Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 33: ------------ Dichte Wolken hingen am Himmel über der Stadt Galdoria. Die Sonne hatte sich von ihren Straßen und Dächern abgewandt, und allmählich errang die Finsternis die Oberhand über die Stadt. Längst wärmte die Sonne das Pflaster der vielen Gassen und Straßen nicht mehr, doch bis die Gaslaternen ihren trüben Schein über sie werfen würden, dauerte es noch etwas. Der Strom der Menschen versiegte. Jeder, der ein Zuhause hatte, suchte es nun auf und floh vor der einsetzenden Dunkelheit dorthin. Jene, die keines hatten, suchten den Schutz enger Gassen und die Wärme, die von den in den heruntergekommenen Vierteln allgegenwärtigen Müllbergen abgegeben wurde. Gebückt gehende und oft auch wankende Gestalten zogen ihre Lumpen enger um ihre von Krankheit und Mangel gezeichneten Leiber. Ihre Blicke waren verengt auf die nächsten Schritte, auf eine mögliche Zuflucht, auf alles, was ihr jämmerliches Dasein würde lindern können. Wie menschliche Schatten bewegten sich diese Gestalten durch die armseligen Viertel dieser Stadt, als wären sie tagsüber vom Sonnenschein geworfen worden, um nun als Gefangene der Dunkelheit umher zu irren. Zwei Gestalten unter den Vergessenen der Stadt, die an ihrem Wohlstand keinen Anteil hatten, unterschieden sich von ihnen. Nicht durch ihre zerschlissenen, schmutzigen Umhänge, sondern durch die Rüstungsteile, die sie darunter verborgen trugen, vor allem aber durch Haltung und Gang, welche deutlich machten, dass sie nicht aus diesem Elend stammten. Einer der beiden hielt einen Apparat in Händen, der die Richtung ihrer Schritte vorzugeben schien. Immer wieder wechselten sie diese und blieben dann für lange Momente stehen, in denen einer von beiden darauf konzentriert war, die Anzeigen des Apparates zu entschlüsseln, während der andere sich mit angespannter Erwartung umblickte. Ihr Weg führte sie auf diese Weise in eines der ärmlichsten Viertel der Stadt. Während der eine von den beiden immer noch seine Schritte nach dem Gerät ausrichtete, das wie ein unentschlossener Kompass den eigentlichen Kurs nur nach und nach verriet, blieb der andere stehen und blickte an einer der abbröckelnden Hausfassaden hinauf. Dort hing, schief und vom Rost fast bis zur Unkenntlichkeit zerfressen, ein Metallschild. Darauf stand: Bucket-Weg. Schließlich blieb einer von beiden stehen. Die Nacht war längst hereingebrochen, und nur noch wenige der besitzlosen Menschen irrten durch die ausgestorbenen Gassen und Straßen auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht. Der andere von den beiden, dessen Geduld schon beinahe erschöpft schien, blickte zu seinem Begleiter. Dieser musterte immer noch den Apparat in seinen Händen und schüttelte den Kopf, wie ein Arzt, der feststellt, dass er für einen Patienten nichts mehr tun kann. „Weiter kann ich die Spur nicht verfolgen“, sagte Sean Hardy. „Sie verliert sich hier.“ Jan Gildenstern nickte langsam. Dabei glitt sein Blick an dem Gebäude empor, vor dem sie Halt gemacht hatten. Es mochte einmal eine Niederlassung der Stadtverwaltung gewesen sein, vermutete er. Doch jetzt war es Teil eines der verarmten Vierteln, in denen der Abschaum von Galdoria wie Ratten in alle Löcher und Unterschlupfe gekrochen war. Diebe, Bettler, Halsabschneider und Trunkenbolde bewohnten diese Viertel und verteidigten ähnlich wie die allgegenwärtigen Ratten ihre eroberten Behausungen mit Zähnen und Krallen. Gildenstern lächelte zufrieden. Er merkte sich das Gebäude, dann verließen sie diesen düsteren Ort wie Schatten, die der Anbruch des Tages vertreibt. Einige Stunden später saß Jan Gildenstern wieder in seinem Arbeitsraum. Sean Hardy saß ihm gegenüber. Ihm fiel es wesentlich schwerer, seine Müdigkeit zu verbergen. Die Morgenstunden nahten, und sie hatten beinahe die gesamte Stadt durchquert. „Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?“ Hardy schüttelte den Kopf und gähnte dabei. „Die Spuren verlieren sich an der Stadtmauer. Die Signatur eines gewöhnlichen Escutcheons zerfällt nach einer gewissen Zeit, wie ich sagte.“ „Gut. Das soll uns nicht weiter kümmern“, erwiderte Gildenstern und nickte zufrieden. „Ihren weiteren Verlauf kannst du aber verfolgen?“ „Nach dem Zwischenfall mit dem Maleficium sind sie völlig verändert“, schilderte Hardy, und mit einem Male war keine Müdigkeit auf seinem Gesicht mehr sichtbar. Begeisterung leuchtete auf seinen Zügen. „Die Signatur, die sie jetzt hinterlassen, leuchtet wie ein Feuer in der Nacht. Wir sollten aber nicht allzu lange zögern, irgendwann zerfällt auch diese.“ „Das werden wir nicht. Ruh dich nun aus, wir werden bald aufbrechen. Ich zähle auf deine Hilfe.“ „Die bekommst du“, erwiderte Hardy lächelnd und erhob sich. „Sean?“ Hardy blieb in der Tür nochmal stehen und wandte sich um. „Unser Land ist dir zu Dank verpflichtet“, sagte Gildenstern mit leiser Stimme. Hardys Gesicht wurde ernst, daraufhin breitete sich wieder ein unverbindliches Lächeln darauf aus. Danach ging er. Gildenstern saß immer noch an seinem Schreibtisch, und sein Blick war starr und abwesend. Bis ihn, kurze Zeit nachdem Hardy den Raum verlassen hatte, ein Klopfen an der Tür aus den Gedanken riss. Ein Soldat der Palastwache trat ein. „Es ist alles bereit“, begann dieser mit respektvoller Stimme. „Wir warten nur noch auf Ihr Zeichen.“ Gildenstern blickte ihn einen Moment lang wortlos an. Der Soldat in der Tür begann, von einem Bein auf das andere zu treten; seine ganze Körpersprache verriet, dass er nur darauf wartete, diesen Ort wieder verlassen zu können. Letztendlich nickte Gildenstern ihm zu. Der Soldat verneigte sich knapp, um wieder zu verschwinden. Das unheilvolle Geschehen war nun unwiderruflich im Gang. Ein Tor an einem Nebengebäude des Palasts öffnete sich, und ein Trupp strömte ins Freie. Ihre Stiefel trafen in exaktem Rhythmus die Pflastersteine unter ihnen, und ihre Richtung war genauso klar und unvermeidlich. Ein Dutzend Personen bewegte sich nun mit kraftvollen Schritten durch die schläfrige Stadt. Sie alle trugen lange Umhänge, die ihre Rüstungsteile und Waffen verbargen. Nachtwächter begegneten ihnen, doch anstatt diese verdächtigen, zumindest aber ungewöhnlichen Personen zu kontrollieren, wichen sie vor ihnen zurück. Unter den Umhängen erkannten sie die Insignien der Palastwache, doch das war nicht der eigentliche Grund für ihr Zurückweichen. Es war eher, als würden diese Soldaten eine Bugwelle aus greifbarer Dunkelheit vor sich herschieben, die ihnen ihre Absicht verlieh. So wandten sich die Nachtwächter und auch alle anderen Personen, denen sie begegneten, ab und verbargen ihre Augen vor diesen in das Schwarz der Nacht getauchten Gesichter. Sie erreichten ihr Ziel und nahmen mit tödlicher Präzision ihre Positionen ein. Schnell war das Gebäude umstellt. Der Vordereingang wie auch der Hintereingang. Als jede Möglichkeit zur Flucht ausgeschlossen war, gab der Anführer des Trupps ein Zeichen. Ein anderer Soldat nickte, dann traf ein Stiefel die Tür. Sie flog krachend aus dem Rahmen; sofort strömten die Soldaten nach, wie Wasser, das durch einen Damm bricht. Mit schweren Schritten eilten sie die breite Treppe hoch. Klingen glitten aus ihren Scheiden und blitzten im Licht einer einzelnen Glühdrahtlampe auf. Weitere Türen wurden aufgestoßen. Schreie erklangen. Hektisches Getrappel, von Panik erfüllt. Weitere Schreie erfolgten, Möbel wurden umgestoßen, Menschen rannten um ihr Leben. Die Soldaten gingen ohne Gnade und ohne Zögern vor. Sie bildeten den innersten Kreis der Palastwache; Gildenstern persönlich hatte ihre Ausbildung überwacht. Nicht nur auf ihre überragende Stärke im Kampf war Wert gelegt worden, sondern vor allem, dass sie ohne Vorbehalte töten konnten. Auch jetzt, wo sie in dieses Haus eingedrungen waren und junge Menschen, fast noch Kinder, hetzten und jagten. Ihnen flogen Möbelstücke entgegen, Türen wurden vor ihren Nasen zu geworfen. Doch die Wurfgeschosse zerschlugen sie mit ihren Klingen, und alle übrigen Hindernisse überwanden sie mit Entschlossenheit auf ihrer Jagd nach diesen Menschen. Es waren vier, soweit sie das im Zwielicht erkannten. Drei Jüngere, und ein Älterer. Der Anführer stand mitten im Raum und hielt in der Linken eine Fackel, in der Rechten sein Schwert. Seine Untergebenen durchsuchten die restlichen Räume, um sicher zu gehen. Sein Blick glitt über die zerstörte Einrichtung, über die umgeworfenen Schränke, über die zerstörten Türen. Und über das Blut. Einer seiner Männer trat in den Raum. Ihm folgten nach kurzer Zeit die anderen, die die nähere Umgebung des Gebäudes sondiert hatten. Sie verständigten sich durch Nicken und Blicke. Worte gebrauchten sie kaum. Es war alles getan, was sie tun konnten. Mehr zählte nicht. Einer von ihnen wischte sein Schwert mit einem Tuch ab, das er dann auf den Berg von Decken und Matratzen warf, den sie in der Mitte des Raums aufgeschichtet hatten. Der Blick des Anführers traf einen Körper, der vor einem der Fenster lag. Die Leiche war von rundlichem Körperumfang, und auf dem Kopf trug sie eine Lederkappe und eine Schweißerbrille. Alle ihre Wunden, die schnell zu ihrem Tod geführt hatten, befanden sich auf ihrem Rücken. Als hätte sie etwas schützen wollen… „Unser Befehl…?“ Der Anführer wandte sich zu dem Soldaten um, der an ihn herantrat. Ihre Blicke trafen sich, ihre starren Gesichtszüge verrieten aber keinen ihrer Gedanken. „Der Befehl lautete, jemanden von ihnen zu verhören, ich weiß.“ Der Soldat blickte an seinem Kommandanten vorbei auf den leblosen Körper, der wie eine achtlos weggeworfene Puppe dalag. „Minister Gildenstern wird nicht erfreut sein.“ „Der Befehl lautete auch, niemanden fliehen zu lassen.“ Der Soldat schaute wieder auf. Seine Backenknochen bewegten sich hinter seinen schweißglänzenden Wangen, ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos. „Wichtiger war aber, keine Spuren zu hinterlassen. Weder Lebende…“ Er blickte wieder auf die Leiche. „ …noch Tote. Verschwinden wir.“ Der Kommandant wandte sich von seinem Untergebenen ab, auf dessen Gesicht für einen kurzen Moment die Pein des Versagens aufleuchtete. Schnell kehrte aber wieder die Fassade der Ausdruckslosigkeit zurück. Er warf die Fackel auf den Berg Matratzen und Decken, und im selben Moment setzten sich alle seine Männer in Bewegung, wie von einem wortlosen Befehl alarmiert. Bald qualmte das Feuer aus allen Fenstern. So verließ der Trupp den Bucket-Weg, nachdem sie das befohlene Unheil überbracht hatten. Dorians Füße waren wie einzementiert. Die Waffe in seinen Händen kam ihm so nutzlos vor wie eine Weidenrute und gänzlich ungeeignet, um sich damit gegen diese geisterhaften Erscheinungen zu erwehren. Lachende und schreiende Fratzen zogen an ihm vorbei. Überlebensgroße Schatten an den Wänden, die ihn zur Gänze einhüllten und die er wie feuchten Nebel auf seiner Haut spürte. Jede dieser Berührungen ekelte und entsetzte ihn, doch seine Füße waren gelähmt und zur Flucht unfähig. Selbst seine Lunge versagte schließlich den Dienst, was ihn mit keuchenden Lauten nach Luft ringen ließ. Nicht einmal seine Augenlider gehorchten ihm, und so war er gezwungen, dem Schrecken ins Gesicht zu sehen, der wie eisiges Wasser in seinen Verstand einsickerte, um mit beißender Kälte seine Seele zu versengen- „Nein!!“ Jeder Atemzug schmerzte mehr, umso gieriger er nach Luft schnappte. Endlich ließ der Druck in seiner Lunge nach; er befand sich wieder im Zugabteil. Es war leer, bis auf ihn. Die Tür war geschlossen, und draußen auf dem Gang war niemand zu sehen. Niemand hatte wohl etwas von seinem lebhaften Alptraum mitbekommen. Vor dem Fenster zog immer noch die monotone Graslandschaft vorbei; die herannahende Nacht senkte sich nun über die Ebene. Dorian ließ sich in den Sitz sinken und spürte sein Herz, dessen Pochen langsam nachließ. Er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Dabei wagte er es aber nicht, die Augen erneut zu schließen. Zu lebendig war noch der Eindruck des Traums mit den Erinnerungen aus der Schatzkammer des Kaiserpalasts. Die Aussicht aus dem Fenster langweilte ihn jedoch mit der Zeit, und so begann er zu überlegen, wie er die trüben Gedanken verwischen könnte. Die Innenbeleuchtung der Waggons erwachte flackernd. Dorian schlenderte ziellos durch die Gänge. Dabei begegnete er Nadim und Iria, denen die Zeit ebenfalls lang geworden war. Sie erzählten ihm von ihrer Begegnung mit den kaiserlichen Soldaten, die ebenso im Zug waren, und dass scheinbar keine Gefahr von ihnen ausging. Sie ermahnten sich gegenseitig zu unauffälligem Verhalten. Und das mit einem Eifer, als könnte tatsächlich ihr Verhalten sie in dieser brenzligen Situation schützen, und nicht etwa nur eine zufällige Begebenheit, die dafür gesorgt hatte, dass diese Soldaten entweder keinen Auftrag zur Fahndung nach ihnen hatten, oder eben keine eindeutigen Beschreibungen ihrer Personen. Die beiden deuteten an, sich wieder in ihr Abteil zu begeben, um dort zu ruhen. Doch Dorian behagte der Gedanke weniger, und das trotz der bald hereinbrechenden Nacht. Zu sehr fürchtete er eine Wiederkehr seines Alptraums, würde er sich jetzt schon zur Ruhe legen. So schlenderte er weiter durch die Waggons und beobachtete die Menschen. Sie schienen im Gegensatz zu ihm ruhig schlafen zu können. Kinder schmiegten sich an ihre Eltern und Erwachsene an ihre Taschen, in denen Dorian Wertvolles vermutete. Doch der Gedanke, etwas zu stehlen, kam ihm gar nicht bei diesem Anblick. Durch seine Beteiligung an der Suche nach dem Maleficium erschien es ihm, dass er nun mehr als genug für ein ganzes Diebesleben auf dem Kerbholz hatte. Dieses Gefühl war etwas Neues für ihn. Ihre Opfer waren immer vermögende Personen gewesen, und wenn Dorian es recht bedachte, wären weniger vermögende Personen auch kein lohnendes Ziel für ihre Diebstähle gewesen. Doch hier war es etwas anderes. Es gab wohl kaum eine vermögendere Person auf der Welt als den Kaiser von Galdoria, zumindest kannte er keine. Und, nach Sariks Worten, war das Maleficium ebenfalls bereits gestohlen, als es in den Schatzkammern des Palastes gelandet war. Und doch befielen Dorian nun Skrupel, geradeso als handele es sich hier um keinen Gegenstand, sondern eher eine Person, die man nicht einfach stehlen konnte. Dieser Gedanke beunruhigte ihn zusätzlich, und er schob ihn auf seinen Alptraum von zuvor, der ihm noch lebhaft in Erinnerung war. Er versuchte sich abzulenken, indem er an ihre Mitreisenden dachte, an Sarik, an den offenbar verrückten Hargfried und die geheimnisvolle Brynja. Über sie wusste er am wenigsten; er nahm sich vor, ihr einige Fragen zu stellen. Er gelangte noch durch mehrere Waggons, bis er am Letzten ankam. Von dort aus sah er auf die Lok. Hier gab es nur eine schmale Plattform im Freien, aber keinen Weiterweg, weshalb er umkehrte. Die Nacht brach herein, und immer noch versetzte das gleichmäßige Rattern die Waggons in sanftes Zittern. Dorian entdeckte nun kaum noch wache Menschen in den Abteilen. Fast alle schliefen; ihre Gesichter waren so friedlich, dass Dorian nicht vermutet hätte, dass diese Leute vor einem Krieg flohen. Schließlich kam er wieder zu ihrem Abteil, in dem Iria, Nadim und auch Hargfried schliefen. Die beiden an einem Ende, und Hargfried am anderen, als wären sie ihm bewusst ausgewichen. Doch nun schliefen alle, und ihre Gesichter mit den halboffenen Mündern zeigten kein Misstrauen mehr, sondern nur noch einen friedvollen Ausdruck. Dorian war aber noch nicht müde. Eine Weile stand er vor der Abteiltür und überlegte. Er konnte sich nicht dazu aufraffen, einzutreten; fast spürte es sich wie die Befürchtung an, diese friedliche Szenerie zu stören. So ging er weiter, ohne Ziel und ohne Absicht, und folgte so dem Gang durch die Waggons. Dabei begegnete er sogar den kaiserlichen Soldaten, von denen Nadim und Iria erzählt hatten. Es fiel ihm aber überraschend leicht, ihnen gegenüber Sorglosigkeit vorzutäuschen. In der Tat schenkten sie ihm keine Beachtung. Es wirkte eher, als würden diese Soldaten mit ihren angespannten Gesichtern irgendetwas erwarten. Dorian sah ihnen hinterher, wie sie ihren Patrouillengang fortsetzten, und erst jetzt, wo sie allmählich außer Sichtweite gerieten, schauderte es ihn bei dem Gedanken, gefasst zu werden. Mit einer unerklärlichen Verzögerung machte sich dieses Gefühl breit in ihm, und so ging er schnell weiter, als könnte er es auf diese Weise hinter sich lassen. Er gelangte wieder an das Ende des Zuges, wo die Lok am vordersten Waggon hing. Dorian trat auf die Plattform und spürte sofort die überraschend warme Nachtluft auf den unbedeckten Armen. Der Fahrtwind wirkte angenehm erfrischend, und erst jetzt merkte er, wie abgestanden die Luft in den Abteilen gewesen war. Die Landschaft lag unter dem tiefblauen Mantel der Nacht, und die Lampen an den Waggons blendeten seine Augen, sodass es auf ihn wirkte, als führe der Zug durch eine Leere, durch einen sternenlosen Nachthimmel. Dorian lehnte am Geländer, während seine Gedanken wieder zu seinen Mitreisenden wanderten. Dabei fiel sein Blick auf eine schmale Leiter, die neben der Waggontür montiert war und auf das Dach führte. Aus einem Impuls heraus erklomm er sie behände und stand Momente später auf dem Waggondach. Im ersten Moment lehnte er sich gegen den Fahrtwind und fürchtete, abzustürzen. Doch schnell gewöhnte er sich an den sich leicht bewegenden Untergrund. Es erinnerte ihn daran, wie er als Kind gelernt hatte, über die Dächer Galdorias zu balancieren, und sein Können in dieser Disziplin machte seine Schritte über das Waggondach schnell sicher und behände. Das Licht aus den Waggonfenstern drang nur schwach ins Freie, und seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und überblickte die Landschaft, die er nun klarer erkannte. Sie hatte sich verändert. Die Bäume, die zuvor vereinzelt auf den grasigen Flächen standen, waren nun seltener und dann nur noch verkrüppelte Reste früheren Bewuchses. Die Wälder, die vorher den Horizont mit einem sattgrünen Saum versehen hatten, waren nicht mehr erkennbar, und der Boden selbst war von anderer Beschaffenheit als zuvor. Er war hell, er leuchtete fast. Schließlich merkte Dorian, dass das Gras fast gänzlich verschwunden war und Sand diese Ebene bedeckte. Immer noch balancierte Dorian über die Dachmitte der Waggons, und einmal tat er sogar einen Sprung von einem Dach zum Nächsten. Allmählich gewann der Übermut die Oberhand. Er blickte während seines Laufs über die Waggondächer gar nicht mehr auf seine Füße, sondern nur noch auf die trockene Ebene, die sich links und rechts von ihm ausbreitete. Ein Gefühl wie das eines Vogels, der seine Schwingen ausbreitet und losfliegt, überkam ihn, und damit eine Ahnung der Freiheit, die es bedeuten musste, schwerelos über endlose Ebenen dahinzugleiten. Er lachte, und seine Schritte wurden immer leichter. Wieder sprang er von einem Waggondach zum nächsten, diesmal ohne hinzusehen. Diesen Rausch kannte er von ihren Jagden über die Dächer von Galdoria, und er blendete jede Gefahr aus. Immer wieder sprang er während des Laufens, und wenn er dann den Zug unter sich dahingleiten sah, glaubte er fliegen zu können. Dann richtete sich sein Blick wieder auf die sandige Ebene, die sie durchfuhren. Das Hochgefühl pochte in seinen Ohren und ließ ihn jedes Risiko vergessen. Das Waggondach unter sich nahm er in der Dunkelheit kaum noch wahr. Er glaubte, im rauschenden Wind weitere Schritte außer den seinen zu hören, doch darauf achtete er nicht weiter. Der Zug fuhr eine leichte Biegung, ein Windstoß erfasste ihn- und er fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)