Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 26: ------------ Dorian erhaschte einen näheren Blick auf den alten Mann, der, von Brynja und Sarik umringt, da stand und noch leicht zitterte. Seine Hand hielt den Gehstock verkrampft, und sein Gesicht war leichenblass. Er war aber unverletzt, wie Dorian erkannte, und der Schrecken auf seinem Gesicht wich allmählich einem Ausdruck der Dankbarkeit. „Beim heiligen York, das war knapp, das war knapp…“, murmelte der alte Mann, während er seine Fassung zurückerrang. Dorian trat zwischen Brynja und Sarik. Der Blick des Mannes traf ihn ebenso, und das mit einer Mischung aus Erleichterung und erwachender Neugier. Dorian betrachtete ihn näher und sah lebhafte Augen in einem faltigen, wettergegerbten Gesicht. Ein dichter, grauer Bart verbarg Kinn und Mund völlig. Auf seinem kahlen Kopf hingegen fand sich nur dünner, ebenso grauer Flaum. Er trug derbe Beinkleider und eine wildlederne Weste, die die aufgekrempelten Ärmel seines Hemdes freilegten. „Sind Sie in Ordnung?“ fragte Sarik und musterte ihn dabei von Kopf bis Fuß, eine Geste, die Dorian über bloße Besorgnis hinauszugehen schien. „Oh ja, ich… ich bin in Ordnung, diese vermaledeiten Biester, diese…“ Sein Schimpfen ging in ein undeutliches Gemurmel über, das in den Tiefen seines Bartes verschwand. Dabei gestikulierte er heftig in Richtung der getöteten Riesenbienen, die ein paar Schritte entfernt lagen. „Elende Ungeheuer, diese… äh…“ Dann blinzelte er und schaute die Personen um sich herum an, als sähe er sie in diesem Moment zum ersten Mal. „Ah! Ich habe mich noch nicht, also… Mein Name ist Benero, Benero Cinna, und wer seid ihr?“ Schlagartig ging seine Miene wieder in einen Ausdruck lebhafter Neugier über, seine Hände zitterten jedoch noch genauso, wenn nicht noch mehr. Sarik und Brynja tauschten einen vielsagenden Blick. „Ich bin Sarik Metharom, und das ist Brynja Peinhild…“, begann er mit bedächtiger Stimme, als würde er jedes Wort auf eine Waage legen, bevor er es aussprach. „Und das ist Dorian- “ „Dorian Alberink!“ rief er dazwischen, als Sarik einen winzigen Moment zögerte. Dabei stellte er sich auf die Zehenspitzen und streckte die Brust heraus. „Ah, sehr schön, sehr angenehm!“ erwiderte der alte Mann. „Ohne euch, ja, ohne euch wäre das übel, ganz übel, äh… ausgegangen. Und die da dahinten?“ Benero Cinna zeigte mit dem Gehstock auf Hargfried, Iria und Nadim, die sich langsam näherten, wobei besonders Nadim einen Bogen um die Kadaver der Riesenbienen machte. „Das? Das sind Iria Halloran und Nadim Wenzelstein“, sagte Dorian schnell, der das Gefühl hatte, es obliege ihm, seine Freunde vorzustellen. Die beiden deuteten eine Verneigung an. Der alte Mann strahlte über sein faltendurchzogenes Gesicht und nickte dabei so heftig, dass sein krauser Bart wippte. „Sehr schön, sehr schön! Und der Bursche da in seinem… seinem Metallkleid?“ Hargfried sah an sich herab, bis er die Umschreibung des Mannes verstand. Dann runzelte er seine Stirn, hob das Kinn an und stellte sich vor. „Hargfried. Vom Herzogtum Lichtenfels.“ „Aus Lichtenfels? Sehr schön, sehr schön!“ erwiderte Benero und nickte abermals so heftig, dass Dorian sich fragte, ob sein Kopf auch entsprechend gut befestigt war. „Wie gesagt, wie gesagt, übel hätte das ausgehen können! Wenn ihr nicht gewesen wärt, dann… dann… wäre ich jetzt vielleicht auch nicht mehr, he, he!“ Dorian und seine Begleiter sahen sich an, während der alte Mann über seinen Scherz lachte. Dann erst entkam ihnen, einen nach dem anderen, ein vorsichtiges Lächeln. „Ja, gut, dass wir gerade in ihrer Nähe waren“, sagte Sarik. Der alte Mann namens Benero stützte sich auf seinen Stock und beugte sich so weit vor, dass Dorian einen Moment glaubte, er müsse ihn auffangen, doch er hielt das Gleichgewicht. Zugleich ließ er seinen Blick nochmal über die Gruppe schweifen, wobei seine Augen voller Neugier funkelten. „Sehr schön, sehr schön! Seid doch meine Gäste! Ihr braucht sowieso ein Quartier, oder wolltet ihr etwa auch bei Nacht reisen?“ „Das ist sehr freundlich, aber- “, begann Brynja, doch Sarik schnitt ihr das Wort ab. Er hob eine Hand in ihre Richtung, wie um sie zu beschwichtigen und sprach mit sanfter, aber zugleich fester Stimme. „Das wäre wirklich zuvorkommend von Ihnen, wenn Ihr uns ein Quartier für diese Nacht zur Verfügung stellen könntet.“ Sein Blick wanderte kurz zu Brynja, die ihn mit zu Schlitzen verengten Augen anfunkelte. „Wenngleich wir Ihnen keine Umstände machen wollen.“ „Aber, aber! Keine Umstände macht ihr mir und meiner Familie!“ erwiderte Benero fröhlich. „Das bin ich euch schuldig, habt ihr mich doch vor diesen Biestern errettet! Es ist auch… es ist auch genügend, ja, genügend Platz in unserem Haus…“, fuhr er fort, und seine Stimme nahm einen traurigen Klang an. Er senkte den Blick unter seine dichten, grauen Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Mehrere Momente verharrte er in dieser nachdenklichen Pose, bevor er weitersprach. „Aber kommt nur, kommt nur! Ihr seid alle meine Gäste!“ Die Gruppe um Dorian folgte dem alten Mann auf dem Weg in die kleine Stadt. Sarik ging dabei neben ihm her, und Dorian blieb dicht hinter ihnen. So hörte er ihr Gespräch mit. „Diese Tiere sind nicht ungefährlich. Warum wart Ihr ohne Begleitung hier draußen, wenn sie sich so nahe an die Siedlung heranwagen?“ „Ach, das, ach, das. Ich wollte nur noch nach den Obstbäumen sehen, wisst ihr? Und ja, es ist traurig, es ist traurig…“ Wieder verfiel er in nachdenkliches Schweigen, bevor er merkte, dass er die Frage gar nicht beantwortet hatte. „Ach ja, die jungen Männer, sie sind alle im Krieg, wisst ihr? Auch mein Sohn Rothgar, ach ja…“ Sie erreichten nun die eigentliche Stadt, deren Beginn gar nicht so klar festzulegen war, wie Dorian es erwartet hatte. Es gab keine Stadtmauer wie jene, die Galdoria umgab, sondern die Häuser begannen einfach in der Nähe der Bepflanzungen und standen zum Ortskern hin allmählich dichter beisammen. Hier war es ganz anders als in der Hauptstadt, wo jeder Fußbreit genutzt wurde und kein Schritt Boden unverbaut blieb. Es war hier eher so, als hätte jemand die einzelnen Bauten mit ihren weit herabgezogenen Dächern und den Windrädern, die sich auf allen Dächern fanden, nach Belieben verteilt, um ein möglichst hübsches Gesamtbild zu erzeugen. „Ich verstehe trotzdem nicht, wie diese Ungeheuer sich so nahe an eure Ortschaft heranwagen“, sagte Brynja nun. Ihr Blick traf dabei aber nicht den alten Benero, sondern Sarik, und eine unausgesprochene Herausforderung lag darin, wie Dorian sah. „Oh ja, es ist schon traurig… jetzt, wo die meisten jungen Männer weg sind, ist es schlimm, sehr schlimm!“ antwortete Benero und fuchtelte abermals mit seinem Gehstock herum, der ihm mehr als Halt für seine zitternde Hand diente denn als Gehhilfe. „Die jungen Männer unserer Stadt haben gut aufgepasst, oh ja, sie haben Dienste eingeteilt, welche diese Ungeheuer vertrieben haben! Aber jetzt, schlimm, sehr schlimm…“ Sie gingen einen Pfad entlang, der in gewundener Linie zwischen den Behausungen der Ansiedlung hindurchführte. Dorian sah Gemüsebeete hinter den gedrungenen Backsteinbauten, Umzäunungen, in denen Ziegen an Strohballen fraßen, und auch vereinzelt Einwohner, die mit Sensen, Harken und anderem Werkzeug auf den Schultern in ihre Häuser zurückkehrten. Es waren fast ausschließlich Frauen, Kinder und ältere Männer, wie er feststellte. Schließlich kamen sie zu einem Haus, das offenbar dem alten Mann gehörte. Es war ein nach einer Seite offener Vierkanthof, vor dem in einem umzäunten Areal ein gackernder Haufen Hühner ihrem Schlupfloch für die Nacht zustrebte. Hinter einem hell erleuchteten Fenster bewegte sich etwas, und Momente später öffnete sich die Tür. Eine Frau kam heraus. Dorian schätzte sie etwas älter als Iria ein. Sie trug eine grobe Schürze über ihrem einfachen Kleid, und ihr Gesicht zeigte einen düsteren Ausdruck. „Benero! Ich wollte schon nachsehen, wo du bleibst“, sagte sie mit leisem Ärger in der Stimme, der sich jedoch legte, als ihr Blick die Gästeschar erreichte. „Ich wusste nicht, dass wir Besuch bekommen?“ fragte sie vorsichtig. „Ich wusste es auch nicht, oh ja“, erwiderte Benero vergnügt. „Aber diese tapferen Reisenden haben mich vor den Pestviechern bewahrt, diesen summenden Monstern! Sie haben unsere Gastfreundschaft mehr als verdient.“ Benero trat an die Schwelle heran, und die junge Frau wich zurück. Er hielt Dorian und den anderen die Tür auf. Auf das Gesicht der Frau legte sich nur mühsam unterdrücktes Entsetzen. „Benero! Du sollst doch nicht alleine rausgehen, du weißt doch, dass das nicht ungefährlich ist“, sagte sie mit leiser, aber deshalb nicht weniger vorwurfsvoller Stimme. „Ja, ja, es ist ja nichts passiert“, gab Benero zurück und winkte dabei ab. „Das ist übrigens meine Schwiegertochter Gauri.“ Gauri Cinna verbeugte sich leicht vor den unerwarteten Gästen, ohne den argwöhnischen Ausdruck auf ihrem Gesicht gänzlich zu verlieren. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und die Dämmerung blieb draußen. Statt ihr umfing sie nun das warme Licht vereinzelter Glühdrahtlampen sowie von einer prasselnden Feuerstelle, auf der bereits ein Kessel mit dampfendem Inhalt stand. Über diese gebeugt stand eine ältere Frau, deren graues Haar fast zur Gänze unter einem Tuch verborgen lag. Sie trug ähnliche Kleidung wie die junge Frau, und auf ihrer Nase saßen ein Paar dicke Gläser, durch die sie hindurch blinzelte. „Benero?“ fragte sie in den Raum, als ob sie dank der Kurzsichtigkeit ihrer Augen die Personen nicht gleich erkannte. „Wo hast du dich wieder rum getrieben?“ fragte sie ihn mit krächzender Stimme, bevor ihr durch das dicke Glas gefilterte Blick auf Dorian und die anderen fiel. „Ah, Gäste? Gut, dass ich so viel auf den Herd gestellt habe!“ Im Nu saßen sie alle am Tisch. Die alte Frau, die Benero ihnen als seine Gemahlin Felicia vorstellte, bewirtete sie mit Gauris Hilfe. Dorian ließ sich auf dem einfach gezimmerten Stuhl aus hartem Holz nieder; er erschien ihm als die bequemste Sitzgelegenheit, die er je genützt hatte. Die Wärme im Raum machte ihn zusätzlich schläfrig, und er rang darum, all die Eindrücke einzuordnen, die auf ihn einströmten. Er fand sich in einer bizarren Runde vor; neben ihm saß Iria an dem großen Tisch, der problemlos einem Dutzend Personen Platz bot. Neben ihr wiederum saß Nadim, der sich mit einer Mischung aus Zurückhaltung und Erleichterung umblickte. Zu seiner anderen Seite saß Sarik, und auf der gegenüberliegenden Tischseite waren Hargfried und Brynja, die ebenso wie er von diesem Menschen ohne jeden Vorbehalt als Gäste aufgenommen worden waren. Sie alle hatten ihre Waffen in einer Ecke des Raumes, in der sich allerlei Werkzeug auf einer Kommode fand, abgestellt. Hargfried hatte sogar seinen Harnisch abgelegt; in der Ecke sah es nun so aus, als würde eine Heerschar hier lagern. Geschirr klapperte und dampfende Brühe wurde mit großen Schopflöffeln verteilt. Die beiden Frauen sausten umher, sodass Dorians träger Blick ihnen kaum folgen konnte. Er hob seine müden Augen und sah die niedrige Decke, von der eine Glühdrahtlampe aus angelaufenem Metall hing. An den Wänden, hinter dessen grobem Verputz rohe Balken hervor lugten, prangte so manch landwirtschaftliches Gerät, das nicht mehr der Arbeit, sondern nur mehr der Zierde diente. Verschiedenste Geräusche drangen an seine Ohren, und mehrmals drohten seine Augen, zuzufallen. Eine sich plötzlich erhebende Stimme riss ihn aus seiner Schläfrigkeit, als zwei Kinder aus einem Nebenraum kamen. „Zenon, Gyriakus, da seid ihr ja. Setzt euch zum Tisch und benehmt euch ordentlich, wir haben heute Gäste“, rief ihnen Gauri Cinna mit strenger Stimme zu. Die beiden Buben liefen lachend und sich gegenseitig verfolgend um den Tisch, bis sie schließlich ihre Plätze erreichten. Dort erklommen sie ihre Stühle und betrachteten die Gäste des Hauses mit großen Augen und stillen Mienen, die einen starken Kontrast zu ihrer vorigen Lebhaftigkeit bildeten. „Ah, wie schön, wie schön!“ rief Benero aus und nahm am Kopf der Tafel Platz. Er faltete die Hände auf dem Tisch und ließ seinen zufriedenen Blick über die Runde gleiten. „Lange hatten wir nicht mehr so viel Leben im Haus, ja, ja, lange nicht mehr…“ „Ihr Sohn, er… er ist im Krieg?“ fragte ihn Dorian aus einem Impuls heraus. „Oh ja, es ist schlimm, ja… mein guter Rothgar wurde in die Armee befohlen, wie auch all unsere jungen Knechte. Deshalb ist es etwas schwierig für uns momentan, ja, ja… aber ich will mich nicht beklagen, nein, beim heiligen York, beklagen will ich mich nicht… “ Die eben noch bedrückte Miene des alten Mannes nahm wieder einen zuversichtlichen Ausdruck an, und Dorian ahnte, wie viel Kraft ihn dies kostete. „Wir können also bei euch übernachten?“ fragte Nadim, den daraufhin einige Blicke trafen. Vorhin hatte er so unscheinbar und verschreckt auf seinem Stuhl gewirkt, dass wohl niemand erwartet hatte, eine Wortmeldung von ihm zu hören. Doch diese Sache war Nadim offenbar wichtig genug, um seine Stimme zu erheben. „Das obere Stockwerk steht momentan leer“, erwiderte Felicia Cinna, die nun ebenfalls am Tisch Platz nahm, gleich neben ihrem Gemahl. „Die Knechte wohnten dort, aber ihr könnt es gern nutzen. Dorian merkte die Blicke, die die beiden alten Eheleute tauschten. Einen Moment wunderte er sich nochmal über die Gastfreundschaft dieser Menschen, bis ihm der Gedanke kam, dass in diesen Zeiten eines nahenden Krieges vertrauenswürdige Menschen mit Waffen wohl eine Seltenheit waren und dass sie sich von ihnen wohl zumindest vorübergehenden Schutz erhofften. „Stell dir vor, Schwiegermama, Benero war allein bei den Obstbäumen, als ihn diese teuflischen ‚Summer‘ angefallen haben!“ erzählte die junge Frau namens Gauri. Sie senkte dabei ihre Stimme, die einen vorwurfsvollen Ton annahm. Dabei blickte sie zu dem alten Mann, der angesichts dieses unterschwelligen Tadels missmutig den Kopf schüttelte. Seine Frau, Felicia, öffnete erschrocken den Mund und starrte ihre Schwiegertochter durch ihre dicken Brillengläser einen Moment an, bevor sie ihre anklagende Stimme gegen Benero erhob. „Du alter Tor, ich habe es dir gesagt! Du sollst doch nicht allein aufs Feld hinausgehen, was denkst du dir!“ tadelte sie ihn. „Ja, ja, ja…“, erwiderte er, verdrehte die Augen und murmelte dabei etwas Unverständliches in seinen Bart. Dies ging noch eine Weile so hin und her, wie Dorian hörte. Auch Gauri schaltete sich in diese Diskussion ein, die daraus resultierte, dass infolge der Knappheit an Knechten viele Tätigkeiten von dem alten Mann übernommen wurden. Mit der Zeit verschwammen die Stimmen in seinem Gehör, und die warme Luft ließ ihn wiederholt gähnend. Fast musste er sich überwinden, seine Schüssel leer zu essen, und das, obwohl die starke Brühe mit ihren vielfältigen Zutaten ihm als die köstlichste Speise seit Ewigkeiten vorkam. Sein knurrender Magen verlangte noch mehr davon, doch sein müder Körper war im selben Moment mit der Verdauung dieser Portion bereits beinahe überfordert. Endlich konnte er den Löffel neben die leere Schüssel hinlegen. Iria neben ihm blickte auf die Tischplatte und rührte sich sonst weiter nicht. Ebenso wie Nadim, und obwohl beide die Augen geöffnet hielten, ließen ihre hängenden Glieder und ihre erschlafften Gesichtszüge ihn vermuten, dass sie im Sitzen schliefen. Hargfried ihm gegenüber saß mit verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Immer wieder zog er die Nase kraus, und seine Augenlider zuckten beständig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)