Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 14: ------------ Iria wedelte mit den Händen vor seinem starren Gesicht, und nach einigen Momenten kam wieder Leben in seine leeren Augen. Er sah sie an, dann stolperte er rückwärts. Dabei fiel er über etwas; im Liegen sah er, dass es einer der Soldaten war. Es war still, gespenstisch still. Das Leuchten, das vorhin den Saal erfüllt hatte und ihm in den Augen gebrannt hatte, als würde er im Zentrum eines Gewitters stehen, war verloschen. Stattdessen herrschte wieder das Zwielicht von zuvor, in das die Warnleuchten unruhige Schatten warfen. „Was… was… was war das…“, stammelte er. Der Blick seiner tränenden Augen traf die leblosen Körper der Palastwachen, in dessen Mitte er auf dem Hosenboden saß. Niemand von ihnen rührte sich, und er konnte auch keine Bewegungen, die auf Atem schließen ließen, erkennen. Doch er wollte gar nicht näher prüfen, ob sie lebendig waren und nur zum Schein tot, und so rappelte er sich mühsam auf. „Ich habe keine Ahnung“, sagte Iria als Antwort auf seine Frage. Ihr Blick wirkte traurig, als hätte sie einen unwiederbringlichen Verlust hinnehmen müssen. Nur langsam klarte sich Dorians Verstand. Sein Blick tastete durch den Raum, über die Anzahl verstreut liegender Wachen, in das Innere des Saals, und an die Stelle, an der die Gestalt das Maleficium geöffnet hatte. Die Mosaiksteine seiner Erinnerung fielen eines nach dem anderen an ihren Platz, und die nächsten Fragen tauchten auf. „Wo sind die anderen? Wo sind Gaubert und… wo sind sie?“ fragte er sie leise, seine Stimme zitterte dabei. Sein fahriger Blick traf sein Schwert, das auf dem Boden lag, und er bückte sich danach. Er hob es auf, als könnte er mit dieser Geste einen kleinen Teil seiner gewohnten Realität wiederherstellen. Dabei fiel sein Blick auf den Escutcheon an seinem Arm. Die Scheiben darauf leuchteten mal schwach, mal stark, mal alle zugleich, dann wieder einzeln. Sein verständnisloser Blick traf dann Iria. Sie schüttelte nur den Kopf und schaute dann in Richtung des Zugangs zu diesem Saal. „Wir sollten gehen“, sagte sie mit schwacher Stimme, die doch einen drängenden Unterton in sich hatte. Dann lief sie los, und er folgte ihr mit unsicheren Schritten. Iria lief voraus. Sie sprang über die regungslosen Körper der Palastwachen hinweg, als wären sie nur vom Wind umgerissene Baumstämme, die ihnen eine höhere und unverständliche Macht in den Weg gelegt hätte. Dorian folgte ihr, und sein Blick irrte flüchtig durch den Saal. Außer den bewegungsunfähigen Palastwachen war niemand zu sehen, weder der Mann mit der Brille, noch der andere mit dem langen Haar, ebenso wenig die Frau mit dem Stachel an ihrer Armschiene. Und auch Nadim war in dem Chaos zuvor verschwunden. Dorian blieb am Eingang zum Saal noch einmal stehen, und da erschien ihm dieser Ort wie ein Friedhof. Er verdrängte die Frage, ob die im Saal verstreut liegenden Wachen wirklich tot waren; Nadim war jedenfalls nicht unter ihnen, genauso wenig wie einer der Fremden. Irias Schritte verhallten in dem steinernen Korridor, und er riss sich los von dem beklemmenden Anblick, um ihr zu folgen. „Iria! Iria!! Wo willst du überhaupt hin?“ Endlich gelang es ihm, sie einzuholen. Wie schon zuvor, so lief sie durch diese Katakomben, als wären sie ein vertrauter Ort für sie, als würde sie hier jeden Fußbreit kennen. Sie bog an mehreren Gabelungen ab, die ihm auf dem Herweg gar nicht aufgefallen waren. So sicher sie sich ihres Weges war, so sehr widerstrebte ihm der Gedanke, noch tiefer in diese Gewölbe vorzudringen. Er wollte nur raus und zurücklaufen in den Bucket-Weg, wo ihr Haus, ihr Zuhause, war. Endlich brachte er sie zum Halten, und sie sah ihn herausfordernd an. „Wo willst du eigentlich hin?“ Ihr Gesicht war noch entschlossener als zuvor. Während das rätselhafte Ereignis vorher Dorian jegliche Zuversicht geraubt hatte, so merkte er an ihr nichts von der Angst, die seine Schritte beschwerte. „Das Maleficium… er ist damit vor uns raus. Ich muss ihn finden!“ sagte sie mit fester Stimme. Dorians Augen wurden weit, sein Unterkiefer begann unkontrolliert zu zittern und seine Arme hoben sich zu einer Geste der Fassungslosigkeit. „Nadim und die anderen sind weg, wir sind hier in wer weiß was geraten, und du denkst an dieses Ding!?“ schrie er nun fast. Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. Iria hingegen verschränkte die Arme, ihr Blick wurde noch düsterer, als er eben noch gewesen war, und wandte ihm den Rücken zu. „Ich habe keinen von euch gebeten, mitzukommen“, sagte sie leise und voller Ingrimm. Dorians Hand schnellte vor, packte sie an der Schulter und riss sie unsanft zu sich herum. „Ich weiß nicht, wie es da ist, wo du herkommst“, bellte er sie voll unverhohlenem Zorn an, „aber wir lassen hier keine Kameraden einfach so zurück!“ Seine Stimme verlor ihre Wut, aber nichts von ihrer Eindringlichkeit. „Wir müssen sie suchen… und dann müssen wir sehen, wie wir hier wieder rauskommen.“ Iria wollte etwas erwidern, und das scharfe Glänzen in ihren schmalen Augen ließ vermuten, dass es eine energische Entgegnung sein würde- als das Geräusch schwerer Stiefel an ihre Ohren drang. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, setzten sie ihre Flucht fort. Diesmal, geradeso, als wären seine Kräfte zurückgekehrt, lief Dorian voran, und Iria war es, die alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Aufgeregte Rufe, das Scheppern stählerner Rüstungen und das Geräusch mehrerer Schwerter, die gezogen wurden, hallten von den steinernen Wänden wieder und vermischten sich zu einem unheilvollen Klangteppich, der dicht hinter ihnen und manchmal sogar ein Stück vor ihnen zu ertönen schien. Dieser beschleunigte ihre atemlosen Schritte noch mehr und ließ sie jeden Überblick in diesen gleichförmigen Gewölben verlieren. Längst wussten sie nicht mehr, ob sie überhaupt in Richtung des Herweges liefen oder nicht eher wieder zurück, doch das unerbittliche Herannahen ihrer Verfolger vereitelte jeden klaren Gedanken. Das Einzige, das sie auf ihrer kopflosen Flucht registrierten, war, dass die Luft immer feuchter wurde und der Geruch vorbeiströmender Abwässer immer intensiver. Dorian bekam das Gefühl, im Kreis zu laufen, so ewig gleich erschienen ihm die aus groben Steinen gemauerten Gewölbe- bis sie an eine Treppe kamen, die vom Gang abzweigte und in die Tiefe führte. Er blieb vor ihr stehen und blickte sich um. Das Geräusch vorbeirollender Wassermassen war hier lauter als noch zuvor. Iria wäre fast an ihm vorbeigelaufen, und er packte ihre Schulter, um sie aufzuhalten. Sie stieß seine Hand weg und funkelte ihn finster an. „Finger weg! Wenn du das nochmal machst- “ „Schnell, hier lang!“ unterbrach er sie, und schon lief er die Treppe hinab. Iria schnaubte empört, blickte zurück in den Gang, durch den bereits die Echos der herannahenden Schritte tanzten, und folgte ihm. Die Treppe war lang, feucht und an vielen Stellen mit einem glitschigen, grünlichen Film überzogen. Dorian hatte Mühe, auf den rutschigen Stufen das Gleichgewicht zu bewahren, bis sie endlich wieder auf ebenen Boden mündete. Er blieb abrupt stehen, und Iria wäre fast in ihn hineingelaufen. Sie wich ihm kopfschüttelnd aus, dann sah auch sie, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund öffnete sich, ohne dass ihn ein Wort verließ. Vor ihren Füßen rauschte ein Strom aus trübem Brackwasser vorbei, der sich in diffuser Dunkelheit fortsetzte. In weiten Abständen waren Glühdrahtlampen in die hohen Wände eingelassen, das schmutzige, angelaufene Glas ließ aber nur wenig Licht hindurch. In diesem erkannten sie die hochaufragenden Säulen, die dieses Gewölbe tief unter der Stadt stützten, sahen die reichen Verzierungen, deren Konturen durch die faulige Luft verblasst waren, und nahmen die kühnen Torbögen wahr, durch die sich die Wassermassen wälzten. „Das ist ja wie… ein unterirdischer Palast.“ Iria wagte es nur zu flüstern angesichts der majestätischen Architektonik, die an diesem Ort vergessen ruhte und von den scharfen Abwässern schon weitgehend zerfressen war. Ihr Blick suchte immer noch das Ende der Kuppelgewölbe über ihnen, die von den mächtigen Säulen gestützt wurden, deren Formen sich in der Dunkelheit verloren- als klatschende Schritte auf sie zu kamen. Dorian hob sein Schwert und kniff die Augen zusammen, um ihren Angreifer erkennen zu können. Iria suchte Deckung in seinem Rücken und hielt sich unwillkürlich an seinen Schultern fest- dann erkannten sie, dass es Nadim war, der durch das nur knietiefe Wasser auf sie zugewatet kam. Seine Bewegungen waren voller Hast und sein Gesicht zeigte die Erleichterung, die ihr unverhofftes Zusammentreffen in ihm auslöste. „Da seid ihr ja, Mann, bin ich froh!“ Dorian ließ das Schwert sinken. Sein Blick wanderte zu Irias Händen, die seine Schultern hielten. Augenblicklich löste sie die Berührung und lief an ihm vorbei auf Nadim zu. Dabei wich sie seinem Blick aus, als reute sie dieser Moment der Nähe, den ihre Erschrockenheit herbeigeführt hatte. „Wie kommst denn du hierher?“ fragte Dorian, während sie Nadim über den Rand des steinernen Flussbeckens hoch half. „Dieses Ding, als es hochging, da dachte ich, mein lieber Mann, da dachte ich- “, sprudelte es aus ihm hervor. Das Gewicht seiner nassen Stiefel zerrte sichtlich an ihm. Iria rümpfte die Nase über den intensiven Geruch, den er bei seiner nassen Unternehmung angenommen hatte. „Dieses, dieses Ding, unglaublich, das war so gespenstisch… Jedenfalls, ich bin bei der ersten Gelegenheit weggelaufen, ich dachte, jetzt holen uns alle Teufel…“, erzählte er und machte dabei wirre Gesten, die von den verschiedenen Eindrücken, die durch seinen Kopf geisterten, kündeten. „Hast du Gaubert und die anderen irgendwo gesehen?“ Dorian, der es leid war, die Geschichte zu hören, die er selbst miterlebt hatte, unterbrach ihn mit diesen Worten. „Nein, die habe ich nicht gesehen…“, antwortete Nadim kleinlaut und blickte zu Boden, als würde er sich für seine Flucht aus der Schatzkammer schämen. „Er weiß auch nichts darüber, du siehst doch, dass er um sein Leben gelaufen ist“, sagte Iria und legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter. Nadims Miene hellte sich augenblicklich auf. Dorian, der sich bessere Auskunft von ihm erhofft hatte, runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. Iria erhob sich, und Nadims Blick verlor gleich etwas seiner Zuversicht. Er streckte ihr noch die Hand entgegen, doch anstatt ihm aufzuhelfen, ging sie ein paar Schritte weg und starrte in die Dunkelheit, als könnte sie diese mit einem entschlossenen Blick vertreiben. „Ihr könnt sie gern suchen, ich wünsche euch dabei viel Glück. Aber ich bin wegen dem Maleficium gekommen, und- “ Ihre Worte versiegten, als spürte sie den Verrat, den sie an Dorians Freunden damit beging; jenen Leuten, die sie aufgenommen hatten in ihrer Mitte und sie nicht alleine hatten ziehen lassen. Gleichzeitig merkte Dorian das brennende Verlangen nach dem Maleficium in ihr, für das sie selbst das schwerste Opfer bringen würde, wie er kaum noch zweifelte. Dorian schüttelte den Kopf, atmete geräuschvoll aus und legte sich sein Schwert über die Schulter. „Wir wissen nicht, wo Gaubert und die anderen sind, und genauso wenig wissen wir, wo dieses… dieses Maleficium ist.“ Aus den letzten Worten klang tiefer Gram über diesen Gegenstand heraus, der all das Unglück über sie gebracht hatte. Nadim, der immer noch auf dem Boden saß, blickte ihm ratlos hinterher, dann kämpfte er sich ungelenk auf die Beine. Iria blickte Dorian hinterher, der am Rande des Abwasserkanals losmarschierte, das Schwert auf seiner rechten Schulter, welches ihm Zuversicht in dieser aussichtlosen Situation zu geben schien, und folgte ihm. Ebenso tat es Nadim, der, nass bis zu den Knien und leise schlotternd, hinter Iria nach schlurfte und dabei den Kopf hängen ließ, als hätte er abermals bei einer Diebestat vor Publikum versagt. Dorian ging voran, die anderen folgten wortlos. Niemand wusste, welcher Weg richtig oder falsch war, welcher sie wieder ans Tageslicht führen würde oder noch tiefer in diese Gewölbe unter dem Palast. Sie alle spürten deutlich, dass sie hier unten nichts anderes erwartete als der Zorn der Palastgarde, die den Dieb des Artefakts in ihren Reihen vermutete, wo sie doch nicht weniger verwirrt waren als es die Wachen sein mussten, die nun die Gewölbe unter dem Palast durchstreiften. Dorian ging voraus und dem trüben Zwielicht entgegen, gegen das die schwachen Glühdrahtlampen wohl schon seit vielen Jahren einen aussichtslosen Kampf führten. Die hohen und einst prächtigen Kuppeln hingen nur undeutlich erkennbar über ihnen in der Dunkelheit und überschauten dabei ihren einsamen Gang durch diese feuchten Gewölbe. Nur das gleichmäßige Plätschern der Abwässer neben ihnen war ihr Begleiter in dieser düsteren Stille, in die sich die Geräusche ihrer Schritte wie freche Eindringlinge mischten. „He, Dorian… Warte einen Moment“, sagte Iria und lenkte ihre Schritte neben die seinen. Nadim ging einige Schritte hinter ihnen, und das Gewicht seiner nassen Kleider schien seinen Blick zu Boden zu ziehen. Iria drehte sich kurz zu ihm um, bevor sie Dorian mit einem verlegenen Blick wieder ansah. „Was gibt’s“, erwiderte Dorian knapp, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Sein fester Blick suchte das Zwielicht zu durchdringen, als könnte er ihm das Wissen um das Schicksal seiner Freunde mit genügend Entschlossenheit abringen. „Wegen vorhin… was ich über die anderen gesagt habe“, begann sie zögerlich. Leise Scham klang aus ihren Worten. „Es tut mir leid. Und ich… ich möchte dir helfen, sie zu finden.“ Er begegnete ihrem zaghaften Blick, um sich dann wieder ihrem Weg mit entschlossener Miene zu widmen, über den er doch genauso wenig Ahnung hatte wie Iria oder Nadim. „Ich wüsste nicht, wie du mir jetzt großartig helfen willst“, antwortete er kühl und mit unterschwelligem Ärger in der Stimme. „Ich dachte, das Maleficium ist dir so wichtig“, fügte er in einem versöhnlicheren Ton hinzu, als spürte er das Bedürfnis, seine harschen Worte von vorhin abzuschwächen. „Es ist mir schon wichtig… aber deine Freunde sind mir auch wichtig. Ihr wolltet mich nicht alleine gehen lassen, und dafür bin ich ihnen dankbar.“ Bedauern und auch ein leiser Selbstvorwurf klangen in diesen Worten mit, wie ein Geständnis, das nun zu spät kam und ihr Gewissen drückte. Dorian erwiderte nichts, sondern blieb an einem geschwungenen, steinernen Steg stehen, der über den gleichmäßig rauschenden Strom aus Abwässern hinüberführte. Er überlegte einen Moment, um ihn dann zu beschreiten. Weniger deshalb, weil er einen bestimmten Weg verfolgte, den er doch selbst nicht kannte, sondern mehr, um sich von seinem eigenen Schuldgefühl abzulenken, das ihm in den zaghaften Worten von Iria widergespiegelt wurde. Er selbst hatte für diesen irrwitzigen Plan gestimmt, und nun stand er in der Versuchung, die Schuld für dieses Desaster allein Iria aufzubürden; doch er selbst hatte ihren Bestrebungen nie widersprochen, und auch ihn hatte der Ehrgeiz und die Verlockung, einen so wertvollen Gegenstand zu entwenden, gereizt, wie er sich nun schmerzhaft eingestehen musste. Und so lenkte er seine Schritte umso forscher über die schmale, steinerne Brücke, um nicht nur diesen düsteren, feuchten Gewölbe zu entfliehen, sondern auch den Selbstvorwürfen, mit denen ihn das Verschwinden seiner Freunde belegte. Auf der anderen Seite des Abwasserbeckens erkannte er einen Torbogen, der aus diesem Kanal herausführte. Schwaches, gelbliches Licht erhellte den Bereich dahinter, und die Hoffnung, einen Ausweg zu finden, weckte Zuversicht in ihm. Diese schwand aber wieder, als Schritte durch dieses Tor klangen und mit ihnen aufgebrachte Rufe, die von keinem seiner Freunde stammen konnten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)