viel öfter musste da die Thermoskanne herhalten, wenn er gerade wieder im Inbegriff eines neuen Meisterwerks war und sich blind und taub für alles andere in die Malerei stürzte, um dann eine Woche später völlig ausgelaugt aus der Trance aufzuwachen und festzustellen, dass er irgendwie ein Bild gemalt hatte und schon wieder völlig überarbeitet war. Dazu kam meistens noch, dass er dabei viel zu wenig geschlafen, gegessen und getrunken hatte, vom Einkaufen oder anderen häuslichen Pflichten ganz zu schweigen. Der silberhaarige Maler fuhr sich mit der von Farbsprenkeln übersäten Hand durchs Haar, während er das Teewasser einfach kochen ließ in der schweren, eisernen Kanne, die ihm schon lange gute Dienste tat, und drehte kurz am Regler für die Beleuchtung, sodass die Lampen nur mehr schwaches Licht erzeugten und der Raum nun beinah im Dunkeln lag. Anschließend tastete er sich blind zum Kamin vor. Boris schichtete Holzscheite halbwegs ordentlich aufeinander und entfachte ein kleines Feuer, welches den vom Ruß geschwärzten Stein aufleuchten ließ und auch die Umgebung in intensives Farbenspiel tauchte – das Dunkel des Raumes wurde langsam vom warmen Flammenschein verdrängt. Boris sah aus den Augenwinkeln etwas rostrot aufleuchten, ehe sich das Licht wie in Prismen brach, und blickte in die Richtung, aus der er dies wahrgenommen hatte. Eisig blaue Kristalle trafen ihn, und Boris zuckte überrascht zusammen. Yuriy war aus dem Badezimmer getreten und erwiderte seinen Blick starr. Er stand nur wenige Meter entfernt vor ihm, einzig in den etwas zu großen, blauen Bademantel gekleidet, den Boris ihm vorhin gegeben hatte. Seine Augen lagen im Schatten seines nassen Haars, doch hin und wieder leuchtete ein blausilberner Schein im warmen Licht des Feuers auf. Boris starrte Yuriy an, und sah gleichzeitig durch ihn hindurch. Es war der Moment, auf den er die ganze Zeit gehofft hatte – die Inspiration. In seinem Geist formten sich die Züge eines neuen Bildes, eines Aktes, wie er ihn eigentlich niemals zu malen vorgehabt hatte, und zwar mit niemand anderem zum Motiv als dem rothaarigen Russen. Verdammt, wo blieb sein Modell bloß? Er hatte zwar für zwei halbe Arbeitstage bezahlt, trotzdem würde er das der Agentur melden müssen. Ein Jammer eigentlich, bis jetzt hatte er immer gute Modelle vermittelt bekommen – sie waren alle abgebrühte Profis dort, auch die Modelle, und es war sehr angenehm, mit ihnen zu arbeiten, auch wenn Boris sich manchmal nach so etwas wie.. jungfräulicher Schönheit sehnte, wobei er sich der Mehrdeutigkeit des Begriffs durchaus bewusst war, der jedoch anders nicht zu erklären war. Ein Glanz, welcher sein Motiv umgab, welches sich noch nicht ganz mit seinem Nacktsein abgefunden hatte, und der scheue Ausdruck der Augen, des ganzen Körpers.. Boris schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er Yuriy schon die ganze Zeit über angestarrt hatte, welcher ihn kühl musterte, und fragte sich, ob er den Rotschopf nicht vielleicht irgendwie überreden könnte..? Nein, winkte seine Vernunft sogleich ab, das würde der ehemalige Teamleader niemals mit sich machen lassen. „Kann ich langsam mal zum Grund kommen, weswegen ich hier bin?“, fragte der Rotschopf nun, leise aufseufzend. Sie wurden durch den schrill gegen den draußen peitschenden Nordwind anpfeifenden Teekessel unterbrochen, welchen Boris jedoch schnell um einiges seines Inhalts erleichterte. Boris‘ Künstlerherz hatte eine gewisse Magie der Atmosphäre aufgefangen, das leichte Kribbeln, welches er jedes Mal fühlte, wenn er einem Modell gegenüber stand, welches kurz davor war, sich zu entblößen. Gleichzeitig verwirrte ihn der Gedanke, Yuriy als Modell sehen zu können. Der Rotschopf würde sich doch niemals für solcherlei hergeben – dafür war er immer zu stolz gewesen. Und zu scheu. Boris wusste, wie scheu sein (ehemaliger?) Freund war, wenn es ums Nacktsein ging. Yuriy seufzte ein weiteres Mal verhalten, ehe er sich Boris zuwandte. „Du hast ein Modell herbestellt für heute“, erklärte er einen Fakt, welchen er eigentlich nicht wissen durfte. Boris setzte eine verwunderte Miene auf, nickte jedoch. „Und dieses Modell hast du für die Zeit bestellt, als ich bei dir aufgetaucht bin, auch richtig?“ Boris runzelte nun die Stirn. „Sag mal, du bist nicht zufällig zum Stalker geworden, oder?“, erkundigte er sich misstrauisch, doch Yuriy winkte mit einem heiseren Lachen ab. „Was denkst du denn. Ich hab‘ besseres zu tun als dich zu stalken, Borja.“, grinste er sein schmales Grinsen, welches bis zu dem Grübchen in seiner Wange ging, jedoch keinen Millimeter weiter, ehe er sachlich fortfuhr, „Ich bin das bestellte Modell.“ Boris hielt es zunächst für einen Scherz. „Du machst Witze.“, bemerkte er trocken und hob seine Augenbrauen, senkte einen lakonischen Blick auf den Rotschöpfigen. Als Yuriy nichts erwiderte, nickte er leicht. „Aha“, meinte er, während er um seine Fassung rang und ging zu seiner Couch, auf welche er sich fallen ließ, kaum dass er den Becher Tee, welchen er bis eben noch in der Hand gehalten hatte, auf dem Couchtisch abgestellt hatte. Yuriy blickte ihn nicht an. Er hatte sich halb umgedreht, um dem Schneesturm vor dem Fenster zuzusehen. „Wenn es dich tröstet, ich hab‘ auch nicht gewusst, dass du es bist.“, gab er seinen neutral vorgetragenen Kommentar ab, sein Blick starr auf die weißen Flocken gerichtet, welche vor dem Fenster im wilden Reigen tanzten. Kurze Zeit herrschte zwischen den beiden Russen das, was man als handelsübliches, peinliches Schweigen kennt, dann seufzte Boris einmal kurz und kaum hörbar. Er fuhr sich durchs Haar und erhob sich schließlich. „Na dann.. machen wir das Beste draus“, fand er und begab sich zum Kamin, wovor er einige Kissen übereinanderstapelte und platzierte. Er zerrte den weißen, weichen Teppich darüber und ging einige Schritte zurück, um sich sein Werk zu betrachten. Boris fühlte das altbekannte Prickeln auf seiner Haut, fühlte die leichte Gänsehaut auf seinen Armen. Es wurde Zeit für ein neues Bild, ein Meisterwerk vielleicht. Yuriy betrachtete angestrengt, wie Boris sich kurz auf die Kissen sinken ließ, um den Komfort zu prüfen, und anschließend einige der Kissen leicht veränderte. Anschließend blickte Boris den Rotschopf auffordernd an, welcher nicht gleich verstand und ihn leicht perplex anblickte. Der silberhaarige Maler zuckte mit den Schultern und wies zur weißen Unterlage. „Wenn dich bitte entblätterst“, bat er, wobei eine gewisse Ungeduld in seiner Stimme nicht zu verhehlen war – Yuriy blickte umso erstaunter als er sah, dass Boris nichts anderes im Sinn zu haben schien als das Bild, keinen Hohn, Spott oder gar Dinge sexueller Natur. Zögernd trat Yuriy also zum ihm zugedachten Platz, streifte er also den Bademantel ab und entblößte sich somit vollkommen vor dem ehemaligen Teamkollegen. Mit einer gewissen Scheu blickte er zur großen Staffelei, vor welche sich Boris hingesetzt hatte und ihn nachdenklich anblickte. Yuriy empfand wahrlich keinerlei Furcht vor seinem ehemaligen Teamkollegen – immerhin waren sie zu Zeiten der Abtei immer nebeneinander unter der Gemeinschaftsdusche gestanden und hatten Wasserschlachten veranstaltet – und doch war es ihm etwas peinlich, dass der andere ihn so ansah. So.. analytisch. Als wolle er nicht bloß seinen Körper zeichnen wie die anderen, eher zweitklassigen Maler, denen er sonst Modell stand, sondern auch einen Teil seiner Seele. Yuriy fuhr ein kühler Schauer über den Rücken, obwohl der Raum beinah überheizt war. Der weiche, flauschige Teppich war wunderbar – das rotschöpfige Modell kam sich vor, als liege es auf einer Wolke – und Yuriy konnte sich ein zufriedenes Seufzen nur schwer verkneifen. Er ließ sich darauf nieder, suchte nach einer angenehmen Position, während auch Boris ihm einige Anweisungen zumurmelte. „Halb sitzend – genau so, bleib so! – und jetzt noch den Kopf in meine Richtung. Genau, bleib‘ so! Jetzt sieh ein bisschen weiter nach rechts, an mir vorbei..“, schließlich war Boris mit der Position des anderen zufrieden und nickte. Yuriy rückte sich nochmals in eine halbwegs bequeme Position und hielt anschließend still. Boris trank einen Schluck Tee, leckte sich mit der Zunge kurz über die Lippen, mit welcher er zuvor noch die Spitze des Kohlestabes befeuchtet hatte, und setzte den bröseligen, weichen Stift vorsichtig auf die vor ihm aufgespannte, mit Kaffeesatz gelblich gefärbte Leinwand. Zunächst wandte er sich dem Kopf des Rotschopfes zu, skizzierte die glatten, kinnlangen Haare in angedeuteten Linien, ehe er das fein geschnittene Gesicht Yuriys auf die Unterlage zu bannen begann. Er begann – eigentlich untypisch für ihn – mit den Augen, welche ihn gleichsam scheu wie neugierig aus den Augenwinkeln heraus beobachteten, ihn anfunkelten, auch wenn Boris ihn angewiesen hatte, ihn nicht anzusehen. Die blauen Augen waren im Halbschein des Kaminfeuers von flüssigem Silber, und einzig hin und wieder tauchte eine kobaltfarbene Schattierung darin auf. Auf helle Tupfen folgten dunklere, von Schatten umwölkte Teile, und Boris versank tiefer und tiefer in seiner Aufgabe. Nach den Augen und den kantigen, leicht geschwungenen Augenbrauen widmete sich der Künstler ganz seinen ausgeprägten, hohen Wangenknochen und der geraden Nase, welche Yuriy ein aufmerksames, autoritäres Gesicht verliehen. Seine Wangen waren nicht mehr so schmal wie einst, fiel Boris auf, nicht ohne ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen – wie oft hatte Spencer Yuriy früher ermahnt, mehr zu essen und mehr auf sich zu achten..? Auf das Gesicht mit den beiden – nun ausgearbeiteten – typisch-Yuriy Strähnen, welche im gedämpften Licht des Kaminfeuers zu glühen schienen und verschiedenste Farbspektren warfen, folgte der weiche Bogen des Halses, auf welchen der von den Schlüsselbeinen Brustkorb folgte. Der Rotschopf atmete wohl bewusst ruhig, denn ebenjener hob und senkte sich in langsamem Rhythmus. Der Feuerschein zeichnete die Konturen weich und ließ Yuriys blasse Haut leuchten wie Marmor, in welchen Muskeln und Sehnen zu einer Figur gemeißelt worden waren. Wahrlich, der silberhaarige Künstler fühlte sich an die anatomisch so genau ausgearbeiteten Skulpturen Michelangelo Buonarottis, dem großen Bildhauermeister der Renaissance, erinnert. Boris fing die kleinen, rosigen Brustwarzen auf seiner Leinwand ebenso ein wie die langen Finger, welche ruhig neben dem noch immer durchtrainierten Körper des Rotschopfes auf dem weichen Flausch-Teppich ruhten. Die breite Brust Yuriys ging über in leicht ausgeprägte Bauchmuskeln, welche von der Haltung leicht angespannt waren. Auch die Bauchdecke hob sich bei jedem Atemzug leicht an. Boris war vollkommen versunken in seine Arbeit, arbeitete die sanft hervorgehobenen Bauchmuskeln genau aus, wobei er gewissenhaft darauf achtete, seinem Modell treu zu bleiben. Er skizzierte die winzigen Härchen, welche ihren eigenen Pfad bildeten und kaum zu sehen waren – einzig, wenn sie in Berührung mit dem weichen Licht des Kaminfeuers kamen, schimmerten sie bei jedem Atemzug golden. Boris folgte dem Pfad weiter, bis zu Yuriys Mitte. Wäre er nicht inmitten seiner Arbeit gewesen, wäre Boris vielleicht befangen gewesen – immerhin war Yuriy lange Zeit sein Teamleader und somit eine Autoritätsperson gewesen, auch wenn er ebenjene Autorität manchmal nicht sonderlich ernst genommen und seine Witzchen darüber gerissen hatte. Ein sachtes Lächeln umspielte Boris‘ Züge, welches man ihm nicht zutrauen mochte. Irgendwie vermisste der Silberhaarige das ständige Zusammensein mit seinen.. Freunden.. Nun – während er vollends in der Magie des Schaffens aufging – portraitierte Boris das auf durchaus wohlgeformten Hoden liegende Geschlecht seines Teamleaders, ohne Zugeständnisse, ohne Idealisierung. Naturnah. Anschließend waren noch die langen Beine an der Reihe, welche in Richtung des wärmenden Kaminfeuers ausgestreckt waren. Muskeln zuckten hin und wieder in diesen langen, muskulösen Läuferbeinen, die in Schatten gehüllt waren, und schließlich noch die Füße des Rotschopfes. Mit winzigen Strichen machte der noch junge Künstler sich noch an die Umgebung des Rotschopfes, er ließ den portraitierten Yuriy – genauso wie es das Original tat – leicht in der Unterlage einsinken, fügte letzte Schimmer des Feuers auf dem nackten Fleisch mit Weißkreide hinzu und vertiefte ein paar der dunkleren Schatten noch mit dem schwarzen Kohlestift. Boris strich gewissenhaft über eine jede Linie, die ihm zu hart erschien, und färbte seine Fingerkuppen so langsam aber sicher dunkel ein. Am Schluss veränderte Boris noch etwas an Yuriys Augen, die ihm gelungen schienen wie sonst kaum einmal – er ließ sie sich halb schließen, sodass ein dichter Wimpernkranz die funkelnden Saphire der Augen umspielte. Leise aufseufzend erhob sich Boris, streckte seinen Rücken durch und massierte sich leicht den schmerzenden Unterrücken. Seine Wirbel knackten, als er einige Schritte machte, um sein neues Werk zu betrachten, welches er ohne zu zögern als eines seiner besten einstufte. Trotzdem verharrte er nachdenklich vor dem Akt seines Freundes, mit welchem er einst vieles geteilt hatte. Beinah melancholisch fuhren seine silbergrauen Augen, in denen Stürme über dem arktischen Meer tobten, über eine jede Linie, welche er gezogen hatte. Dann – nach einer schieren Ewigkeit – nahm er den Tee wieder auf, der inzwischen kalt geworden war, und nickte. Das Bild war fertig. Kaum hatte Boris nun das Meisterwerk mit Fixierspray besprüht, blinzelte er leicht, als erwache er aus einer Trance. Er sah hinter der Leinwand hervor, riskierte einen Blick hervor und wollte ihn nicht mehr abwenden angesichts des Augenscheins, welcher sich ihm bot. Unwillkürlich entwich ihm ein Laut, welchen eigentlich nie mehr auszusprechen vorgehabt hatte seit seiner Zeit auf der Straße. „Yura..“ Tatsächlich, Boris glaubte einen Moment lang, den kleinen Straßenjungen von einst in dem schlafenden Erwachsenen zu sehen.. doch die Assoziation schwand zu schnell wieder, als dass er sie hätte fassen können. Der Maler konnte wieder seinen rothaarigen Freund in seinem Modell erkennen, welcher dalag, ihm im Grunde wortwörtlich schutzlos ausgeliefert. Schlafend wie ein kleines Kind auf dem Schoß seiner Mutter, eingelullt von der kuscheligen Wärme im Raum. Abermals schlich sich ein ungewohnt sachtes Lächeln angesichts des ihm darbietenden Anblicks auf seine Züge, und Boris trat auf Yuriy zu, nahm den Bademantel von der Couch und breitete ihn über den rotschöpfigen Russen. Yuriy ließ ein leises Schnauben hören, ehe er sich leicht zusammenrollte, sich an seine Unterlage schmiegte. *~ Als Yuriy erwachte, war ihm zunächst nicht klar, wo er sich befand. Leicht irritiert blickte er sich um, sah die braune Couch, auf der Kissen nur so gestapelt waren und die Bilder in einer Ecke des weitläufigen Raums. Schließlich traf sein Blick die Staffelei – genau, er war doch bei Boris, er war Modell gesessen.. und er war eingeschlafen. Der letzte Fakt war dem Rotschopf etwas peinlich, und er richtete sich von seiner Schlafstatt auf. Er war noch nie bei der Arbeit eingeschlafen, dazu war er immer zu misstrauisch gegenüber den Künstlern gewesen, die ihn manchmal angewidert, manchmal allzu lüstern angesehen hatten. Boris drehte sich genau in dem Moment vom Kaminfeuer ihm zu und erwiderte seinen verdutzten Blick beinah freundlich, was ihn noch mehr verwirrte. „Du hast geschlafen“, erklärte der Silberhaarige überflüssigerweise. Yuriy wurde sich in dem Moment, an welchem er sich erhob, urplötzlich seiner Nacktheit bewusst, und hastig – beinah wie eine Jungfrau nach dem ersten Mal, wie ihm der irritierende Gedanke durch den Kopf ging – raffte er den Bademantel um sich, welcher ihm als Decke gedient haben musste. Boris wies grinsend in Richtung des Badezimmers, und Yuriy folgte seinem Wink leicht überhastet. Bloß etwas anziehen, dachte er bei sich, und wurde sogleich wieder überrascht. Boris hatte ihm ein Bad eingelassen, und auf dem Trockner lagen seine säuberlich zusammengefalteten und getrockneten Kleider. Yuriy konnte nicht umhin, den Kopf zu schütteln über so viel.. Sorgfalt. „Du alter, überfürsorglicher Idiot..“, murmelte er, als er sich in die Wanne gleiten ließ. *~ Yuriy seufzte leise und zufrieden, als er aus der Badewanne stieg. Er war wunderbar entspannt – beinah hatte er vergessen, dass es noch ein anderes Leben außerhalb der Badewanne geben konnte. Er liebte ein heißes, entspannendes Bad, das hatte er immer schon – und Boris schien sich daran erinnert zu haben.. Der Rotschopf wusste noch nicht, was Boris wohl mit dieser Geste bezwecken konnte, doch im Moment war es ihm herzlich egal. Er trocknete sich gründlich ab, ehe er in seine Kleider schlüpfte, und suchte seinen Blick im Spiegel, welcher kalt und kobalt-silbern erwidert wurde. Irgendwie erlag er nach einer jeden Sitzung als Modell der Angst, der Maler könnte ihm etwas seiner selbst genommen haben, doch er war immer derselbe – auch nun. Boris hatte ihm nichts seiner verkorksten, seltsamen Persönlichkeit gestohlen. Er trat aus dem Badezimmer, und Boris empfing ihn mit einer Tasse heißen Schwarztees, welchen er ihm in die Hand drückte. Der Silberhaarige wies auf einen Haufen von Kissen und Decken, die nahe an dem Hitze verströmenden Kamin auf dem Boden verteilt waren, und schmunzelte leicht. „Bitte, setz dich. Tu dir keinen Zwang an.“, lud er den anderen ein, ehe er sich ebenfalls auf der Liegestatt niederließ. Kapitel 3: Lachen | Der Geist der Zukünftigen Weihnacht ------------------------------------------------------- Lachen | Der Geist der zukünftigen Weihnacht Zum Titel: ich war müde, hatte die Nerven weg und mein morbider Sinn für Humor hat sich mal wieder gemeldet. xD Man merkt langsam, dass die ganze Aktion eigentlich nicht so viel mit Weihnachten zu tun hat – außer vielleicht, dass alles am Weihnachtstag spielt. Und ja, die zukünftige Weihnacht kommt vor der Gegenwärtigen – dieselbe kommt nämlich schön an Weihnachten bzw. einem der Feiertage. Ich hoffe, ihr seid mir deshalb nicht böse? *lieb guck* *Das Russische im Text* -Sdrastvuj, moj drug » Grüß dich/Hallo, mein Freund -Dobrij wjetschir tej toshe, drug » Guten Abend auch dir, Freund Ich übernehme keine Haftung für die Richtigkeit des Russischen, weil ich vollkommene Russisch-Anfängerin den zweiten Gruß schnöde vom Deutschen heraus übersetzt habe. Wer also Fehler findet: teilt sie mir doch mit. Mein 3. Ich (die Russlandfanatin) freut sich darüber und schickt Kekse zurück.;3 Widmung: für Jeschi, weil du meinen kranken Humor teilst und ich dich (natürlich) gerne hab*drück* XD -_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_- Da stand er nun. Er hatte sein Ziel erreicht. Das Gebäude vor ihm brannte lichterloh, höher, als er es sich in seinen kühnsten Träumen hatte vorstellen können. Gleichzeitig fiel Schnee rund um ihn herum, schwarz gefärbt von Asche und Ruß, und bedeckte den Boden. Die Flammen schlugen immer höher, und erreichten nun auch die letzten Sprengladungen. Sie zündeten sich rasch nacheinander, hüllten das große Gemäuer in eine dichte Wolke aus Rauch und Asche, aus chemischem, schwarzen Qualm und zusammenbrechenden Mauern. Später würde man nichts mehr von der Brandstiftung finden. Die Flammen erreichten auch die Laboratorien in den Untergeschossen, und ein Meer bunter Lichter blitzte auf, hüllte die gesamte Umgebung in taghellen Schein. Schreie tönten über die Ebene, die nicht irdischer Wesen waren, die soeben die Freiheit gefunden hatten. Die Umgebung schien zu erbeben und über ihm im weiten, von schwarzen Wolken verhangenen Himmel wogte ein buntes Lichtermeer. Blitze aller vorstellbaren Farben tauchten die Wolken in ein Farbenmeer. Er hatte sein Ziel erreicht, auf das er sein Leben lang hin gearbeitet hatte. Ihm war nach Lachen zumute. *~* Er rannte. Es war etwas, was er schon lange und sehr gut beherrschte. Jahrelang, wenn nicht gar sein ganzes Leben hatte er nichts anderes getan, als zu fliehen. Er war gerannt, schon als kleines Kind, immer weiter, immer schneller, immer höher. Es hatte ihm nichts gebracht. Der Schnee lag noch nicht hoch, und – wie er sich mit einem kurzen Blick gen Himmel überzeugen konnte – es würde noch in dieser Nacht in absehbarer Zeit zu schneien beginnen. Die Wolken hingen grau und tief über seinem Kopf, schafften die erforderliche Dunkelheit um ihn herum, um ihn in seinem grauen Mantel nicht auffallen zu lassen. Eine ferne Turmuhr schlug. Es wäre Wachablöse. Doch sie würde nie mehr kommen. Er rannte los, doch diesmal nicht um zu flüchten. Dieses Mal wollte er sich der Herausforderung stellen und eindringen in den Ort, der so viele Schrecken und Erinnerungen für ihn barg. Er spürte die kalten, rauen Steinwände an seinem Rücken als er sich an ebendiese presste, um einen Moment zu Atem zu kommen. Sein Atem ging in winzigen, weißen Wölkchen in die Luft, als er versuchte, seinen Atem halbwegs zu beruhigen. Das Gemäuer zu seinem Rücken fühlte sich irgendwie vertraut an, als wäre er hier bereits tausende Male auf einem von unzähligen Streifzügen vorbeigekommen. Obgleich er sich wieder erinnern konnte, belog er sich noch immer selbst, sagte sich: »Hier komme ich nicht her« Er nutzte den Schatten der Mauer, tastete sich vor, huschte so leise er konnte an der Wand entlang hinein in das verdunkelte Gebäude, dessen Zugang mit Brettern verrammelt war. Die Bretter hinderten ihn nicht. Sie hatten ihn niemals gehindert, von hier fortzukommen, auch als sie noch gar nicht da gewesen waren. Er kannte einen jeden Winkel, hatte sogar noch die Wege der Wachen im Kopf, deren schemenhafte Schatten er sich im Dunkel des Gebäudes einbildete. Doch nein, da war nichts. Überhaupt nichts. Er schüttelte den Kopf. Er war hier aufgewachsen – diese tausenden Streifzüge, die er unternommen hatte. Alleine oder gemeinsam mit anderen war er zur Küche geschlichen, um noch einen Bissen abzubekommen von einem der mitleidigen Köche, die hier gearbeitet hatten. Sie hatten gemeinsam Freud und Leid hier erlebt und geteilt. Die weißen Wölkchen verloren durch seinen kontrollierten Atem an Kontrast. Es wurde Zeit, die Erinnerungen zuzulassen. Es wurde Zeit, die letzten Schleusen zu brechen. Durch den Kreuzgang kam er in einen kleineren Hof hinter der Kirche, die dem Kloster eigen war. Er blickte sich kurz um, vom hohen Zwiebelturm über den in Dunkelheit liegenden Kreuzgang zu den Kreuzen. Es war der Friedhof, völlig zerstört und überwuchert. Manchmal waren es bloß Steinplatten, über die er kurz andächtig strich. Da waren Kreuze aus Metall, Stein oder Holz, manchmal waren es sogar kleine Statuetten und manchmal war es auch bloß eine Steinplatte, die aufgestellt worden war. Nirgends war ein Name zu sehen – einzig die Gräber kündeten von der trostlosen Anwesenheit der Toten an diesem Ort. Er streifte durch die Reihen, und schließlich stand er vor einer einfachen Steinplatte. Sein Blick ging in weite Ferne, hinter der schweren Lesebrille sahen die graublauen Augen kleiner aus, als sie es waren. Nachdenklich strich der Atem über seine leicht geöffneten Lippen. Hier.. Er war sich nicht sicher, was der dumpfe Gedanke, der dumpfe Schmerz zu bedeuten hatte, welcher über ihm zuschlug und ihn fortriss wie eine Welle. Es zog ihn in die Tiefe. Hier.. Hier war er ihnen – IHM – zum ersten Mal begegnet. Hier hatte er ihn zu Grabe getragen. Hier hatte er seine Hoffnungen und Träume begraben und beinahe selber ein Ende gefunden. Hier waren sie vom Teufel höchstpersönlich entweiht und zu seinen Sklaven gemacht worden. Er fröstelte und fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Taten, Geschehnisse vergangener Tage bestürmten ihn, welche er hatte vergessen wollen. Er wollte sich noch verstecken, doch dies war ihm nicht mehr möglich. Er hatte sich so lange gewünscht, es sich vorgestellt, wie es gewesen wäre, als jemand anderes Geboren zu werden. Er hätte nie existiert. Von einem Moment auf den anderen überfiel ihn die lange verdrängte Trauer. Er fiel auf die Knie, schlug mit den Fäusten auf den weiß gepuderten Boden ein. Der Pulverschnee stob auf, bedeckte ihn, und vielleicht war es das eisig kalte, beißende Gefühl auf seiner Haut, das ihn dazu bewegte, sich wieder aufzurappeln. Tränen brannten ihm in den Augen. Hier lag jemand begraben, der ihm einmal sehr viel bedeutet hatte, der ihm hin und wieder noch immer erschien. Hier lag er, seit Jahren. Bedeckt von Stein und Staub, von Erde und Eis, von Tränen und von Blut. Nun, da die Schleuse der Erinnerungen einmal geöffnet war, konnte sie nicht mehr geschlossen werden. Er rappelte sich langsam auf, während er sich auf seinen Stock stützte. Ihm schwindelte angesichts des riesenlangen Stroms, welcher ihn fortreißen wollte, ihn ertränken wollte, nun, da diese Urgewalt einmal entfesselt war. Mühselig stolperte er weiter, immer weiter. Er lief einen jeden Gang entlang, auch die, die er niemals zuvor betreten hatte. Der Schlag des Stockes hallte bei einem jeden Schritt in den menschenleeren und vergessenen Gängen. Er würde niemandem begegnen – es waren schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergangen, seit dieser Gebäudekomplex offiziell geschlossen worden war. Das einzige, das er antraf, waren seine verstaubten, verblassten Erinnerungen, die hier warteten – kein Lebender, kein Geist, viel mehr Schatten. Er war hier, um diesen Schatten endlich ein für allemal zur Ruhe betten zu können. Er kam in einen Trakt, den er am liebsten ausgelassen hätte. Die Schlafsäle. Sie waren aufgebrochen worden, von Obdachlosen auf der Suche nach Wertsachen verwüstet, doch größtenteils intakt. In einem der Säle – dem mit den großen Fenstern, die nun alle halb vernagelt waren – hatte auch er einst genächtigt. Er war noch da. Die Fenster fehlten, und wahrscheinlich würde seine Gicht nicht besser in der Zugluft, doch er musste hier verharren, in dem Friedhof für Träume mit den rostigen, quietschenden Bettgestellen ohne Matratzen. Oh ja, sie hatten ein entbehrliches Leben geführt. Trotzdem war immer eine Decke mehr für die dagewesen, die gefroren hatten, ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit am Tag und eine Heimat, wo Menschen waren, die auf einen warteten. Und dann sah er auf einmal, wie der Staub um ihn herum sich verdichtete. Matratzen kamen zurück, die Fenster wurden freigelegt und Mondlicht schien herein. Eine große Schar von Kindern hatte sich um einen Jungen geschert, dessen geisterhafte Lippen aus Traumgespinst sich bewegten, jedoch ohne ein Geräusch zu verursachen. Am gebannten von allen lauschte einer der stärkeren, eines der Straßenkinder, die den Schlafsaal endgültig bezogen hatten. Er erinnerte sich gut daran, wie auch er damals zugehört hatte, gebannt von der Stimme, die erzählte und die von dem kleinen Rotschopf stammte, dessen geisterhafte Augen er heute noch immer sah, wann immer er in den Mond blickte, die immer hell in der Dunkelheit geschimmert hatten. Er schüttelte den Kopf, murmelte „Humbug“ über seine alten, senilen Gedankengänge und humpelte weiter, dieses Mal etwas hastiger als zuvor. Er war neugierig, was in dem kleineren Schlafsaal auf ihn wartete. Dort hatten sie später geschlafen, zu zweit, er und – ausgerechnet! – der kleine Geschichtenerzähler. Nichts war verschoben oder berührt worden, in all den Jahren. Der Staub lag meterdick, doch es störte ihn nicht. Er war doch selbst schon als und verstaubt. Vorsichtig humpelte er vorwärts, mitten in den Raum. Selbst die Matratzen waren noch da, und er ächzte, als er sich auf die staubige, harte Unterlage sinken ließ. Er glaubte, seine alten, morschen Knochen knarren zu hören. Es dauerte nicht lange, da zeigten sich seinen graublauen Augen die nächsten Illusionen von Erinnerung. Da war nicht viel. Es waren drei Geister – obwohl, nein. Geister waren es nicht, viel mehr waren es Schemen. Da war der introvertierte Tollpatsch, der sich mit ihrem Krümel balgte, während der Geschichtenerzähler – nun einige Jahre – sich zuerst stumm aufregte und herrisch gestikulierte, ehe er resignierend den Kopf senkte und sich neben ihm niederließ. Er blicke aus seinen halb erblindeten Augen hinab auf den schattenhaften, roten Haarschopf, der ewig jung geblieben war. Und dann war die Illusion so schnell wieder verschwunden, wie sie ihm erschienen war. Die drei Gestalten verwehten mit einem unfühlbaren Wind, wurden fortgetragen dorthin, wo sie nun weilten und vielleicht auch auf ihn harrten. Er seufzte leicht, und hörte das morsche Knarren des Bettes als er sich erhob. Seine Hüfte schmerzte, sein Kniegelenk ebenso und kündigte baldigen Schneefall an. Er musste sehen, dass er weiterkam. Und doch verharrte er noch ein wenig mitten im Raum. Vor ihm setzte sich der Staub zu einem neuerlichen Schemen des Geschichtenerzählers zusammen, vom Fuß bis hin zu den hellen Augen, die stechend waren und stetig leuchteten, das jugendliche Äußere.. alles an ihm sandte weiches, mattes Licht aus. Die Lippen bewegten sich stumm, diese schmalen, süßen Lippen, doch er verstand trotzdem. „Sdrastvuj, moj drug“, er glaubte sogar, die kehlige, leise Stimme des anderen zu hören und der er so verfallen war, damals. Er neigte sein vom Alter ergrautes und schütter gewordenes Haupt. „Dobrij wjetschir tej toshe, drug“, erwiderte er, warm lächelnd und glaubte, seine Einbildung lächele ebenfalls. Den Kopf schiefgelegt, die Lippen leicht verzogen. Er ging weiter, humpelte vorwärts, doch nun in einer Art beschwingt, die verriet, dass er bald von diesem Ort fortkonnte. Er war lange geflohen, so lange, dass es beinahe zu spät gewesen wäre. Doch er war hier. Nun. Er war an den Gräbern, er traf die Schatten und gab sich der vergangenen Liebe hin, die er bloß damals erfahren hatte. Er war so lange geflohen – immer weiter, immer höher, immer schneller, immer hektischer, ohne doch entkommen zu sein. Er hatte Berge erklommen, war durch Wälder gestreift. Er hatte gelebt wie ein Einsiedler und wie ein Pascha. Doch alles hatte nichts genutzt; das Bild des Rothaarigen hatte ihn immer verfolgt. ~*~ Er blickte zur Seite, zu seinem schemenhaften Begleiter, der ihn nicht mehr gelassen hatte. Er stand auf dem Schnee, blickte ihn unverwandt an, aus diesen wunderbaren, hellen, glitzernden, silbernen, blauen, leuchtenden Augen. Ein Lächeln spiegelte sich auf den Geisterzügen, die immer weiter verschwammen, als das Licht der unirdischen Wesen erstrahlte. Sie wurden fortgeweht vom Wind der Zeit, den er nicht fühlen oder sehen, aber umso mehr spüren konnte. Die hellen Augen strahlten endlich den Frieden aus, den er sich immer für den Freund gewünscht hatte. Da stand er nun. Sergej stützte sich müde auf seinen Stock auf, welcher bedenklich knarrte, doch es kümmerte ihn nicht. Er hatte endlich begraben, was begraben gehörte. Das Gelände der Abtei unter ihm ging in Flammen auf, wurde vollständig von der Landkarte getilgt. Endlich. Er hatte den Geist Yuriys endlich zur Ruhe gebettet, wie er es schon seit Jahrzehnten hatte tun wollen und doch nicht geschafft hatte. Sergej war nach Lachen zumute, und gleichzeitig liefen Tränen der Verzweiflung über seine runzeligen, eingefallenen Wangen. Er schnäuzte geräuschvoll in ein Taschentuch, ehe er sich abwandte von dem Inferno der Erlösung. Er ließ es hinter sich. 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