Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 53: ------------ In den Korridoren des Palastes, in denen Modestus‘ Schritte und die seines Begleiters lange nachhallten, waren kaum noch Angehörige der Palastgarde zu sehen. Entweder hatten sie mit Gildenstern die Stadt verlassen, oder sie waren einer Fronteinheit zugeteilt worden, wie Major Bruckstein wusste. „Ähm, eure Hoheit, ich wollte…“ „Reden Sie nur, Major“, erwiderte Modestus, der mit weiten, selbstsicheren Schritten einen bestimmten Ort im Palast ansteuerte, in jovialem Tonfall. Bruckstein trippelte eilig hinter ihm her. Es wirkte, als wollte er vermeiden, seinem Kaiser ungebührlich nahezukommen, um zugleich aber bei zu großer Entfernung eine drakonische Bestrafung zu befürchten. Er räusperte sich nochmal, um dann sein Anliegen vorzutragen. „Eure Hoheit sind wirklich großzügig, dass… dass Ihr mir erlaubt, hier im Palast euch zu dienen, und nicht… nicht an der Front, wie es Minister Gildenstern beantragt hat.“ Modestus winkte beiläufig ab und schüttelte den Kopf mit einer Miene voller Genugtuung. „Hier kann ich Sie am besten brauchen, und was Gildenstern anbetrifft- “ Sein Gesicht veränderte sich. Ein Schatten breitete sich darauf aus, als würde er nur allmählich eine Kränkung aus einer unerwarteten Richtung verarbeiten. „Der gute Gildenstern hat in letzter Zeit großen Eifer gezeigt, was sein Amt betrifft… Zu großen, manchmal.“ Bruckstein nickte eifrig und achtete nach wie vor darauf, genau drei Schritte hinter seinem Kaiser zu gehen, nicht weniger, nicht mehr. Der Sinn dieser Worte entzog sich ihm weitgehend. Sie verrieten ihm nur, dass Gildenstern in der Gunst des Kaisers gesunken war, was ihn, der seit jenem unseligen Vorfall Gildensterns Gunst nicht mehr genoss, hoffen ließ. Die im letzten Moment abgewendete Versetzung an die Front erfüllte ihn immer noch mit unbehaglichem Schauer, und so bemühte er sich, seinen Dienst mehr als nur korrekt auszuüben. Ihre Schritte führten sie mehrere Treppen hinauf bis in den obersten Bereich des Palasts. Diese kahlen Räumlichkeiten gehörten nicht mehr zu den kaiserlichen Gemächern, sondern erfüllten einen ganz anderen Zweck. Niemand am Hof wusste- vor allem nicht Gildenstern- dass der Kaiser dem Tun in diesen Hallen durchaus nicht gleichgültig gegenübergestanden war. Eine breite Tür schwang auf, und ein Spalier Techniker erwartete den Kaiser bereits. Sie alle verneigten sich tief, woraufhin Modestus ihnen zunickte. Am Ende dieses Spaliers befand sich ein riesenhafter Gegenstand, der zur Gänze unter einem Tuch verborgen lag. Bruckstein folgte seinem Kaiser dorthin, und eine kleine Abteilung der Palastwache empfing die beiden dort. Modestus blieb vor dem Gegenstand stehen und wartete. Einer der Techniker sah sich nervös um, als er diese unausgesprochene Aufforderung registrierte, dann strömten sie aus, um verschiedene Abläufe in Gang zu setzen. Einer davon bewegte ein Seil, an dem das Tuch befestigt war, und lüftete den darunter befindlichen Gegenstand. Ein metallener Körper mit stromlinienförmigen Umrissen kam zum Vorschein. Sofort öffneten Techniker Luken und machten sich daran zu schaffen. An vielen Stellen wirkte die Verkleidung provisorisch. Einige Teile waren mit groben Schweißnähten befestigt, die noch rau und verkohlt dalagen, wie frisch entstandene Narben. In Gedanken ging Modestus noch einmal alle Vorkehrungen durch, mit denen er verhindert hatte, Gildensterns Aufmerksamkeit auf die Arbeit an dem zweiten Prototyp zu lenken. Dieser war es gewesen, der die Konstruktion dieser Maschinen überhaupt erst angeregt hatte. Modestus erinnerte sich mit Kopfschütteln an all seine vordergründigen Bestrebungen, diese Arbeiten zu unterbinden, in die Gildenstern so große Hoffnungen gelegt hatte. Nur mit Mühe hatte er sein Amüsement angesichts der Tatsache, dass er selbst die Arbeiten an diesem zweiten Prototyp ohne Gildensterns Wissen vorantrieb, vor diesem verbergen können. Doch er hatte sich täuschen lassen, und nun stand die Schachfigur auf dem Brett der Intrige bereit. Bald erklang heiseres Motorengeräusch, das wieder erstarb, um erneut anzuspringen, wie das Husten eines Asthmatikers. Nach kurzer Zeit dröhnten die Rotoren in dem metallenen Leib mit annähernder Gleichmäßigkeit, und eine angespannte Erwartung war den Technikern anzumerken. Major Bruckstein hielt sich an der Lehne des Sitzes fest, in dem sein Kaiser vor ihm saß. Seine Finger krallten sich in den Stoff, seine Augen waren fest geschlossen. Ein einzelner Schweißtropfen wurde unter seinem Helm sichtbar, und dieser bekam bald Gesellschaft. Modestus betrachtete das Panorama der Hauptstadt, das an ihnen vorbeizog. Das Dröhnen der Rotoren erfüllte den Innenraum des Flugschiffes und übertönte sein leises Lachen. Einen Moment wunderte er sich über seine Fröhlichkeit und fragte sich, ob er nicht zulange mit diesem Schritt gewartet hatte. Auch stieg jetzt die leise Furcht in ihm hoch, Gildenstern könnte alles verderben, und dass sie zu spät kommen würden. Doch dann stellte sich erneut jene Zuversicht ein, die ihn diesen Plan hatte schmieden lassen und ihn auch jetzt stärkte, wo das mosarrianische Heer unweit der Hauptstadt stand. Er sah die Landschaft unter ihrem Flugschiff vorbeiziehen, sah die Wälder und Weiden seines Landes und die Behausungen seines Volkes, als dessen Retter er in die Geschichte eingehen würde. Und nicht nur das, wie er überzeugt war. Auch als der Gründer eines gewaltigen Reiches, das Galdoria und Mosarria zu einem Land zusammenfassen würde. Nur noch wenige Hindernisse standen zwischen ihm und dem Traum, den selbst sein Vater nicht zu träumen gewagt hatte, den er aber verwirklichen würde. Nur mehr wenige Hindernisse trennten ihn davon … Und eines davon war Jan Gildenstern. Mal gerade und gleichmäßig, dann wieder in schroffen Stufen schlängelte sich das Band an der Felswand entlang, unter den wachsamen Blicken der Gipfel aus Fels und Eis, zwischen denen ihr Weg verlief. Der kaum als solcher zu erkennende Pfad wurde manchmal breit genug, um nebeneinander zu gehen, dann wieder verengte er sich so sehr, dass nur eine Person zugleich sich mit vorsichtigen seitlichen Schritten auf dem brüchigen Felsband entlang bewegen konnte. Iria ging immer noch voran, und Nadim dicht hinter ihr. Doch von jetzt an kannte er kein Zögern und keine Furcht mehr vor dem Abgrund. Hargfried, der hinter ihm folgte, ließ ihn seine Höhenangst vergessen. Ein Blick in sein ständig zwischen forscher Zuversicht und aufflackerndem Irrsinn schwankendes Gesicht genügte, die bodenlos erscheinenden Abgründe vergessen zu machen. Vor ihrer Begegnung mit Hargfried hatte Iria ihm an mehreren Stellen endlos zureden müssen, und nun lief er Gefahr, mit ihr zusammenzustoßen. Endlich wurde der Weg einfacher. Sie gelangten in eine Scharte, von der aus sich braune Wiesen und schottrige Hänge vor ihnen ausbreiteten. Das Reich der Felsen und Abgründe blieb hinter ihnen zurück, was Nadim hörbar aufatmen ließ. Von der Angst vor dem Absturz und danach vor Hargfried ganz mitgenommen, ließ er sich auf dem ersten geraden Stück Erdboden niedersinken. Offenbar machte er auf Iria einen so erbarmungswürdigen Eindruck, dass sie es vermied, ihn gleich wieder anzutreiben, und ihm diese Pause vergönnte. Iria blickte zurück, in die Welt steiler Klüfte und schroffer Felswände, die hinter ihnen lag. Nebelschwaden zogen zwischen diesen hindurch, wie sie von ihrem Platz aus sah, und hüllten das Gebirge, das sie durchquert hatten, in einen dichten Schleier, gleich einer abwehrenden Festung, deren Bewohner keine Gastfreundschaft kennen. Dann richtete sie den Blick auf die Wiesenhänge, die unterhalb der hier beginnenden Geröllhalden begannen. Auch wenn das Gras braun und verdorrt war, so erfüllte sie dieses Bild doch mit Zuversicht, nachdem sie solange kein Anzeichen von Leben gesehen hatte. Sie wandte sich von den anderen ab und atmete erleichtert auf. Als sie sich wieder im Griff hatte, wandte sie sich Hargfried zu, der mit einem kühnen und auch leicht verwirrten Blick die Hänge vor ihnen betrachtete. „Und Sie sind sich sicher, dass die anderen in Ordnung sind?“ fragte sie ihn und wiederholte so die Frage, die sie ihm schon bei ihrem Zusammentreffen vorhin gestellt hatte. „Oh ja“, antwortete er und nickte eifrig. „Große Ritter hätten aus diesen Leuten werden können, vor allem aus dem Jungen.“ „Sie meinen Dorian“, sagte sie leise und trat zu Nadim, der wie erschlagen im Geröll lag. „Ja, ich war sehr überrascht von ihm. Er könnte aus unserm Herzogtum stammen, so tapfer war er“, erzählte Hargfried überschwänglich und gestikulierte dabei lebhaft. Iria beugte sich über Nadim und sah, dass er schlief. „Das ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt“, flüsterte sie ihm zu. „Wir können hier nicht übernachten.“ Er antwortete mit einem gedehnten Murren. Sie ergriff ihn an einer Hand und zog ihn hoch. Nadim schüttelte den Kopf und fügte sich in sein Schicksal. Hargfried marschierte an ihnen vorbei mit schwungvollen Bewegungen wie ein Feldmarschall aus dem Karneval, wobei ihn Iria mit einem mitleidigen Blick bedachte. Eigentlich wollte sie froh sein, die anderen losgeworden zu sein. Sie hatte sich vorgenommen, das Feindbild, das sich aus den kriegführenden Parteien, die ihre Heimat bedrohten und auch aus allen anderen Menschen, die Gewalt anwandten, zusammensetzte, zu behalten und wie einen Schild vor sich zu führen. Wer Gewalt anwendet, der kommt auch irgendwann durch sie um, so lautete ihre Ansicht, und so jemand war nicht besser als die Soldaten, die ihre Heimat zerstörten. Auch auf diesen Sarik, diese Brynja und auf Dorian wollte sie dieses Urteil anwenden- doch es gelang ihr nicht. Sie ertappte sich dabei, sich Sorgen um sie zu machen, und wieder verspürte sie das Bedürfnis, Hargfried nach diesen Menschen zu fragen, die sie eigentlich nie wiedersehen wollte. Verwirrt von diesen Regungen, konzentrierte sie sich wieder darauf, Hargfried, der voraus ging, nicht aus den Augen zu verlieren, sowie darauf zu achten, dass Nadim nicht zurückfiel. Ihr Blick heftete sich auf den jungen Mann in dem Harnisch, der mit stolzer Haltung voranschritt und dabei genauso wenig um ihr Ziel wusste wie sie alle. Iria ging in der Entfernung von etwa ein Dutzend Schritten hinter Hargfried, und Nadim gleich hinter ihr. Immer wieder schaute sie nach ihm, um sicherzugehen, dass er sich nicht einfach auf einen Stein setzte und einschlief. Sie sah ihm die Müdigkeit an, die nicht so sehr von den körperlichen Strapazen, als vielmehr von der nervlichen Anspannung kam. Schon als Kind war er so gewesen, erinnerte sie sich nun. Gern und lang hatte er immer von Diebstählen und Beutezügen erzählt, und die Ausschmückungen seiner Geschichten hatten alle in ihrer Gruppe in den Bann gezogen. Er wirkte dann wie ein großer Dieb, wie ein Wenzelstein eben. Doch wenn es dann an die Tat ging, wenn es das Tagessoll zu erfüllen galt, dann drängte er sich wahrlich nicht vor. Zu gern überließ er es dann anderen, das Notwendige zu tun. Und wenn er tatsächlich mal nicht umhin kam, dann geschah dies immer unter Schwitzen und Zittern. Aber auch der misslungenste Beutezug hatte ihn nie in dem Enthusiasmus, sich seinen Ahnen gegenüber als würdig zu erweisen, gebremst. Es war gerade so, dachte sich Iria, als würde ihn das Drumherum und die Ahnung glorreicher Diebestaten mit neuem Mut erfüllen, ganz egal wie sehr er mit seinen Nerven bei alltäglichen Diebstählen wieder versagt hatte. „Sag mal, Iria…“, hörte sie hinter sich. „Ja?“ „Nicht, dass ich Misstrauen gegenüber unserem Führer zeigen will- er ist ja schließlich nur vollkommen verrückt“, fügte er leiser hinzu. „Aber wohin gehen wir eigentlich?“ Sein Gesicht wurde ernst. Iria blickte ihn missmutig und auch verzagt an. „Er hat einen Escutcheon, ich schätze, er weiß zumindest die Richtung.“ Hargfried lief ein Stück weiter unten auf dem von Grasflecken durchzogenen Geröllfeld mit abgewinkelten Armen, die lebhaft mitschwangen, bergab. Seine Bewegungen waren voller Elan, als wäre er auf dem Weg zum Bäcker um die Ecke, um Brötchen für das Frühstück zu holen, und nicht etwa, als wäre er auf der gefahrvollen Suche nach einem apokalyptischen Objekt. „Ja, aber…“, begann Nadim von Neuem, zog dabei die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken und seufzte unbehaglich dabei. Iria las in seinen Augen deutlich, was er sagen wollte und was auch ihr am Vernünftigsten vorgekommen wäre. Wir sollten auf die anderen warten, flüsterte ihr eine Stimme zu und sprach damit aus, was weder Nadim noch sie offen sagen wollte. Eine andere jedoch entgegnete Sie wollen das Maleficium, und du willst es auch. Sie sind bewaffnet und du nicht. Wer, glaubst du, wird es bekommen? Iria ärgerte sich über ihre innerliche Zwietracht, gerade jetzt in dieser Situation, in der es galt, besonnen zu handeln. Sie atmete betont tief durch, als könnte ihr dies die Entscheidung für ihr weiteres Vorgehen erleichtern, und wandte sich wieder dem Hang zu, der in ein von Nebel erfülltes Tal führte. Hargfried war mit seinen weiten Schritten schon ein ganzes Stück unterhalb von ihnen. Er ging gerade zwischen mehreren hochaufragenden Felsblöcken hindurch, die wohl vor ewigen Zeiten aus den Wänden oberhalb von ihnen ausgebrochen und hier hinunter gerollt waren. Sie blinzelte, als sie eine Bewegung im Nebel erkannte. Zuerst glaubte sie an eine Täuschung ihrer müden Augen- doch die Bewegung wiederholte sich an mehreren Stellen. Es waren Gestalten, Männer mit Waffen. Von mehreren gut geschützten Stellen kamen sie hervor, als hätten sie dort bereits gelauert- und jetzt kreisten sie Hargfried ein. „Pass auf!“ schrie Iria so schrill, dass Nadim zusammenzuckte. Ihr Ausruf hallte von den Felswänden wider, und sie wunderte sich selbst über die Lautstärke. Hargfried drehte sich um, wie sie von ihrer erhöhten Position sehen konnten. Einen schnellen Atemzug später wurde er bereits angegriffen. Metall traf Metall, und das Geräusch vervielfachte sich als bedrohliches Echo in den schroffen Wänden um sie herum. Nadim und Iria blickten sich an. Angst sprach aus ihren Augen und sprang zwischen ihnen hin und her wie zwischen zwei Spiegeln. Ohne ein Wort zu sagen, wussten beide, dass eine Flucht auf das brüchige Sims, das bereits ohne Verfolger gefährlich genug gewesen war, aussichtslos war. So duckten sie sich zwischen die Steine des Hanges, wie verängstigte Tiere, die hoffen, der gefräßige Räuber möge sie übersehen, und beobachteten vor Angst gelähmt, wie Hargfried mit den unbekannten Angreifern um sein Leben kämpfte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)