Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Ganz am Rande des Daches des Gebäudes, dessen Fenster allerlei Fahnen und Wimpeln gehisst trugen, harrten sie aus und sahen mit an, wie die Parade den Platz erreichte. Soldaten am Straßenrand drängten die Menschenmenge zurück. Die Parade selbst teilte sich mit disziplinierten Manövern in mehrere Teile auf, die jede für sich einen ihr zugeteilten Platz einnahm. Bald standen alle Abteilungen und Marschkolonnen in strenger Ordnung auf dem Platz aus weißen Steinornamenten und erwarteten ihren Kaiser. Sämtliche Formationen waren zum Stillstand gekommen, und die Abteilung mit der in die Flagge gehüllten Kiste stand in ihrem Zentrum. Dorians Blick glitt über die Reihen der Gardesoldaten, traf die auf Podesten errichteten Lautsprecher, von denen dicke Kabelstränge wegführten, und erreichte schließlich die von Soldaten zurückgehaltene, in gespannter Erwartung verharrende Menge. Es war ein Meer aus Köpfen, mit und ohne Hüte, aus Perücken wie auch Glatzköpfen, das sich unter ihnen bis an den Rand des Platzes erstreckte. Dann hob er den Blick auf die Fassade des Palasts, der sich wie ein Tempel aus weißem Marmor, aus hohen, verzierten Toren und in den Himmel ragenden Türmen seinen Anhängern präsentierte. Sein Augenmerk verharrte auf dem Balkon, der hoch über dem gut bewachten Tore hing. Ein schwerer Vorhang aus rotem Samt versperrte die Sicht in die dahinterliegenden Gemächer, und nur seine Phantasie konnte ihm sagen, was sich dahinter verborgen mochte, wie ein Kaiser wohl hausen würde. Er blinzelte, als mehrere Gardesoldaten mit besonders prächtigen Rüstungen durch den Vorhang traten und ihn mit würdevollen Bewegungen zur Seite schoben. Der Raum dahinter blieb im Zwielicht. Nur undeutlich konnte er Möbel und Wände darin erkennen. Schließlich kam eine Gestalt aus dem Raum und trat an den Balkon. Die Gardesoldaten nahmen schlagartig eine noch ehrerbietigere Haltung an, als hätte jemand ruckartig an einem Faden gezogen, der direkt durch ihre Rüstungen ging. Die Gestalt trat an den Balkon, stützte ihre in weiße Handschuhe gehüllten Hände auf das Marmorgeländer und blickte mit sorgenvollem Blick in die Tiefe. Das Volk jubelte und die Wachsoldaten hatten alle Mühe, die begeisterte Menge zurückzuhalten. Dorian kniff seine Augen fester zusammen, um die Person besser erkennen zu können. Kaiser Modestus der Dritte war ein Mann mittleren Alters, der seine Jugendzeit erst vor kurzem beendet hatte. Sein schwarzes Haar war sorgfältig gekämmt, auf seinem Scheitel nach hinten, an seinen Schläfen jedoch nach vorn, was seinem Antlitz zusammen mit seinem energischen Kinn einen drängenden Ausdruck verlieh. Auf seinem Haupt ruhte ein vergoldeter Lorbeerkranz, der einen seltsamen Kontrast zu der schlichten, weißen Uniform, die ohne jede Zeichen von Prunk auskam, bildete. Unter diesem Kranz, der mehr ein mühevoll zu tragendes Gewicht denn ein Zeichen der Hoheit für ihn zu sein schien, standen bekümmerte, fast traurige Augen unter dunklen Brauen. Sie wirkten deutlich älter als der Rest des Gesichts. Und nun tasteten sie über die Menschenmenge, die ihm voller Begeisterung zujubelte, und sie schienen zu fragen: Meint ihr wirklich mich? „Das ist er, das ist Kaiser Modestus“, rief Ludowig aufgeregt. Es klang, als würde er seinen Kameraden eine überraschende Neuigkeit mitteilen. „Der sieht aber alt aus“, meinte Nikodemus. „Dabei ist er noch keine Vierzig.“ „Wenn dein Vater vor einem Jahr gestorben wäre, würdest du auch älter aussehen“, entgegnete Gaubert. „Mein Vater IST gestorben, genau wie auch deiner“, gab Nikodemus schnippisch zurück. „Ja, aber davon haben wir alle nicht viel mitgekriegt.“ „Jetzt seid mal leise!“ fuhr Ludowig dazwischen. „Er fängt mit seiner Rede an!“ Dorian verfolgte diese Auseinandersetzung schmunzelnd. Sein Blick glitt wieder zu Nadim und Iria. Nadim langweilte sich sichtlich und schien sich insgeheim auch über sein Versagen sowie die Blamage zuvor zu ärgern. Iria hingegen beobachtete das Geschehen aufmerksam und konzentriert. Sie sagte kein Wort, doch es war ihr anzumerken, dass sie sich jedes Detail einprägte, als wäre dies von großer Bedeutung für sie. Dann richtete er den Blick wieder auf den Balkon, von dessen Unterseite die Flagge Galdorias in gigantischer Ausführung viele Meter in die Tiefe hing und vom Winde sanft bewegt wurde. Einer der Gardesoldaten stellte ein Mikrofon vor den Kaiser, was dieser gar nicht zu bemerken schien. Dann wich er eilig zurück, als würde ihm seine Ehrfurcht vor ihrem Herrscher ein längeres Verweilen in seiner unmittelbaren Nähe nicht erlauben. Der Kaiser führte eine Hand zum Mund und räusperte sich, dann begann er zu sprechen. „Mein geliebtes Volk von Galdoria…“ Seine Stimme wirkte jünger als seine Erscheinung. Sie schien einem halbwüchsigen Knaben zu gehören, und nach einer kurzen Pause, in der er offenbar seine Gedanken geordnet hatte, sprach er weiter. „Unser Reich macht eine schwierige Zeit durch, wie ihr alle wisst. Unser Nachbar, Mosarria, mit dem wir lange Zeit Frieden hatten, mobilisiert erneut seine Armee, um unsere Grenze zu bedrohen. Keinen Moment zweifle ich am Mut, an der Tapferkeit, und an der Opferbereitschaft unseres tapferen Heeres. Auch zweifle ich nicht an der Unterstützung, die es von euch erhält. Ihr, geliebtes Volk von Galdoria, seid der Körper, an dem der starke Arm unseres Heeres sitzt, das euch bis zuletzt verteidigen wird.“ Es entstand wieder eine kurze Pause. Modestus senkte sein Augenmerk, das ins Leere zu gehen schien. Zwei der Gardesoldaten auf dem Balkon wechselten besorgte Blicke, wie Dorian zu erkennen glaubte. Vereinzelte Stimmen klangen aus der Menschenmenge. Dorian konnte die Worte nicht verstehen, es schien aber eine leise Unruhe unter den Leuten zu erwachen. Dann sprach der Kaiser weiter, diesmal mit lebhafterer Stimme als zuvor. „Wir haben aber einen Trumpf auf unserer Seite, mein geliebtes Volk! Tapferen Soldaten meiner Garde ist es gelungen, einen Schatz aus den Tiefen unseres Nachbarlandes zu bergen, der diesem Krieg die entscheidende Wendung wird geben können. Es ist das sagenumwobene Maleficium, das sich nun in unseren Händen befindet!“ Er deutete in die Tiefe, wo die Abteilung mit der Kiste stand, und erneut brandete Jubel im Volk aus. Dorian fasste die Kiste ins Auge, von der nicht mehr zu sehen war als die Flagge ihres Reichs, in die sie gehüllt war, um den Besitzanspruch zu unterstreichen. Jeder kannte die Gerüchte und Erzählungen. Bis zurück in die Zeit des letzten großen Krieges vor bald zwei Jahrzehnten gingen sie, und sie kündeten immer von einer geheimnisumwitterten Macht, die damals auf dem Schlachtfeld zugunsten von Mosarria gewirkt haben soll. Damals hatte das galdorianische Reich eine Niederlage hinnehmen müssen. Aber auch der Sieg des Nachbarreiches war verlustreich gewesen. Es hatte nicht einmal genügend Mann für eine Besatzungsmacht aufbieten können nach diesem Krieg, in dem beide Länder fast ausgeblutet wären. Lange Jahre hatte schlimme Armut in beiden Ländern, dem Verlierer wie dem Sieger, geherrscht, und sie waren sich in einem bitteren Frieden voller Argwohn und Ablehnung gegenübergelegen. Modestus der Zweite hatte damals die Truppen befehligt, hatte sein Land aus der Asche der Niederlage zu dem heutigen Wohlstand empor geführt und den brüchigen Frieden mit dem Nachbarn gehalten. Doch Modestus der Zweite war seit einem Jahr tot, war verstorben an einer plötzlichen Erkrankung, und die Gerüchte um Gift und Verschwörung wollten kaum verstummen. Nun führte sein Sohn das Reich. Auch wenn kaum einer der Untertanen die Politik hinter den Toren des Palastes verstand, so hatte niemand den Eindruck, er hätte den Frieden gefährdet oder gar den Krieg gewollt. Doch nun war er da, und viele erinnerten sich mit Schrecken an den damaligen Krieg, in dem zahllose Männer auf dem Schlachtfeld umgekommen und ungezählte Frauen und Kinder an Seuchen, an Hunger und am allgemeinen Elend zugrunde gegangen waren. Vielerorts hatten sich unzufriedene Stimmen gesammelt, zuerst heimlich und später lauter, die mit dem Sohn des vormaligen Kaisers unzufrieden waren und sogar seine Abdankung forderten. Doch das Heer, das dem Kaiser die Treue hielt wie auch schon seinem Vater, unterdrückte diese Stimmen mit eiserner Faust, und so fühlte sich der Kaiser sicher auf seinem Thron. All diese Gedanken gingen Dorian durch den Kopf, als er dem Kaiser lauschte, die Kiste mit dem mythenumwobenen Maleficium betrachtete und die neugewonnene Zuversicht der Menschen in dieser Stadt spürte. „Mit dem Maleficium und seiner Macht an seiner Spitze wird unser Heer zum Sieg marschieren, das verspreche ich euch, geliebte Bürger! Es wird wieder Frieden geben, und diesmal wird es ein endgültiger sein. Selbst wenn ich dies durch die vollständige Unterwerfung Mosarrias sichern muss. Es wird so geschehen, das verspreche ich euch, bei dem Andenken an meinen Vater!“ Ein weiteres Male brandete Jubel auf, und das Volk schrie voller Begeisterung seinen Namen. Aus tausend Kehlen stieg er empor zu dem Balkon des Palastes und bis in den fast wolkenlosen Himmel über der Stadt, über der der Schatten eines kommenden Krieges hing. Modestus schloss die Augen und verneigte sich leicht. Mit einem Male wirkte er müde, geradezu erschöpft, als hätte diese Rede ihm große Kraft gekostet und er die Begeisterung seines Volkes mit seiner eigenen Lebensenergie angefacht. Momente später trat er hinter den Vorhang zurück, der daraufhin eilig von den Gardesoldaten zugezogen wurde. Dorians schaute wieder in die Tiefe. Die Kiste mit dem Maleficium wurde in den Palast getragen, und das unter dem aufmerksamen Blicken der Garde. Die Menschenmenge zerstreute sich langsam. Lichte Ströme der Bürger bewegten sich zurück in die Stadtteile, aus denen sie zu diesem denkwürdigen Ereignis herbeigeströmt waren. Schweren Schrittes kehrte Kaiser Modestus in den Raum hinter dem Balkon zurück. Seine Beine fühlten sich wie Blei an, und die Erschöpfung zerrte an jedem seiner Schritte. Er durchquerte den Raum, kam an mehreren ebenso stummen wie ehrerbietigen Wachen vorbei und erreichte schließlich einen Salon neben seinem Arbeitszimmer, den er für weniger förmliche Besprechungen nutzte. Der Raum hatte keine Fenster nach außen. Seine Wände waren mit schwerem Samt und goldenen Verzierungen beschlagen, die im Licht der an der Decke verteilten Glühdrahtlampen glänzten. Möbel aus massivem, nachgedunkeltem Holz standen an den Wänden. Stühle mit hohen Lehnen, breite, weich gepolsterte Feuilletons und Schemel zum Abstützen müder Beine waren in reicher Zahl vorhanden. In einer Ecke stand sogar ein Klavier, über dem jedoch ein Tuch hing, das nahelegte, dass es mehr aus dekorativen Zwecken im Raum stand denn als Musikinstrument. In einer kraftlosen Bewegung ließ Modestus sich auf eines der Feuilletons fallen. Die weiche Polsterung fing ihn sanft ab, und er schwang seine Beine auf einen bereitstehenden Schemel mit derselben roten Polsterung. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Einen Moment später öffnete sich die Tür. Jemand, dessen Kommen er offenbar schon erwartet hatte, trat ein, flüsterte noch etwas zu einer Wache, die vor der Tür stand, und schloss sie dann lautlos. „Wie haben sie es aufgenommen, Gildenstern? Was ist dein Eindruck?“ fragte Modestus müde und gähnte nach diesen Worten. Jan Gildenstern trat nach vor, blickte mit förmlicher Miene ins Leere und räusperte sich verhalten. Das allzu legere Verhalten seines Kaisers schien ihn leicht verlegen zu machen, wenngleich seine ehrerbietige Haltung zeigte, dass er sich nicht in der Position fühlte, ihn in irgendeiner Weise zu tadeln. „Meine Hoheit, daran besteht kein Zweifel; ihr habt das Vertrauen eures Volkes zurückerrungen“, sagte er mit ruhigen, wohlgewählten Worten. Modestus öffnete die Augen und blickte seinen wichtigsten Minister an. Jan Gildenstern war nicht viel älter als er selbst, eine Dekade vielleicht. Aber schon hatte er seinen Platz behauptet im kaiserlichen Beraterstab, und er musste sich selbst gegenüber eingestehen, dass er sein Urteil am meisten schätzte von allen. Obwohl ihm die anderen Mitglieder des Stabes an Alter und auch an Erfahrung überlegen waren, so unterschied ihn doch etwas von den anderen. Gildenstern erwiderte seinen Blick nicht. Eine Weile ließ Modestus den Blick auf dem Mann mit den kurzen, strohblonden Haaren verweilen. Seine Haare hingen in kurzen Strähnen über seine immer leicht gerunzelte Stirn und wurden zum Scheitel hin schütter; es wirkte fast wie eine Tonsur. Seine kargen, fast weltabgewandten Züge verstärkten den mönchshaften Eindruck noch. Seine Kleidung war ein schlichtes Gewand ohne höfischen Prunk. Nur der schimmernde Harnisch der Garde unter seinem Umhang war ein Zugeständnis an seinen Posten als Oberhaupt der Palastwache, wenngleich dieser Posten mehr repräsentativer Natur war. Ein schmaler Bart von ebenso hellblonder Farbe umgab seinen Mund, aus dem er schon so manch wertvollen Rat erhalten hatte. Es war wohl genau das, was ihn unterschied, dachte sich Modestus in diesem Moment. Während der Rest des Beraterstabes ihn im Zweifelsfalle immer in seiner vorgefassten Meinung bestärkte und keiner von ihnen mit Schmeicheleien sparte, so scheute Gildenstern sich nicht davor, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und dem Kaiser auch zu widersprechen, sollte er sich seiner Ansicht nach tatsächlich in ein Fehlurteil verrannt haben. „Ich habe also das Vertrauen des Volkes zurückerrungen. Ich… oder das Maleficium. Seine Wirkung ist schon erstaunlich.“ „Es ist sicher nicht nur das Maleficium, eure Hoheit. Wenngleich seine Eroberung zu keinem besseren Zeitpunkt hätte stattfinden können“, sagte Gildenstern, und in seiner sonst so gefassten Stimme klang tatsächlich Erleichterung mit. „Wie steht es eigentlich an der Front? Ich habe heute schon mit den Generälen gesprochen… aber ich möchte deine Einschätzung hören.“ Auf dieses Wort hin setzte Gildenstern sich in Bewegung. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, begann er vor dem Kaiser auf und ab zu gehen. Sein Oberkörper war dabei leicht vorgeneigt, als ging er bergauf. Gildensterns Blick ging zu Boden, als müsse er auf Hindernisse achten, und der schwere Teppich unter seine Stiefeln schluckte ihr Geräusch vollkommen. „Wenn ihr mit den Generälen schon gesprochen habt, dann wisst ihr, dass Mosarrias Truppen auf dem Vormarsch sind. Ihr wisst auch, dass sich unser Heer eine gedachte Verteidigungslinie zwischen den Ausläufern des Barantir-Gebirges und den Wäldern von Kerlon einnehmen will. Es gab zwar anfängliche Gebietsgewinne um die Stadt Pielebott, aber der Generalstab will von seiner Verteidigungsdoktrin nicht ablassen. Nach wie vor möchte er den Feind herankommen lassen und erst jenseits des Rhemarn-Flusses zum Kampf stellen.“ „Ja, das weiß ich.“ Modestus nickte müde, wie um zu zeigen, dass er in seinem momentanen Zustand einer bloßen Wiederholung von dem, was er ohnehin wusste, überdrüssig war. „Der Generalstab ist sich sicher, dass das mosarraianische Heer auf diesem Weg seine Linien zu breit wird werden lassen und die Verteidigung ohne große Verluste gelingen wird.“ Er hielt einen Moment Inne, und Modestus hob eine Augenbraue. „Ja?“ Gildenstern setzte seinen Weg fort, doch von nun an bedachte er den Kaiser mit eindringlichen Blicken, die ganz im Kontrast zu seinem bisherigen zurückhaltenden Auftreten standen. „Ich halte das für vermessen, eure Hoheit. Das Heer von Mossaria hat den Krieg von damals noch gut in Erinnerung; es wird dieselben Fehler nicht zweimal machen. Es wird nicht auf Finten hereinfallen, die nur beim Manöver im Übungsgelände funktionieren. Wenn der Generalstab in Mosarria nur einen Funken Verstand und Geduld hat, so wird es diesen Plan durchschauen, und wir werden mit dieser Verzögerungstaktik noch mehr Boden und Städte preisgeben.“ „Was schlägst du vor? Du weißt, dass der Generalstab in unserem Reich seit jeher sehr eigenständig agiert, und ich ohne weiteres nicht ihre ganze Taktik ändern kann. Mein seliger Vater…“ Sein Blick verlor sich einen Moment in trüben Erinnerungen, dann richtete er sich wieder auf seinen Berater. „Mein Vater hat das eingerichtet, und ich kann die Statuten unseres Reiches nicht ohne weiteres abändern. Würdest du diesen Schritt empfehlen?“ Modestus blickte ihn erwartungsvoll an. Seine Unsicherheit leuchtete aus seinen Augen, und Gildenstern schwieg einen Moment, als würde er einen inneren Zwist ausfechten. „Nein, euer Hoheit. Das kann ich nicht wirklich raten. Die traditionellen Strukturen unseres Heeres in Zeiten wie diesen aufzubrechen, könnte sich fatal auf die Moral der Truppen auswirken. Bevor wir diesen Schritt wagen, sollten wir erst die Möglichkeiten des Maleficium ausschöpfen. Seine Inbesitznahme hat einiges an Blut gefordert; wir dürfen es nicht ungenützt lassen.“ „Ja, das ist wahr. Aber was wissen wir denn überhaupt über seine ‚Möglichkeiten‘?“ fragte Modestus müde lächelnd. „Nun, die eigentliche Forschung beginnt wohl erst. Leider ist es unseren Agenten nicht zugleich auch gelungen, die verbliebenen Aufzeichnungen des heiligen York mit zu entwenden. Sie wären sicher sehr hilfreich gewesen, aber was diese betrifft, so ist uns wohl jemand zuvor gekommen.“ „Nun ja… ich hoffe, unsere Gelehrten werden anderweitig das Potential dieses Gegenstandes erschließen können“, sagte Modestus in einem Ton, der weniger müde klang und eher seinem Titel als Kaiser entsprach und nichts anderes als Zustimmung erwartete. „Gewiss, eure Hoheit. Unsere Gelehrten haben unmittelbar nach Ankunft des Maleficium ihre Forschungen begonnen. Bald werden wir deutlich mehr wissen. Eines muss ich aber anmerken…“, begann er zögerlich, bevor er mit festerer Stimme weitersprach. „Ich weiß, dass ihr persönlich Sorge getragen habt, was die Unterbringung des Maleficium in der Schatzkammer unter dem Palast angeht. Aber ich muss an dieser Stelle Bedenken äußern.“ „Und die wären?“ Gildenstern blieb stehen. Er wandte sich dem Kaiser zu, und seine im Rücken verschränkten Arme schienen seine Brust rauszudrücken. Er hob das Kinn an; fast wirkte dieses ganze Gehabe so, als wollte er eine Herausforderung aussprechen. „Auch wenn der eigentliche Wert des Maleficium sich noch unserer Kenntnis entzieht, so gibt es keinen Grund, seine Sicherheit zu vernachlässigen. Es ist mir ein Anliegen, nachdem es unter meiner Weisung requiriert wurde, das Risiko möglichst niedrig zu halten. Es scheint mir, dass wesentlich höhere Sicherheitsmaßnahmen möglich wären, eure Hoheit.“ Modestus erwiderte seinen strengen Blick, der gegen Ende der Rede aber wieder an Sanftheit und Zurückhaltung gewann. Er ließ mehrere Momente verstreichen, bevor er ihm antwortete. „Ich weiß deine Bedenken zu schätzen, werter Gildenstern. Aber sei beruhigt, das Maleficium ist in Sicherheit. Die Garde bewacht den Palast nach besten Kräften, und es gibt keinen Grund, mehr von ihnen als nötig an die Bewachung des Maleficium zu binden. Hat in den letzten Jahren jemand erfolgreich in den Palast eingebrochen? Eben.“ Er nickte seinem Berater zu, und angesichts der Überzeugung, die aus seinen Worten klang, senkte Gildenstern pflichtbewusst den Blick. „Mehr Gedanken macht mir da diese Bewegung im Volk, die sich gegen meine Herrschaft richtet.“ Nun legte sich ein Schatten der Sorge über seine Stimme. „Heute haben alle gejubelt, das ist wahr. Aber es gibt auch andere Stimmen, die heute zwar geschwiegen haben, die mir aber weniger freundlich gesonnen sind.“ „Ihr meint die Geschichten über eine Widerstandsgruppe im Volk.“ „Ist es wirklich nur eine Geschichte?“ entgegnete Modestus. Er vollführte dabei eine Geste der Ratlosigkeit. „Ich denke nur an die Sabotageakte an der nördlichen Bahnlinie und an die Flugblätter, die in den Städten Gilgit und Brimora verteilt wurden. Man könnte es als Kleinigkeiten abtun, aber wer weiß? Wenn sich der Krieg nicht bald zu unseren Gunsten wendet, könnten diese Provokationen auf fruchtbaren Boden fallen.“ Modestus schloss die Augen und lehnte sich wieder zurück. Der bloße Gedanke an derartige Schwierigkeiten schien seine Ermattung zu verstärken. „Nun, wir sollten diesen Aufrührern nicht zu viel Beachtung schenken. Gleichwohl sollten wir sie nicht völlig aus den Augen lassen, denn, wie ihr sagt… wer weiß, was die Zeit uns noch bringt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)