Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 56: ------------ Dorian schauderte es bei dieser Vorstellung. Plötzlich fühlte er sich seltsam verloren zwischen den Dornbüschen und dem strohfarbenen Gras, das sich in einem nicht spürbaren Wind leicht wiegte. Er drehte sich um, um zu sehen, ob die anderen noch da waren. Iria und Nadim waren gleich hinter ihm. Ihren nervösen Mienen nach mussten sie zumindest Teile des Gesprächs mitbekommen haben. „Dann ist es also noch ziemlich weit?“ fragte Dorian in einem harmlosen Ton, um das Gespräch weg von Massakern und Friedhöfen und hin zu trivialeren Themen zu lenken. „Ja, wir haben noch einige Meilen zu gehen.“ „Aber mir knurrt der Magen, und verdursten werde ich auch bald.“ Wie zur Demonstration ertönte ein Grummeln aus seiner Magengegend, woraufhin Sarik amüsiert lachte. „Glaube mir, Junge, so schnell verhungert man nicht. Und was das Wasser betrifft, so werden wir ziemlich sicher welches finden. Diese Gegend ist nicht so trocken, wie sie aussieht.“ Von diesen Verheißungen entmutigt, die weder seinen Magen füllen noch seine Kehle befeuchten konnten, ließ sich Dorian wieder auf die Höhe von Nadim und Iria zurückfallen. Auch ihnen waren die Strapazen anzusehen, und er vermied es, die vor ihnen liegende Wegstrecke anzusprechen. Er konzentrierte sich stattdessen auf seine Füße, die einen Schritt nach dem anderen taten. Bald war es ihm, als würde er eine Maschine beobachten, die auch ganz ohne sein Zutun funktionierte. Er ahnte, dass ein Verlassen dieses gedankenfreien Raums dieses Funktionieren nur stören und Gefühlen wie Hunger und Durst Einlass gestatten könnten. So vermied er jedes Nachsinnen und betrachtete bald seine Füße, bald die Umgebung, die in graue Schwaden getaucht langsam an ihnen vorbeizog. In seiner Monotonie störte ihn jedoch ein Eindruck, der sich ihm einmal, und von da an öfter, bot. Ein dunkler Fleck, gleich einem schwarzen Farbklecks, prangte in der weitgehend strohfarbenen Landschaft. Von dieser Abwechslung aus seiner Dumpfheit gerissen, sah er näher hin. Schließlich erkannte er Sumpflöcher in ihnen, die in dieser Steppe, von der Brynja vorhin gesprochen hatte, deplatziert wirkten. Es schien ihm, dass der allgegenwärtige Nebel aus diesen Löchern entströmte, und als er an eines herantrat, stellte er enttäuscht fest, dass sie nur Schlamm, aber kein trinkbares Wasser enthielten. Seufzend wandte er sich von dem Dreckloch ab, um wieder in jener Gedankenlosigkeit zu versinken, in der sich nur zwei Füße bewegten und einen Schritt nach dem anderen taten, einen nach dem anderen… bis ihn ein laut gesprochenes Wort aus seiner Monotonie riss. Es war Brynja, die ein gutes Stück entfernt im hohen Gras hockte, und deren Silhouette mit der strohfarbenen Umwelt fast vollständig verschmolz. Sie hatte ihre Kapuze übergezogen und machte ihnen Handzeichen, die Sarik offenbar verstand. Derweil beobachtete sie weiter, auf was sie gestoßen war, was Dorian und den anderen aber aufgrund der Sichtverhältnisse verborgen blieb. „Was sieht sie?“ zischte Dorian zu Sarik, der ebenso ins Gras geduckt verharrte. Er gab keine Antwort, sondern wartete weitere Signale ab. Dorian, den diese Ungewissheit in einen Zustand der Nervosität versetzte, die jede Änderung der momentanen Situation begrüßt, drehte sich um. Nadim und Iria warteten ebenfalls in das Gras geduckt, und ihre Gesichter fragten ihn das, was er selber wissen wollte. Nur Hargfried stand- wie bestellt und nicht abgeholt- ein Stück weiter hinten und machte ein ratloses Gesicht. Eine gefühlte Ewigkeit nachdem Brynja in geduckter Haltung im Dunst verschwunden war, kam sie aufrechten Ganges auf sie zu. Sarik, dessen Gesichtszüge sich bei ihrem Anblick augenblicklich entspannten, stand auf. „Es sind ein paar alte Bekannte“, sagte sie in einem abfälligen Tonfall. Sean Hardy war die Erleichterung anzusehen. Er atmete tief durch und löste dabei die Schnallen, die ihn mit Riemen am Sitz gehalten hatten. Dann verharrte er noch einen Moment in dem bequemen Sitz, während Jan Gildenstern neben ihm bereits aufsprang. Dieser eilte mit schnellen Schritten zum Piloten, der ihr Flugschiff zwischen den schroffen Türmen und abweisenden Eisflanken des Barantir-Gebirges hindurch gesteuert hatte. Hardy konnte von seiner Position sein Gesicht nicht sehen, aber er spürte förmlich den Schweiß, den dieser Mann beim Steuern dieser erst vor kurzem fertiggestellten Erfindung vergossen haben musste, von der bisher niemand genau gewusst hatte, ob sie die nötige Höhe, ein derartiges Gebirge zu überqueren, überhaupt verlässlich halten konnte. Das Leder des Sitzes knirschte einen Moment, als Hardy aufstand. Sein Magen war von den Turbulenzen, die den Flugapparat erschüttert hatten, immer noch etwas beleidigt. Seine Knie fühlten sich wie Mus an, als er neben Gildenstern trat. „Wir hätten die Berge auch umfliegen können“, bemerkte er vorsichtig lächelnd. Das Lächeln schwand aber wieder, als sein Blick durch das Sichtfenster fiel, hinter dem dichter Nebel ihre Sicht stark einschränkte. Hätte er das während ihres Fluges durch die bergige Region gewusst, seine Nerven wären einer noch anspruchsvolleren Probe unterzogen worden. „Es ist keine Zeit zu verlieren“, erwiderte Gildenstern, der festen Blickes aus dem Fenster sah, obwohl kaum etwas zu sehen war. Hardys Blick fiel auf den Piloten, der sich hauptsächlich anhand mehrerer Instrumente und eben seinem eigenem Gerät, das zu dem gesuchten Signal führte, orientierte. Und er beneidete ihn keinen Moment um seinen Sitz. „Ja, ich habe gehört, dass es an der Front nicht zum Besten steht. Ich glaube, wir werden diesen Krieg nicht gewinnen.“ „Kriege wurden auch schon früher verloren“, sagte Gildenstern mit kalter Stimme, „aber die eigentliche Gefahr… geht von woanders aus.“ Hardy wandte sich ihm zu, und der fragende Ausdruck wurde übermächtig auf seinem Gesicht. „Du meinst…?“ Ein Moment der Unsicherheit zog über Gildensterns Gesicht. Hardy, der sich nicht erinnern konnte, ihn schon einmal so gesehen zu haben, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn und ließ den Blindflug, der sich hier abspielte, gänzlich außer Acht. Gildenstern ergriff ihn am Ellbogen und führte ihn vom Pilotenplatz weg. Dabei sah er sich um, als gäbe es hier, im beengten Inneren dieses Apparats, die Möglichkeit, jemand könnte sie belauschen. Unweit der Gardesoldaten, die unbeweglich und abwartend auf ihren Plätzen saßen, blieben sie stehen. Gildenstern warf diesen Männern einen Blick zu: Hardy las aus diesem Blick jene Mischung aus unerschütterlichem Vertrauen und dem Stolz auf diese Loyalität heraus, die ihn freier sprechen ließ als je zuvor. „Sean Hardy, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren; ich erzähle dir dies, weil ich dir vertraue. Und weil ich darauf vertraue, dass sich in unserem Land einiges ändern wird.“ Hardy bekam große Augen. Der Ernst und die Zuversicht, die aus diesen Worten sprach, unterschied sich so klar von Gildensterns üblicher gefasster Miene, und strahlte eine so forsch-jugendliche Unerschrockenheit aus, dass er ehrlich überrascht war. „Was wird sich ändern? Und was meinst du mit der ‚eigentlichen‘ Gefahr?“ „Es ist unser Kaiser, Modestus der Dritte“, erwiderte Gildenstern. Er, dem sonst jede offene Gefühlsregung fremd war, ließ ein glückliches Erschauern beim Aussprechen dieser Worte anklingen, als empfände er größte Genugtuung, dies endlich offen sagen zu können. „Modestus ist ein Verräter, verstehst du?“ „Ein… was? Ich verstehe gar nichts.“ „Modestus, unser Kaiser, hat die Dienstaufstellung der Palastwache dahingehend manipuliert, um den Dieben des Maleficium Tür und Tor zu öffnen! Er sabotiert die Ermittlungen, anstatt sie zu fördern. Er sieht mit an, wie unsere unfähigen Generäle den Krieg verpfuschen und unser Land an Mosarria ausliefern. Dazu macht er eine ruhige Miene, als ginge es um ein zerbrochenes Spielzeug, das sein Vater jederzeit ersetzen kann, und nicht um unser teures Land!“ Gildenstern wurde rot im Gesicht. Seine Augen glänzten wie im Fieber, und seine Hände, die er in beschwörender Manier an Hardys Schultern gelegt hatte, zitterten leicht. Dieser blickte ihn fassungslos wie auch abwartend an und blinzelte dabei nervös. „Bist du dir mit diesen Dingen auch ganz sicher?“ Gildenstern senkte langsam den Blick wie jemand, der aus einem Tagtraum erwacht, und seufzte dabei. Dann wandte er sich von Hardy ab und ging ein paar Schritte in Richtung der Kabinenwand. Ohne sich umzudrehen, als schämte er sich seiner vorigen Reaktion, sprach er weiter. „Ich wollte es einige Zeit nicht glauben, mein lieber Hardy. Aber die Beweise sind erdrückend. Sei versichert, ich wünschte, es wäre nicht so.“ Sean Hardy, der diese Eröffnung erst verarbeiten musste, blickte sich einen Moment ratlos um, bevor er sich wieder an seinen Freund wandte. „Ja, aber- warum sollte er das tun? Es ergibt nicht den geringsten Sinn.“ Gildenstern drehte sich wieder um; sein Gesicht wirkte erschöpft, wie von einer großen Anstrengung gezeichnet. „Dieses Rätsel zu ergründen bleibt leider keine Zeit. Mein Entschluss ist folgender: wir holen das Maleficium zurück, und sobald wir wieder in der Hauptstadt sind, entmachten wir Modestus. Die Palastwache ist mir loyal, und die Generäle sind auch schnell aus dem Weg geräumt. Dann werden wir das Maleficium einsetzen, um diesen unseligen Krieg zu beenden.“ Gildenstern atmete nach diesen Worten tief durch, als wäre eine schwere Last von seinem Herzen gerollt. „Kann ich auf deine Unterstützung dabei zählen?“ Hardy blickte einen Augenblick lang ins Leere, dann begegnete er wieder dem Blick seines alten Freundes. Er spürte in seinen Worten- und noch mehr in ihm selbst- wieder jenen Elan, mit dem er damals seine Karriere begonnen hatte, und der erst verschwunden war, als ihn die höfischen Regeln und Etiketten hatten erstarren lassen. Hardy verstand nicht viel von Politik; sein Metier war die Energie, die Waffen stark und Escutcheons wirkungsvoll machte. Aber jemanden, der so sprach, konnte er nur vertrauensvoll auf einem auch gefahrvollen Weg folgen. Die Verwirrung auf seinem Gesicht schwand, und das Lächeln wurde fest und klar darauf. „Du kannst auf mich zählen, Jan. Was immer notwendig- “ Ein schriller Ton ließ beide herumfahren, Hardy noch mehr als Gildenstern. Sean Hardy eilte zum Pilotenplatz und dem Gerät, das dem Piloten die Richtung des Signals verdeutlichen sollte. „Was bedeutet das?“ hörte er Gildenstern hinter sich fragen. Sean Hardy reagierte nicht gleich. Sein konzentrierter Blick glitt über die Vielzahl an Skalen, über die jäh tanzenden Nadeln und die kleinen Glühdrahtlampen, die in hektischen Folgen aufblinkten. In seinem Kopf fügte er diese chaotische Ansammlung von Messdaten zusammen, und ein klares Ergebnis erwuchs daraus. Jetzt erst drehte er sich zu Gildenstern um, der bereits ungeduldig auf die Antwort wartete. „Sie sind ganz in der Nähe“, sagte er so leise, dass man ihn über das Brummen der Maschinen kaum hören konnte. Gildenstern entnahm diese Aussage aber bereits seinem zufriedenen Gesichtsausdruck, woraufhin ein unheimliches Lächeln in seinen Mundwinkeln glänzte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)