Es lohnt sich nicht, aufzustehen. Wirklich. von CarterBrooks ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich wachte auf. Es war alles gut, das sagte ich mir. Immer und immer wieder. Nichts war gut, nichts war in Ordnung. Es war ein Tag wie jeder andere. Wie sollte sich von einem Tag auf den anderen Tag, dessen Inhalt sich nicht verändert, überhaupt etwas ändern? Meine Augen fühlten sich ganz klebrig an, verschlafen blinzelte ich. Die Wärme und die Schwere der Nacht lastete auf mir, ich traute mich kaum, aufzustehen. Es lohnte sich nicht, aufzustehen. Wirklich. Es war vorbei. Vorbei mit den Tagen, an denen man voller Elan aus dem Bett sprang, vom Bett an den Küchentisch, um dort zu frühstücken. Die Tage begannen mit einem Kampf. Der Kampf aus dem Bett. Es war warm und weich und es nahm mich ohne Widerworte auf. Das Einzige, dass mich in manchen Tagen kümmerte. Und doch stand ich auf. Zwei Schritte, ich hatte den nervenden Ton ausgestellt. Der Wecker, mein größter Feind. Ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, gähnte ich, besah mir die beschlagene Scheibe. Es hatte Frost. Oder sonst was. Vielleicht sogar Schnee, auf jeden Fall war es kalt. Ein paar Minuten lies ich die Zeit einfach vergehen. Ich schaute aus meinem Fenster und spürte innerlich die Kälte, was mich ein, zweimal erschaudern lies. Wieso konnte man die Zeit nicht zurückdrehen? Es wäre zu leicht. Im Religionsunterricht wurde die Frage besprochen. Wenn alle es so leicht hätten, indem sie jeden Fehler rückgängig machen könnten, dann wäre das Leben ja langweilig, äffte ich Worte nach, über die nur ich hätte lachen können. Denn mein Zimmer war leer. Meine restliche Familie würde erst eine Stunde später erwachen. Jaja. Langweiliges Leben. Heul doch, hätte ich am Liebsten geschrien, heul doch! Interessiert es mich, ob sich andere Menschen in ihrem Leben langweilen? Die interessiert es doch auch nicht, ob es mir schlecht geht. Ob ich die Zeit zurückdrehen will, dachte ich. Aber ich sagte nichts. Nein, man kannte mich so, wie ich mich gab. Ruhig, schweigsam. Unscheinbar. Niemanden interessierte es, wie es in mir drin aussah. Du solltest dich eben auch anderen öffnen. Solange du nicht willst, wollen andere eben auch nicht, die Worte meiner Mutter. Wieso ich überhaupt mit ihr redete? Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich mit irgendjemandem reden musste. Dann sind sie nicht wirklich interessiert. Sie sind nicht interessiert daran, wie ich bin, also werden sie es niemals rausfinden wollen. Es war Zeit, sich anzuziehen. Schnell schlüpfte ich in lange Klamotten, groß und weit, sodass sie sich nicht am Körper abzeichneten. Meine Mutter nannte diese Kleider liebevoll 'Sackklamotten'. Vielleicht fand sie es ja lustig. Ja, vielleicht. Da ich meinen Schulranzen nie am Abend davor richtete, da ich jeden Abend totmüde ins Bett fiel,tat ich das eben jetzt. Leise lief ich über den Flur. Ich wollte niemanden wecken, ganz bestimmt nicht. Mein Blick fiel kurz auf die Tür meines Vaters. Stiefvaters. Schnell schüttelte ich den Kopf. Verdrängen war immernoch die beste Art, mit allem umzugehen. Ich tapste weiter. Erst jetzt sah ich auf die Uhr. Es war schon spät. Meine Bewegungen waren erst hektisch, als ich eine Teekanne suchte, um sie mit warmer Liebe zu füllen. Doch dann beruhigte ich mich. Ich würde den nächsten Bus nehmen. In aller Ruhe kochte ich Wasser auf, um mir warme Liebe zu machen. Warme Liebe, eine neue Teesorte. Meine Mutter hatte diese mitgebracht. Der Tee schmeckte nicht, er hielt warm. Nun packte ich meinen Schulranzen auf den Rücken, schwer wie eh und je. Doch heute fühlte er sich ein wenig leichter an. Höchstwahrscheinlich Einbildung. Die wärmende Teekanne in der Hand, meine Finger hatten immer Temperaturen unter Null, so schien es, ging ich los. Es war dunkel, dabei war es gar nicht mehr so früh. Meine Schritte hallten, als ich an den offenen Hoftoren vorbeikam. Ich grüßte den Bäcker, der mager hinter der Theke stand und seine Kuchenstücke appettlich, ansehnlich richtete. Ich grüßte ihn, dabei gab er mir immer falsches Wechselgeld, immer. Weil ich ein dummes Kind war, nicht? Schon bald saß ich im Bus. Auch hier war es kein deut wärmer, als draußen. Ich rieb angespannt meine Hände aneinander. Ich würde nicht zur Schule fahren. Zwei Stationen früher würde ich aussteigen, zum Fitnesscenter. Nein, ich hatte nicht vor, zu trainieren. Sport war etwas für glückliche Kinder. Du übertreibst Kind, es geht dir gut, sehr gut. Andere Kinder haben nichtmal ein Dach über dem Kopf. Wenn du wüsstest, Mama. Wenn du wüsstest. Ich stieg aus. Möglicherweise war es sonderlich, dass ein Schulkind, früh morgens um halb neun vor einem Fitnesscenter stand, mit Schulranzen auf dem Rücken sogar. Trotzdem hinderte mich niemand daran, die Treppen hochzusteigen, bis zum Dach. Selbst diese Tür war offen. Rechneten sie damit, dass dicke Menschen hier raufstiegen? Vielleicht war es ja eine nette Geste. Oder auch Zufall. Hier oben brauste ein übler Wind, ich machte die Tür hinter mir zu und sah mich um. Es war, wie man das Dach eines Fitnesscenters erwarten würde. Kahl. Grau. Nicht ansprechend. Womöglich war es auch gar nicht typisch für die Sammelstätte der Dicken. Vielleicht, vielleicht. Es lohnte sich nicht darüber nachzudenken. Langsam lies ich meinen Schulranzen fallen, lief ans äußere Ende. Eine erhebliche Sturmböhe folgte mir, lies mich schwanken. Meine Kleidung hielt ich fest, denn sie schwenkte in der Luft hin und her, gleich einer Flagge. Ein Engel. Wie ein Engel würde man hier herunterschweben. Vorrausgesetzt, man wagte es. Ich stellte mich an das Gitter, eine Hand henkte sich automatisch daran, als hätte sie nie etwas anderes getan. Es würde in den Zeitungen stehen. Wieso hat sie das getan? Was muss ihre Familie für ein Schandfleck sein!Wie konnten sie das zulassen? Es würde Aufruhr geben. Sie würden sich fragen, welcher Typ Mensch ich gewesen war und welche Probleme ich hatte. Prompt in diesem Moment sah ich ein Loch im Zaun, welcher Selbstmörder im letzten Moment davon abhalten würde, zu springen. Es war wie ein Wink des Schicksals. Eine Minuten lang starrte ich auf diese Stelle.Dann rührte ich mich wieder. Ich nahm meinen Schulranzen, drückte ihn zuerst durch das Loch. Dann kletterte ich hindurch. Wir beide ernteten dadurch Schrammen. Ich, und der Schulranzen. Wir beide sahen das Ende nah, es war ein Fußschritt entfernt. Tut mir Leid. Ich murmelte es nur. Dann nahm ich meinen Schulranzen, öffnete ihn und schüttelte meine Bücher hinaus. Sie flatterten das Haus hinunter, ich sah ihnen nach, winkte. Es sah so selig aus, wie sie der Welt entschwinden zu schienen. Wie Federn eines Engels. Jetzt war es wohl Zeit für den Engel, zu gehen. Ich schaute in den Himmel, er war so nah. Nur ein Schritt entfernt. Bald war auch der Engel verschwunden, er hatte den nächsten Bus genommen, um nach Hause zu fahren und sich hinzulegen. Er blieb den ganzen Tag über dort. Denn es lohnte sich nicht, aufzustehen. Wirklich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)