You know von Clodia ================================================================================ Kapitel 1: Oneshot ------------------ You know Wieder ist da dieser Abgrund, erneut offenbart er sich meinem Willen, zu sterben. Woher er kommt, wohin er gehen wird und ob er überhaupt gehen wird, liegt außerhalb dem, was ich zu wissen vermag. Einzig die einladende Geste, ihm in die Arme zu fallen, durchfährt jede noch so kleine Vene meines Körpers, jede Ader, jede Zelle, jedes Organ und jedes Gefühl. Erneut blicke ich herab, meine Augen empfangen jene Dunkelheit, die sie immer ersehnten und nun nicht mehr ausschlagen können. Hinter mir liegt nichts außer einem brennenden Wunsch, der vor langer Zeit gestorben ist. Hinter mir ist Leere und ein Geruch von Einsamkeit und Verrat. Wer hat mich verraten? Niemand außer dem Leben selbst… Unsicher wanderte sein Blick zwischen den spitzen Steinen hin und her, derweil furchtbare Schreie entstellter Vögel die Luft zerrissen. Vielleicht waren es Aasgeier, doch ob diese Vögel überhaupt einen Ton von sich gaben, bevor sie sich gierig auf ihre verwesende Beute stürzen, wusste er nicht. Im Grunde war ihm das auch herzlich egal, so wie alles andere, was gerade um ihn herum geschah. Doch da war kaum etwas, dass noch geschah, an einem Ort wie diesem. Ein schwefeliger Geruch stieg ihm in die Nase und er fragte sich zum wiederholten Mal, ob er das Richtige tat, was das Richtige war, und ob er doch nicht immer genau das Gegenteil davon bevorzugt hatte. Was hatte er schon zu verlieren, wenn er allem nun ein Ende setzte? Was hatte er zu gewinnen, wenn er es nicht tat? Wollte er weiterhin den Schmerz in seiner Brust ertragen müssen, ohne wissen zu können, was er dagegen tun könnte, ob er überhaupt etwas dagegen tun könnte? Sollte weiterhin die scharfe Schere durch sein weiches Fleisch gleiten, immer dann, wenn er den Druck in seinem Herzen nicht anders zu kompensieren wusste? Er tat es nicht wirklich aus Trauer, mehr war es ein Zwang, eine Gier nach Beendigung eines unschönen Zustandes in seinem Inneren, anhaltend für einige Minuten, bevor diese ballende Kraft ein zweites und ein drittes Mal sein Herz zu zerreißen drohte. Doch danach blieb sie irgendwann aus und hinterließ die Leere, in der er sich nicht wesentlich wohler fühlte, die ihn auffraß und erdrosselte, erdolchte und verbrannte. Mittlerweile war dies alles fast zu einer festen Gewohnheit geworden, an die er sich dennoch einfach nicht gewöhnen konnte und wollte, nicht dabei zusehen wollte, wie er selbst sein Leben immer weiter diesem Abgrund entgegen trieb, an dem er nun stand und zweifelte. Es wäre nur ein kurzer Moment… kaum mehr Zeit, dann noch zu bereuen. Und war er erst einmal bewusstlos, konnte wirklich nichts mehr passieren, was auch nur ansatzweise so schlimm war wie das, was er momentan sein Leben nennen musste. Wem würde er damit wehtun? Wieso stellte er sich diese Frage überhaupt? Sie führte ja nur doch dazu, dass er letztendlich bereute, und das war eine Sache, die er unbedingt verhindern wollte. Sie würde ihn aufhalten und hemmen, Zweifel sähen und gleichzeitig ernten, sie ihm vorhalten, mit seinem Gewissen korrelieren und ihn schlussendlich doch wieder nach Hause schicken, mit dem Gedanken, dass er es am nächsten Tag ja noch einmal versuchen könne. Das war nicht wirklich Sinn und Zweck seines Vorhabens, ein innerer Zwiespalt war das letzte, das er gebrauchen konnte. Und trotzdem war genau dieser Zwiespalt das, was ihn Tag für Tag daran hinderte, sich seinen Gefühlen, seinen Sehnsüchten, seinem inneren Feuer hinzugeben, ihm nachzugeben, auf das zu hören, was sein Herz vor lauter Kummer schrie und von ihm verlangte. Immer dann, wenn jene Zweifel aufkamen, verschwanden die Aasgeier und verwandelten sich in Seifenblasen, die ihn verspotteten und die nur er selbst sehen konnte. Der Abgrund sackte in sich zusammen und zerfloss zu einem Rinnsal trüben Wassers, verschwimmend mit der Umgebung und versickernd in den Bodendielen seines Schlafzimmers. Das Bett und der Schrank materialisieren sich schwach und beinahe durchsichtig zu bedrohlichen Geistern, die wenige Sekunden später jeglichen Schrecken verloren und sich als das darstellten, was sie eigentlich waren. Der Teppich erhob sich aus einer unsichtbaren Versenkung und warf ihm sein gleißendes Gelb entgegen, welches nur für einen Moment seine Augen zu blenden vermochte, bevor sich das Gelb in ein schmutziges Braun verwandelte und ihn nicht mehr beachtete. Ein Nachtschrank, ein Kleiderschrank, und seine Umwelt erschien plötzlich wieder so real, dass er sich fragte, welches von beidem der Traum war und welches nicht. Das Sonnenlicht fiel durch das milchige Fensterglas und versuchte, in die verstaubten Ecken zu gelangen, erfolglos. Hier war schon lange nicht mehr geputzt worden, Spinnweben an den Wänden und an der Decke zeugten von einer langen Periode der Einsamkeit. Viele Monate oder gar Jahre, Jahrzehnte, oder waren es doch bloß einige Stunden gewesen? Wo befand sich die Seele, die in diesem Körper schlummerte, fühlte und litt und dachte und lebte? Eine Seele, die nie das Glück berührte, kein einziger Schimmer der Hoffnung und kein einziger Strahl der Wärme, die das Sonnenlicht seinem verlassenen Körper spendete. Verlassen? Weswegen verlassen? Wohin war er gegangen, ohne zu wissen, dass er seinen Körper verlassen hatte? Der Spiegel entblößte ein weißes Gesicht mit glasigen, erloschenen Augen und spröden, zersprungenen Lippen, die jegliche Farbe schon lange abgegeben hatten. Ein leerer Blick und eine Hand, die sich erhob und vom Spiegel skeptisch betrachtet wurde, als sei sie nur eine Illusion. Dünne Finger, welkende Haut, knochig und beinahe unsichtbar. Ein zerrissener Pullover, der in Fetzen seinen zerkratzten Arm ummantelte und die Narben nicht länger verstecken wollte. Narben, wie alt sie wohl waren? Woher sie wohl kamen? Obgleich er es wusste, verzogen sich seine Lippen zu einem zuckenden Lächeln, während er sachte den schwachen Kopf schüttelte, dessen stumpfes Haar glatt und strähnig seine Wangen berührte. Nein, das war nicht er. Nicht mehr. Der Spiegel konnte ihn nicht länger belügen, er lachte ihn bloß aus. Schrille und entzückte Schreie entfleuchten einer wissenden Kehle, die das Glas zum Zerbersten brachten und somit den Beweis seiner falschen Existenz auf ewig vernichteten. Ein stolzer Spiegel in Scherben konnte ihn nicht länger verhöhnen. Niemand konnte ihn länger verhöhnen. Der dumpfe Blick klebte an einer kahlen Wand ohne Farbe und Gesicht, während seine nackten Füße durch scharfkantige Splitter ein rötliches Gefühl von Wärme erfuhren. Noch immer hallte ein abscheuliches, kaltes Lachen in seinem Kopf wider, bevor er begriff, dass es sein eigenes war. Glitzernde Augen beobachteten mit Genugtuung erneut eine zerschmelzende Umgebung, ein bewegungsloser Körper vergaß jegliche Zweifel und die Hast, irgendetwas begreifen und erfassen zu können. Eine zerbrochene Uhr verlor keinen Ton und der Zeiger klebte auf einer toten Ziffer. Du weißt es, Kyo. Du hast es immer gewusst und wolltest es bloß nicht verstehen. Wann wirst du dich erinnern und erneut verdrängen? Das Lachen erschreckte und faszinierte ihn zugleich, derweil es schaurig an die Wände schlug und aus seinem selbst geschaffenen Gefängnis nicht entfliehen konnte. Wieder offenbarte sich ihm der Abgrund, aus dessen Tiefe der schwefelige Geruch an imaginären, festen Mauern herabfloss und sie zu Fall brachte, mit ihnen all das, was sich seine Vorstellungskraft hatte aufbauen können. Doch was war seine Vorstellungskraft gewesen? Gab es die Wahrheit, gab es die Lüge, gab es die Realität? Das Lachen auf seinen farblosen Lippen führte ihn in einem unaufhörlich grässlich-schönen Echo steinerne Treppen herab, die er zuvor noch niemals bemerkt hatte. Graue Nebelschwaden schlugen ihm feucht und kalt entgegen, hinderten ihn nicht daran, weiterzugehen, über abgestorbenes, braunes Gras, über trostlose, verschimmelte Blumenbeete vor kleinen Steinquadern. Du weißt, wo du bist. Du bist nicht das erste Mal hier. Zufrieden wanderte der glasige Blick nach oben gen Himmel, der wolkenbehangen seine Schönheit vor ihm gut zu verbergen wusste. Von hier unten schien der Abgrund gar nicht mehr so tief. Wie lange schon hatte er das gewusst? Wieder ein bitteres, höhnisches Lachen. Oder noch immer? Die bleichen Finger streichelten sachte einen dieser Steinquader, woher nur kamen sie ihm so bekannt vor? Du weißt es, Kyo. Ein Kalender, ein bestimmtes Datum zeigend, kann sich auch irren. Oder bist du es, der irrt? Völlig willenlos glitt der abgestumpfte, müde Blick über den Stein und las die eingravierten, goldenen Buchstaben, die einen Namen formten. Seinen Namen. Beinahe desinteressiert wanderte der glanzlose Blick weiter über den verlassenen Friedhof, er hatte diesen Namen dort nicht das erste Mal gelesen. Du weißt es, Kyo. Möchtest du nicht mit ihm gemeinsam schlafen? Gemeinsam mit deiner leblosen Hülle unter der Erde? Ein schwaches Kopfschütteln, ein wissender Seufzer, bevor er sich zum Gehen wand und mit schlurfendem Schritt langsam den öden Ort verließ, der hinter ihm zu grauem Staub zerfiel und sich in seinem Gedächtnis versteckte. Noch bevor er die Treppe erreichte, verwandelte diese sich in eine giftgrüne Schlange, die zischend und züngelnd nach kurzem Blickkontakt in der Dunkelheit des Nebels verschwand und den Abgrund zum Einsturz brachte. Dort waren wieder sein Kleiderschrank und das alte Bett mit den Löchern im schmutzigen Laken, die vergilbten Seiten eines Buches auf dem Nachttisch und ein mit Spinnweben umflochtener Kronleuchter, der von einer morschen Zimmerdecke herabbaumelte. Ein zerbrochener Spiegel, eine kaputte Uhr und ein Kalender, dessen Seiten sich langsam auflösten. Unwillig, sich zu bewegen, starrte er emotionslos auf das halb abgelöste Blatt, das wohl bald, abfallend, in der Unendlichkeit seines Zimmers verschwinden würde. Und dennoch wusste er, dass es sich niemals würde lösen können. Juni. Juni 1971. Das kalte Lächeln auf seinen Lippen vertrieb das Lachen und er löste seinen Blick von der Wand, ging langsam zu seinem Bett, um sich hineinzulegen, wie er es schon so oft getan hatte. Oft in den letzten Tagen, Wochen, Jahren, Jahrzehnten. Und er würde niemals damit aufhören. Ja, ich weiß es. Ich habe es immer gewusst und immer vergessen. Alles ist ein ewiger Schlaf und ein ewiges Suchen, weil ich es weiß und nicht wissen will. Nicht meine Seele hat den Körper verlassen, mein Körper hat die Seele verlassen. Hat er meine Gefühle, mein Urteilsvermögen, mein Gewissen mit sich genommen, meine Gedanken und Hoffnungen, Wünsche und Ängste? Ich weiß es nicht. Doch erst dann, wenn er meinen Stolz zu sich unter die Erde holen wird, werde ich gehen können. Bis dahin werde ich schlafen und zweifeln und lachen und wissen. Und erst dann wird das Lachen die Lüge endgültig besiegen. „Mama! Der Spiegel im Badezimmer ist schon wieder zerbrochen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)