Tales of Symphonia: Lyrical Requiem von CruxisLyrica ================================================================================ Special: Welcome to Terca Lumireis! ----------------------------------- „Hast du ihre Kleidung gesehen?“, flüsterte Karol so leise wie möglich. Estelle nickte eifrig: „Mir sind noch nie solch ungewöhnliche Garderobe untergekommen.“ „Ich kann euch hören, wisst ihr das?!“ Lyra reichte es und warf den Stock, mit dem sie sich bislang die Zeit totgeschlagen hatte, zu Boden. Verdammt noch mal, wie konnte sie bloß in dieses Dilemma geraten?! „Ich hätte auf ihn hören sollen…“, brummte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Auf wen?“ Estelle rückte näher an Lyra ran und beobachtete sie. Seufzend ließ sich die Zwillingsschwertkämpferin nach hinten fallen und blickte gen Himmel, einer sternenklaren Nacht entgegen. „Auf Kratos, auf Genius… einfach auf alle!“ Karol und Estelle tauschten unwissende Blicke aus. Niemand der beiden hatte jemals einen der genannten Namen gehört. „Und du bist mit deinen Freunden umhergereist?“ Karol versuchte das Gespräch in den Gang zu bekommen. Vielleicht würden sie auf diese Art etwas mehr über das unbekannte Mädchen erfahren. „Ah, bin ich. Eigentlich fast genauso wie ihr mit eurer seltsamen Gruppe.“ „Wir sind nicht seltsam! Und Pfoten weg, alter Mann!“ Ravens schmerzhafter Aufschrei entlockte dem ein oder anderen ein kurzweiliges Lachen. Rita wurde für diesen Abend zum Kochen eingeteilt und bereitete sie entgegen ihres süßen Gaumens ein einfaches, jedoch delikates Gericht zu, das sogar Ravens Gunst für sich gewinnen konnte. Schlussendlich konnte es das älteste Gruppenmitglied nicht mehr erwarten und wurde dafür jedes Mal von Rita verscheucht. „Wenn das mal nicht seltsam ist.“ Lyra setzte sich wieder auf und lenkte ihren Blick auf Rita. Vor der Magierin hielt sie den meisten Abstand, fiel sie für Lyra unter die Kategorie verrückt und gefährlich. Gleich zu Beginn, als sie auf diese Ansammlung von skurrilen Köpfen gestoßen war, überfiel sie Rita und war drauf und dran, ihren geliebten Exphere für sich in Beschlag zu nehmen. Worüber Rita auch sprach – irgendein Wort wie Blastia fiel, weiß Martel was damit gemeint war – Lyra verstand kein Wort. „Ich kann ihn einfach nicht finden…“, flüsterte Lyra. Traurig wandte sie sich vom Sternenhimmel ab und nahm dankend ihre Portion des Abendessens entgegen. „Ihn?“ Estelle hatte ihre Worte wahrgenommen und fragte verwundert nach. „Aurion, den hellsten Stern am Firmament.“ Verwundert blickten sie ein halbes Dutzend Augenpaare an und Lyra wurde klar, nun etwas Falsches gesagt zu haben. „Aber Vesperia ist doch der hellste Stern!“, korrigierte Karol und bekam von seinen Freunden Recht zugesprochen. „Ves…peria?“, wiederholte Lyra und musste ihr Entsetzen erstmal hinunterschlucken. Oh Martel, wo war sie hier bloß gelandet? Special: Don't they realize? ---------------------------- „Kann mir jemand mal die Beziehung der beiden erklären?!“ Inzwischen war eine gute Woche vergangen seitdem Lyra das Glück zuteil wurde, dieser äußerst seltsamen Gruppe begegnet zu sein. Mehr oder weniger konnte sie sich mit allen Personen anfreunden und stellte unter dem Strich fest, dass es sich um einen zufällig zusammengewürfelten Haufen von Individuen handelte, die nun mehr oder weniger ein ähnliches Ziel verfolgten. In dieser kurzen Zeit fiel ihre Aufmerksamkeit jedoch oftmals auf zwei Personen, deren Verhalten zueinander interessant war, zumindest für den Beobachter. „Nun ja…“ Estelle wusste nicht so recht, wie sie ihre Erklärung in Worte fassen sollte. Judith lächelte einfach wohlwissend vor sich hin, während Yuri die Schultern zuckte. „Waren die beiden schon immer so zueinander?“, fragte Lyra weiter in der Hoffnung, dieses Mal eine Antwort zu erhalten. Unauffällig deutete sie dabei auf das Häufchen Elend von einem alten Mann, der schon wieder von Rita K.O. geschlagen wurde. „Um genau zu sein, ja.“ Karol gab den Versuch auf, sich mit Repede zu beschäftigen und wandte sich den anderen wieder zu. Er seufzte und sein unzufriedenes Gesicht verdeutlichte, wie gerne er nun endlich weiterreisen würde. „Es war halt immer schon so.“, fügte er noch hinzu und lachte schlussendlich: „Die beiden kann niemand ändern.“ „Jetzt sagt mir nicht…“ Vor so viel Blindheit verspürte Lyra den Drang, ihre Handfläche gegen die Stirn zu schlagen. „Dieses Katz und Maus Spiel der beiden findet seit jeher statt und keiner von euch hat auch nur eine Kleinigkeit bemerkt?“ Lyra starrte in ahnungslose Gesichter. Einzig Judith behielt ihr Lächeln. „Ich geb' es auf.“, brummte die Schwertkämpferin und überflog mit ihren Augen die Szene hinter sich. Widerwillig half die Magierin Raven auf die Beine, die Wut über seinen unnötigen Kommentar stand ihr noch ins Gesicht geschrieben. „Gib ihnen noch etwas Zeit.“ Lyra schreckte auf, als sie plötzlich Judith sprechen hörte. Völlig unbemerkt hatte sich die Kritya an ihre Seite gestellt. Judith kicherte: „Außerdem wird es dann lustiger, je weniger nun davon wissen.“ „Hm.“ Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Special: Short tempered ----------------------- Bereits bevor die Wege der Zwillingsschwertkämpferin jene von Yuris Gruppe kreuzten existierte die ein oder andere Kombination innerhalb der Kameraden, die man partout vermeiden sollte. Doch mit Lyra wurde es nun explosiv, vor allem, wenn eine temperamentvolle Magierin ins Spiel kam. „Fireball!“ „Da-ne-ben~!“ Wütend knurrte Rita und wiederholte den Spruch ihres geliebten Feuerzaubers, nur um die Kämpferin ein weiteres Mal zu verfehlen. Sie hasste es zugeben zu müssen, dass Lyra einen verdammt flinken Körper besaß und ausweichen konnte wie ein Wiesel. „L-Leute, muss das sein?“ Karols schüchterner Versuch, doch noch etwas Frieden in die Angelegenheit zu bringen, ging nach hinten los. Ein beidseitiges „Halt die Klappe!“ reichte für ihn vollkommen aus, um den Rückzug anzutreten. Wie es so weit kommen konnte, vermochte keiner zu erklären. Zu banal war die Affäre, als hätte sie jemand realisieren können. Doch nun standen sie hier und sahen ihre einzige Möglichkeit darin, die beiden Hitzköpfe austoben zu lassen. „Lyra-Liebling!“ Es gab Menschen, die sich im Hintergrund halten konnten, um unnötiger Gefahr zu entgehen und dann gab es jene Sorte Mensch, die sich – vor Naivität oder Dummheit sei dahingestellt – direkt in die Schusslinie platzierte. Raven zählte zu den Letzteren. Lyras Nackenhaare stellten sich auf und als sie den Arm des alten Mannes um ihren Körper spürte, durchzuckte sie ein kalter Schauer. Nein, sie empfand keine Antisympathie gegenüber Raven, nur war ihr dieser vertrauliche Umgang suspekt. Lyra gefiel dies ganz und gar nicht. Rita noch weniger. Es dürfte nun wahrhaftig das erste und letzte Mal gewesen sein, dass sich die beiden temperamentvollen Mädchen dermaßen einig sein konnten: „Fireball!“ Am Anfang war das Licht ----------------------- „… und deswegen ist das Ergebnis dieser Gleichung x – 1y². Verstanden?“ Rotbraune Augen, die rötliche Färbung schien sich gegenüber der Braunen durchgesetzt zu haben, glitt von Zeile zu Zeile der mathematischen Aufgabe bis sie schlussendlich am Ergebnis haften blieben. „Ähm, na ja.“ Peinlich berührt kratzte das Mädchen sich am Kopf. Sie sollte schon die Wahrheit sagen, richtig? Ihr Freund und Klassenkamerad, seines Zeichens Elf und der Magie bewandt, hatte immerhin versucht, das Problem auf verständliche Weise zu erklären und zu lösen. Versucht, wohlgemerkt. „Ly~ra!“ Genius, besagter Elf, drängte auf eine Antwort. Obgleich er auch einfach nur auf sein Gefühl hätte hören brauchen. Die dritte Person im Raum, ein Mädchen mit langen blonden Haaren, konnte sich das Kichern nicht verkneifen. „Schon gut, schon gut. Ich habe es nicht verstanden.“, gab Lyra schlussendlich geschlagen zu. Mathematik zählte einfach nicht zu ihren Stärken. Genauso wenig wie die meisten anderen Schulfächer. Genius seufzte. Er hätte es erwarten sollen. Er hätte es einfach erwarten sollen. „Selbst Collet lacht wieder über dich.“, murmelte er und zauberte mit seinen Worten einen bestürzten, wenngleich auch wütenden Ausdruck auf Lyras Gesicht. „Kinder.“ Ein zartes Klopfen war an der Zimmertür zu vernehmen, ehe die Hausherrin das Zimmer der Jugendlichen betrat. „Sensei!“ Die Mädchen erhoben sich aus ihren Sitzen und verbeugten sich. Refill Sage. Sie war die Professorin der Kinder in Iselia und zugleich auch Genius ältere Schwester. Dementsprechend entpuppte sie sich auch als Elf. Ihr Spezialgebiet umfasst Heil- und Lichtmagie. „Es wird schon langsam dunkel.“ In den meisten Situationen war Refill eine überaus ruhige und besonnene Person, solang eine gewisse Grenze nicht überschritten wurde. Ihr sanftes Lächeln unterstrich diese Beschreibung perfekt. „Lyra, bringst du bitte Collet nach Hause?“ „Natürlich, Sensei.“ Im Grunde hätte Refill die Bitte nicht extra aussprechen müssen. War es doch Alltag für das Mädchen, ihre Freundin Collet innerhalb des Dorfes zu eskortieren. Nicht, dass eine Gefahr im verschlafenen und vom Iselia Wald verstecktem Dorf auf Collet warten würde. So war es ganz und gar nicht. Jedoch genoss sie einen besonderen Status, der weit über die Grenzen des Dorfes hinausging. Sie war die Auserwählte von Sylvarant. Vor langer Zeit existierte ein gigantischer Baum, der die Quelle allen Manas war. Ein Krieg brachte dem Baum den Tod: er vertrocknete und starb. Das Leben eines Helden wurde an seine Stelle gesetzt. In ihrer Trauer über den Verlust zog sich die Göttin in den Himmel zurück. Die Göttin befahl den Engeln: „Ihr müsst mich aufwecken, sollte ich schlafen, denn sonst wird die Welt zerstört.“ Die Engel brachten die Auserwählte zur Erde, die sich zum Turm begab, der den Himmel berührte. Und dies war der Beginn der Welterneuerung. So in etwa lautete die Legende dieser Welt. Jene Legende, die sich um Collet drehte. Sie war die Auserwählte der jetzigen Generation – und mehr denn je sehnten sich die Menschen aller Länder nach der Auserwählten. Leid herrschte auf jedem Fleckchen der Welt, hervorgerufen von den Desians – eine Gruppe von Halbelfen, die in ihren Farmen Menschen quälten und für sich arbeiten ließen. Hinzu kam das immer geringer werdende Mana und die überaus schlechten Ernten in den letzten Jahren. Mana war für die Menschen auf Sylvarant fast noch wichtiger als Wasser. Jene Kraft wurde nicht nur für Zauber, sondern für das Leben selbst benötigt. Ohne Mana könnten keine Pflanzen gedeihen und kein Lebewesen auf längere Zeit überleben. Es war die Luft allen Seins. Nun war es sicherlich mehr als verständlich, dass alle Hoffnung der Menschen auf Collet, die mithilfe des Rituals der Welterneuerung zu einem wahren Engel aufsteigen und das Mana regenerieren würde. All diese Verantwortung haftete auf den Schultern des Mädchens, die… „Kyaa~a!“ Bums Klirr …sich so gar nicht wie eine Auserwählte verhielt. „Oh, nein!“ Es war wieder passiert. Collets tollpatschige Seite kam zum Vorschein. Sie stolperte über ein imaginär vorhandenes Hindernis und brachte mit sich eine überaus alte Urne zu Fall. Der Wert dieses antiken Stückes… nun ja. Er vermag im Auge des Betrachters zu liegen. Genauer gesagt im Auge der Betrachterin. „Äh… Collet, Lyra. Ich bringe euch zur Tür.“ Genius vergeudete keine Sekunde und drängte die Mädchen aus der Räumlichkeit. Es sollte kein Moment zu früh gewesen sein. „Neiii~hii~heiiin!“ Refills entsetzter Schrei verursachte bei allen Hörern eine Gänsehaut. „Morgen ist es also soweit, eh?“ Morgen, an Collets sechzehnten Geburtstag, würde das Orakel von Cruxis erscheinen und das Mädchen als Auserwählte anerkennen. Die Reise der Welterneuerung begann mit jenem Moment. „Ah…“ Collets Blick wandte gen Himmel. Gezeichnet von der untergehenden Sonne erstrahlte dieser in Feuerrot. „Wir werden die Reise gemeinsam durchstehen.“ Lyra ergriff die Hand ihrer Freundin. „Und gemeinsam unsere Ziele erreichen.“ Für den Hauch einer Sekunde vereiste Collets Gesichtsausdruck. Jener Moment, kürzer als ein Wimpernschlag, blieb für Lyra unbemerkt. „Ja!“ Collet entgegnete ein warmes Lächeln. „Die Welt wird erneuert… und unsere Suche wird erfolgreich sein!“ „Ah…“ Lyra schloss ihre Augen während ein melancholisches Lächeln auf ihren Lippen verweilte. Die Suche. „Magst du nicht mit uns Abendessen, Lyra?“ „Oh?“ Überrascht vom abrupten Themenwechsel seitens des jüngeren Mädchens musste die Angesprochene einige Sekunden nachdenken. Mehrmals die Woche fand sie sich als Gast der Familie Brunel wieder. Auch dieses Mal würde sie die freundliche Einladung gerne entgegennehmen, wäre da nicht noch eine Kleinigkeit. „Ähm… weißt du…“ Oh, das Mädchen hatte schon wieder etwas vergessen. Schande über sie. „Du bist heute mit dem Kochen dran, richtig?“ Und schon wurde sie von Collet entlarvt. „Hehe, genau.“ Seufzen. Sie konnte unmöglich bei den Brunels zu Abend essen und ohne jegliche Speisen nach Hause kommen. „Ich bitte Großmutter einfach, dass sie für dich und Dirk-san etwas einpackt.“ „Wirklich? Danke, Collet. Du rettest mich!“ Freudestrahlend warf sich Lyra um den Hals ihrer Freundin. Beide Mädchen kicherten und alberten den Rest des Weges herum, bis sie vor Collets Haustür standen. Lyra folgte ihr ins Haus und begrüßte höflich Collets Großmutter Phaidra. Sie gehörte zu den ranghöchsten Priestern des Tempel von Martel. Jener Tempel, nördlich gelegen von Iselia auf heiligem Boden, wo die Welterneuerung offiziell beginnen wird. Der Ort, wo das ersehnte Orakel erscheinen wird. „Ich danke Ihnen, Phaidra-san.“ Bedankend verbeugte sich Lyra und nahm das Päckchen gefüllt mit Essen entgegen. Es dauerte nicht lange, da hatte Lyra das Wachtor des südlichen Ausgangs erreicht. Vielsagende Blicke wurden dem Mädchen von den freiwilligen Dorfwachen zugeworfen. Sie konnte sich schon denken, warum. „Noishe…“ Ihr Haustier, für alle war Noishe trotz seiner grünen Fellfarbe und außergewöhnlichen Größe ein Hund, hatte seit längerer Zeit bei den Toren Iselias auf Lyra gewartet und ein mulmiges Gefühl bei den Wachmännern verursacht. Niemanden von ihnen war Noishe geheuer. Im Gegenteil. Sie bezeichneten ihn sogar als Monster. „Komm. Lass uns nach Hause gehen, Noishe!“ Freudestrahlend wedelte Noishe mit seinem Schwanz. Nach Hause bedeutete für ihn nämlich auch gefüttert werden! Sein eigentlicher Hauptgrund, warum er auf Lyra gewartet hatte. Und zum Glück konnte er diesen gut für sich behalten. Wauu… Ängstlich winselte Noishe, als er und Lyra den Iselia Wald betraten. „Noishe…“ Ungläubig stemmte das Mädchen ihre Hände gegen ihre Hüften. Es gab kein einziges Monster im gesamten Wald das größer war als ihr Haustier. Und dennoch fürchtete sich Noishe vor jedem, absolut jedem Monster. „Noi-“ Weiter kam Lyra nicht. Wo einst Noishe an ihrer Seite stand, sah sie nur mehr eine Staubwolke. „Jedes Mal dasselbe…“, brummte sie und ging alleine den Weg hinein in den Wald. Im Gedanken wunderte sie sich dennoch aufs Neue, wie ihr Hund es dann bloß schaffte, zum Haus zu gelangen. Irgendwo musste er doch durch den Wald laufen, oder? Das regelmäßige Geräusch von Lyras Schritten verstummte, als sie an einer kleinen Kreuzung ankam. Ihr Blick wandte sich nach links. Die Iselia Menschenfarm. Der Bürgermeister von Iselia hatte mit den hiesigen Desians einen Nichtangriffspakt geschlossen. Zum Schutze der Auserwählten, wie er offiziell verkündete. Niemand konnte sich vorstellen warum, doch die Desians willigten ein. Natürlich stellten sie eine Bedingung: Niemand aus dem Dorf darf der Farm zu Nahe kommen. Würde sich dennoch jemand finden lassen und Ärger verursachen, wird der Pakt als ungültig erkannt und Iselia wäre Geschichte. „Diese Desians…“ Lyra ballte ihre Hände zu Fäusten. Zum Teil konnte sie die Vorsichtsmaßnahme des Bürgermeisters verstehen, aber dafür so viele Menschen leiden lassen? Einfach die Augen verschließen und so tun, als würde nichts passieren? Nein. Sie hatte nicht das Recht, diese Fragen zu stellen. Immerhin befolgte das Mädchen auch nur brav die Anweisungen – die des Bürgermeisters und ihres Ziehvaters, Dirk. Niemals dürfte sie sich von einem Desian sehen lassen, hatte er ihr immer gesagt. Es wäre zu ihrer eigenen Sicherheit. „!“ Lyra hörte Stimmen. Zwei Desians befanden sich gerade auf Patrouille und kamen auf sie zu. Wenn sie Glück hatte, würde sie davonkommen. Wenn sie bloß… „Stehen bleiben!“ „Verdammt…“ Augenblicklich hielt sie an. Jetzt hieß es den Schaden so gut wie möglich zu vermindern. Sie zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich zu den Halbelfen um. „J-ja, meine Herren?“ Ihr lag es gar nicht, jetzt und hier freundlich mit diesen… Tyrannen zu reden. „Was hast du hier zu suchen, minderwertiges Wesen?“ Minderwertiges Wesen, genau. Desians sahen die Menschen wie Dreck an. Nur sie, die Desians, waren natürlich überragender. Eine Rasse, die weit über den Menschen stand. … Meinten sie zumindest. „Morgen wird endlich das Orakel erscheinen, Marble-san.“ Ein kleiner Junge hatte sich clever an Desians und Überwachungskameras vorbei schleichen können und stand nun – getrennt durch einen Zaun – einer älteren Dame gegenüber. Die Jahre, die die Frau schon in der Menschenfarm verbringen mussten, zeigten sich in ihrem Gesicht wider. Und obwohl – oder gerade weil – sie die Strapazen in der Farm über sich ergehen lassen musste, behielt Marble immer ein warmes und aufrichtiges Lächeln. Jenes Lächeln, das sie nun ihrem kleinen Besucher schenkte. „Ich danke dir, Ge-“ „Stehen bleiben!“ Marble wurde unterbrochen. Geschockt blickte sich der Junge um. Obwohl der Aufschrei der Desians so laut war, befand sich die Patrouille am Ende des Weges. „Bring dich lieber in Sicherheit.“ Marble wollte kein Risiko eingehen und den Jungen unnötig in Gefahr laufen lassen. „Ich werde morgen wieder kommen. Gleich nach dem Orakel!“, versprach er und huschte ins Gebüsch. Keine Sekunden später konnte Marble kein einziges Rascheln mehr vernehmen. „Pass auf dich auf, Genius.“ „Ich bin auf dem Weg nach Hause, verehrte Desians.“ Lyra verschränkte ihre Arme und blickte mit erhobenen Augenbraun zu ihren Gegenübern. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um den Desians gegenüber nicht abwertend zu wirken. … und verdammt. Zu gerne würde sie ihr arrogantes Verhalten zurechtweisen! „Hier im Wald?“ Wenn Lyra könnte, hätte sie sich nun auf die Stirn geschlagen. Nein, natürlich auf Tethe’Alla, dem Mond! „Ja. Ich bin die… Ich wohne bei dem Zwerg namens Dirk. Um nach Hause zu kommen, muss ich den Iselia Wald durchqueren.“ Die Erklärung klang logisch und auch einleuchtend. Hinzu kam, dass sie der Wahrheit entsprach. Das war den Desians klar, auch wenn es ihnen nicht gefiel. „Was ist hier los?!“ Augenblicklich schreckten die beiden Halbelfen zusammen und wandten sich binnen Sekunden zu der vierten Person, die das Szenarium betreten hatte. „Forcystus-sama!“ Ah. Anscheinend der Anführer des Haufens. „Dieses Mädchen durchquerte den Wald und ha-“ „IST auf dem Weg nach Hause.“, beendete Lyra den Satz. Genervt verdrehte sie ihre Augen. Wer weiß was diese Fußsoldaten von Desians erzählt hätten, wenn sie nicht eingegriffen hätte. „Hm.“ Forcystus begutachtete skeptisch das Menschenmädchen. „Mir gefällt dein Verhalten nicht.“ Trotz seines drohenden Untertons brach Lyra den Blickkontakt nicht ab. Sie würde standhaft bleiben, egal was auf sie zukam. „Doch für heute müssen wir dich leider gehen lassen. Ihr beiden!“ Und wieder zuckten sie zusammen. Welch Angst in ihrem Gesicht zu erkennen war! Schadenfroh musste Lyra grinsen. „Es scheint, dass wieder jemand unbefugtes das Grundstück betreten hat. Überwacht die Umgebung, sofort!“ „Jawohl Sir!“ „Oyaji, ich bin wieder da.“ Das Haus von ihr und Dirk war nur spärlich beleuchtet. Einzige Lichtquelle kam von einem weit entfernten Zimmer. Regelmäßiges Hämmern erklang. Dirk arbeitete immer noch. Lyra stellte das Essen am einzig vorhandenen Tisch im Wohnbereich ab und nahm etwas für sich und Noishe mit. „Oyaji, ich bin wieder weg.“ Noishes Stall war direkt ans Haus angebaut. Überall lag Heu verstreut, worauf der Hund Nacht für Nacht schlief. Wau, wau! Hungrig kam er Lyra entgegen gesprungen. Oh, wie lang er darauf gewartet hatte! „Ja, ja. Du kleiner Feigling.“ Entschuldigend winselte Noishe und blickte sein Frauchen mit bettelnden Augen an. Natürlich konnte sie nicht standhaft bleiben. „Argh, du Nervensäge!“ Lachend wuselte Lyra sein Fell und aß gemeinsam mit ihren Hund zu Abend. Bald wurde es komplett finster. Einzig die Sterne erstrahlten am Firmament. Es war an der Zeit, den heutigen Tag dem Rücken zu kehren und in einem erholsamen Schlaf auf das Morgen zu hoffen. Doch bevor die Sonne über Sylvarant wieder aufgehen sollte, erhellte ein anderes Licht den Nachthimmel. Ein Licht, dessen Zentrum der Tempel von Martel war. (Interlude) Collet: Worldregeneration ------------------------------------- Diese Welt… Eine Welt, in der die Menschen tagein, tagaus mit derselben kleinen Hoffnung lebten. Eine Hoffnung, deren wahren Hintergrund sie nicht kannten. … so dunkel sie auch ist … Die Bürde auf den Schultern der jungen Auserwählten schien schier unendlich. Doch sie lächelte – für das Volk von Sylvarant. … ich möchte sie beschützen. Die Welterneuerung? Reine Fassade. Die Auserwählte? Reines Schauspiel. Sie möchte die Welt nicht um den Willen der Menschen auf Sylvarant erneuern. Sie alle… Auch wenn die Auserwählte mit jeder einzelnen Person litt, so waren die Beweggründe zur Welterneuerung selbstsüchtiger Natur. Diese Welt… „Collet!“ Ihre Freunde... sie gaben Collet die Kraft, bis zum heutigen Tag zu leben. Zu leben, um eine verlorene Welt zu retten. … für dich wird sie ein neuer, blühender Planet werden. Der Tempel im Blutbad --------------------- „Lyra!“ „Urgh…“ Müde wälzte Lyra sich zur Seite und verdeckte ihren Kopf mit der Decke. Bei Martel, wer weckte sie hier so früh? „Ly~ra!“ Irgendwie hörte sich das nicht nach Dirk an. Wer…? „Lighting!“ Immerhin musste man Genius zugestehen, dass er seinen Zauber ganz schwach einsetzte. Es war nicht mehr als ein leichter Blitz, ein kleines Fünkchen! „AAHHH!“ Und dennoch saß Lyra nun kerzengerade in ihrem Bett. Gelegentlich zuckte ein Arm und die Haare standen ihr zu Berge. „Genius, was sollte das?!“ „Collet! D-das Orakel, es…!“ Genius musste in Ruhe durchatmen, um sich wieder zu fassen. „Das Orakel ist vor Sonnenaufgang erschienen!“ Vor Sonnenaufgang? Lyra blickte aus dem Fenster. Schätzungsweise war es nun zwischen acht und zehn Uhr. „Und wo ist Collet jetzt?“ „… weg.“ „WAS?!“ „Hm?“ Ein wenig schläfrig blickte Dirk an die Decke des Erdgeschoss. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Lyra nun aufgewacht war. „ARGH! Wie konnte das passieren?!“ Innerhalb einer Bewegung und weniger Sekunden sprang Lyra aus dem Bett, suchte ihre Klamotten zusammen und kämmte, während sie die Stufen ins Erdgeschoss stürmte, ihre Haare. Genius hinkte hinterher und versuchte ihr die Situation zu erklären: „Collet sollte auf die Priester des Tempels warten, während Phaidra-sama und Onee-san die Zeremonie im Tempel vorbereiten. Doch Collet wurde nie abgeholt.“ „Oyaji, meine Schwerter!“ Lyra hatte schon überall gesucht, doch sie konnte ihre Zwillingsschwerter nirgends finden. Und das gerade jetzt! Dabei war sie sich sicher, sie gestern in ihrem Zimmer abgelegt zu haben. „Collet… machte sich alleine auf dem Weg.“ Der Schlusssatz von Genius’ Erklärung, denn den Rest konnte man sich selbst denken. Genius, der bei Collets Vater Frank über die Situation aufgeklärt wurde, eilte danach so schnell ihm seine Füße trugen zu Lyra, um sie zu holen. „Aye, aye. Hier deine Schwerter, Lyra.“ Dirk überreichte seiner Tochter sein neustes Werk. Er hatte die nächtlichen Stunden genutzt und ihre Schwerter überarbeitet. Ihre Klingen waren nun schärfer denn je. Die polierten Schneiden spiegelten kristallklar die roten Augen des Mädchens wider. Augen, die Verzweiflung und Sorge ausstrahlten. „Dann los!“ Lyra schnappte Genius am Handgelenk und zog ihn mit sich. Ohne Rücksicht riss sie die Eingangstür auf und wandte sich im Laufschritt zum Stall. „Noishe!“ Der Hund erkannte den Ton seiner Besitzerin und eilte zur Stelle. Irgendetwas musste passiert sein, so viel war er sich sicher. „Treffpunkt vor Iselia. Dann weiter zum Tempel von Martel.“ Eine knappe Anweisung und Hund und Frauchen samt Anhang machten sich in unterschiedliche Richtungen auf. „Warum… läuft Noishe nicht… durch den Wald?“, fragte Genius keuchend. „Die Monster. Er hat noch immer Angst vor ihnen.“ „Und wie…“ „Frag nicht. Ich weiß es selbst nicht.“ In all der Eile ließ Lyra keine Abkürzung im Wald aus. Selbst als sie der Menschenfarm beachtlich nahe waren stoppte sie nicht für einen Umweg. Bei Martel, es gab nun Wichtigeres! „Da!“ Wie geplant wartete Noishe nahe des Waldrandes auf die beiden Jugendlichen. Sie sprangen auf den Rücken des Tieres und auf vier Pfoten ging es nun in Windeseile zum eigentlichem Ziel: dem Tempel! „Warum ist es im Dorf so still?“ Oh, wie hatte Genius gehofft, dass Lyra die Frage nicht stellen würde. Schuldig blickte der junge Elf zur Seite, wagte kaum die Antwort auszusprechen. „D-Desians sind durchmarschiert.“ „… Das ist ein Albtraum. Ein bei der Göttin verdammter ALBTRAUM!“ Immer mehr Wut und Verzweiflung sammelte sich in Lyra an. Wie konnte innerhalb so kurzer Zeit so viel schief gehen? Der Tag des Orakels wurde schon seit Wochen, nein seit Monaten geplant! Und überhaupt! „Wir haben doch einen Nichtangriffspakt! Verdammte Desians! Verdammte Halbelfen!“ Genius zuckte zusammen und musste heftig schlucken. Ja, eigentlich bestand noch der Pakt. Wenn nicht… „Halbelfen… ob alle so sind?“, flüsterte er gegen den Wind. Seine Frage erreichte Lyras Ohren nie. „Wo ist die Auserwählte?!“ Tapfer hielt Phaidra-sama die Stellung am Tempeleingang. Selbst als ein Trupp von Desians mit ihrem Anführer – ein stämmiger Halbelf und mindestens zwei Köpfe größer als der Durchschnitt – sich der alten Priesterin entgegenstellten, ließ sie nicht locker. Keiner von ihnen durfte den Tempel betreten. Oh, Martel! Lass Collet – wo auch immer sie nun war – in Sicherheit sein. „Ich wiederhole mich nicht noch einmal.“ Botta, besagter Anführer, schritt vor. „Wo ist die Auserwählte?“ „Ich bin hier.“ Klong Vor Schreck und Entsetzen fiel Phaidras Gehstock um und durchbohrte die plötzliche Stille. Hämisch lachend drehten sich die Soldaten um. Tatsächlich, da stand die Auserwählte von Sylvarant. Collet Brunel, bewaffnet mit ihren beiden Chakrams, bereit zu Kämpfen und in ihr Verderben zu laufen. „Tötet sie.“ Ein einfacher Befehl und doch erfüllte er die Soldaten mit Freude. „Kyaaaaah!“ Ein markerschütternder Schrei ertönte in der Luft. Ein kalter Schauer glitt über den Rücken von Lyra und Genius. „COLLET! Bei den letzten Metern vor den Tempelstufen sprang Lyra von Noishe und lief voraus. „Genius, halte dich im Hintergrund! Sie dürfen dich noch nicht bemerken!“ „Verstanden!“ Schwer atmend lag Collet am Boden. Ihre Kleidung war vollkommen verdreckt von der Erde um den Tempel und ihr linker Ärmel verfärbte sich blutrot. Ihre Chakrams hatte sie schon vor wenigen Momenten verloren. „Collet!“ Botta hielt Phaidra-sama auf, bevor sie handeln konnte. Angeschlagen fiel sie auf ihre Knie und hielt sich den schmerzenden Magen. Konnte sie… konnte sie wirklich nur zusehen, wie die Auserwählte – ihre eigene Enkelin – vor ihren Augen starb? „Fahrt. zur. Hölle!“ Zwei Schwertklingen blitzten auf und ehe sich der einzige Speerträger der Desians versah, durchbohrten die Klingen seinen Körper. Blut spritze in alle Richtungen und beschmutzte Lyras Hände. Mit einem Ruck zog sie ihre Schwerter aus dem leblosen Körper des Desians und warf den restlichen Feinden einen Blick des Todes zu. „Wer…?“ Botta war ganz und gar nicht über die plötzliche Besucherin erfreut. „Sie hat einen Exphere!“ Einer der beiden restlichen Soldaten zeigte zu ihrer rechten Hand. Ein blauer Stein, umgeben von einer goldenen Fassung, zierte den Handrücken des Mädchens. Ohne diesen Stein hätte Lyra nur einen Bruchteil ihrer Kräfte. Expheres. Ihre Herkunft war unbekannt. Sie vervielfachten die eigene Kraft immens. Jedoch musste ein Exphere mit einer speziellen Schutzfassung angelegt werden, da der Stein dem Träger sonst Schaden zufügte. Er würde seinem Träger Energie entziehen, ihn krank machen und letztendlich den Tod bringen. Expheres ohne eine Schutzfassung durften auch nicht ‚einfach so’ wieder entfernt werden. Der Fluss des körpereigenen Manas wäre überfordert und vollkommen unkontrolliert. Eine Katastrophe seinesgleichen würde geschehen. „Kümmert euch zuerst um den Störenfried und bringt danch die Auserwählte um!“ „Jawohl Sir!“ Ein verzweifelter Akt seitens der Halbelfen. „Grave!“ Eine Stimme aus dem Nirgendwo. Plötzlich erbebte unter Desian-Fußsoldat Nummer zwei die Erde. Erdbrocken schossen hervor und zwangen ihn zu Boden. „Demon Fang!“ Lyra gab dem angeschlagenen Soldaten mit ihrem Demon Fang – eine Energieladung, die den Boden bis zum Gegner entlang glitt – den Rest. Jetzt war es nur mehr ein Kämpfer übrig – oh, und wie diesem die Angst im Gesicht geschrieben stand! „Collet!“ Genius nutzte die Deckung, die ihnen Lyra gab, und eilte zu seiner Freundin. Zum ersten Mal verfluchte er seine Magie, die rein auf Angriffszauber spezialisiert war und niemanden heilen konnte. „Es geht schon. Mir geht es gut, keine Sorge.“ Collet lächelte den jüngeren Elfen an und setzte sich auf. Ihre Hand drückte sie immer noch gegen die Wunde des verletzten Arms um die Blutung zu stillen. „Nichts ist mir dir in Ordnung…“ Genius’ Flüstern ging im Schrei des Soldaten unter, der schwer verletzt zu Boden sank. Wenige Atemzüge gewährte ihm sein angeschlagener Körper, ehe der letzte Hauch von Leben ihn verließ. Entschlossen blickten alle drei – Lyra, Genius und Collet – zu Botta. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und wütend knurrte er. Der Halbelf trug keine Waffe mit sich wodurch die drei Freunde schon glaubten, gewonnen zu haben. Doch ein letztes Ass hatte der Halbelf noch im Ärmel. „Ihr habt noch lange nicht gewonnen!“ Woher sein so genanntes Ass kam, konnte sich keiner erklären. Viel zu entsetzt waren die drei, als dass diese Frage ihre Gedanken gekreuzt hätte. Botta hatte noch einen Kämpfer bei sich, der furchterregender und stärker war als die drei vorherigen Soldaten zusammen. Er wirkte einen ganzen Kopf größer als der Anführer und sein massiver Körper war nur so von Muskeln übersät. Ohne ein Zeichen von gewaltiger Anstrengung schwang er seinen Morgenstern, der gemäß seinem Besitzer eine Spezialanfertigung in Übergröße war, durch die Luft. Ein Hauch von einem Schlag dieser Waffe würde ausreichen, und die befestigte Eisenkugel mit dornigen Stacheln würde einem den Leib zerschmettern. Als Reservewaffe trug er ein Schwert so groß wie Collet selbst am Rücken. In ihrer Abwehrstellung stand Lyra schützend vor dem Monstrum und ihren Freunden. Ein Triumph über diesen Gegner war von allen Seiten aus betrachtet so gut wie unmöglich. Aber war es ihnen möglich, einfach so zu fliehen? Erstens konnten sie Phaidra-sama nicht ihrem Schicksal überlassen und zweitens wartete das Orakel! Collet musste es heute, wenn nicht sogar sehr bald in den nächsten Stunden, empfangen. Andernfalls würde sie nicht als Auserwählte anerkannt werden und die Welterneuerung rückte in weite Ferne. „Lyra!“ Collet stand nun wieder auf ihren Beinen. Genius befand sich schützend an ihrer Seite, sein Kendama fest umschlossen. Er merkte, wie die Angst seinen Körper durchströmte. „Bleib in Deckung, Collet. Du bist geschwächt!“ Ein verzweifelter Versuch, wie eine Heldin zu wirken? Nichtsdestoweniger durfte Lyra das Mädchen nicht in den Kampf schicken. Sie war schon verletzt und hatte genug durchgestanden. „Nicht dafür.“ In jenem Moment wurde Lyra endlich klar, worauf Collet hinauswollte. Es war eine Möglichkeit. Vielleicht sogar die Letzte, die sie hatten. „Okay.“ Die Zwillingsschwertträgerin ließ eine ihrer Klingen zurück in die Schwertscheide gleiten. Die Griffe ihrer Schneiden waren nicht dafür gedacht, mit zwei Händen umfasst zu werden. Doch das würde sich sehr bald ändern… Collet löste ihre Hand – sie hatte sich bereits blutrot eingefärbt – von der Wunde und umschloss ihre andere Hand. Beide Mädchen konzentrierten ihr Mana und versuchten, in Einklang zu kommen. Auch Menschen können ihr Mana begrenzt für ‚Zauber’ einsetzen. Manchen war es möglichen, einen Heilzauber zu erlernen. Viele menschliche Kämpfer nutzten ihr Mana jedoch, um sich ganz besondere Fähigkeiten anzueignen. Meist in Verbundenheit mit einer Verstärkung ihrer Waffe. Vereinzelnd war es auch möglich, sein Mana mit dem einer anderen Person zu kombinieren und gemeinsam eine noch stärkere Attacke auszuführen. In Unisono. Lyras Schwert leuchtete auf und begann seine Form zu verändern. Die einstige Klinge wurde nun zu einem langen und gelben Stiel, dessen Ende nun ein quietschroter Hammerkopf zierte. Die Waffe erinnert nun stark an eine XXL Version von Collets Pow Hammer. Eine Attacke, wodurch das Mädchen einen kleinen, spielzeugähnlichen Hammer heraufbeschwört und auf den Gegner fallen ließ. Belustigt beobachtete das Muskelpaket die Situation. Wie niedlich, dass sie ihm mit einen solchen Hammer schlagen wollten! „Hmpf.“ Das Mana hatte sich verfestigt und der erschaffene Hammer war zu 100% einsatzbereit. Trotz seiner Größe fühlte sich die Waffe federleicht an. Lyra nutzte die offene Haltung ihres Gegners – und ohne es zu wissen auch seinen Leichtsinn – und stürmte auf ihn los. „Sword…“ „…Hammer!“ Die flinke Kämpferin landete einen Volltreffer. Mit all ihrer Macht schlug sie auf dem Kopf ihres Feindes ein. Sie spürte den ungeheuren Druck der Kräfte, die hier aufeinander prallten. Unzählige Schwingungen hallten in ihren Gelenken wider, ließen ihre Arme erzittern und die Konzentration schwinden. Der Hammer verwandelte sich wieder in das gewohnte Schwert zurück. Lyra sprang einige Meter rückwärts auf Sicherheitsabstand und ließ dabei ihren Gegner nie aus den Augen. Seit dem Schlag hatte er sich keinen Millimeter mehr gerührt. Hatten sie womöglich… gewonnen? „Kahahahaha!“ Er lachte. Nachdem er mit aller Kraft, die die beiden Mädchen noch hatten, eine über den Kopf gezogen bekam, konnte er immer noch lachen. Dieser ‚Schlag mit dem Hammer’ hatte ihm nur eine kleine Platzwunder auf die Stirn gezaubert. Mehr nicht. „Verdammte-kyaa!“ Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, die man diesem Kraftbolzen nicht zutrauen würde, schwang er seinen Morgenstern und attackierte Lyra. Sie schaffte es halbherzig mit einem Schwert die gefährliche Kugel abzublocken, doch der Rückschlag warf sie zu Boden. „Wind Blade!“ Ein scharfer Wind fügte dem Riesen mehrere Schnitte zu. Ein wenig Blut entkam aus den Wunden, doch war nicht weiter sichtbar. Genius Versuch blieb ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es war das Ende von allen drein. „Aus dem Weg!“ Keiner der drei Gefährten konnte wahrnehmen, wer nun das Kampffeld betrat. Das gänsehauterregende Geräusch einer Metallklinge, die einen Körper entzweit, erfüllte die Luft. Unschuldige Augen wandten sich dem Bild des Grauens ab, das sich ihnen erbot. Der Körper des Halbelfs war sorgfältig geteilt und badete in seinem eigenen Blut. Allen voran stand ein Schwertkämpfer, geprägt von seiner Erfahrung und gewachsen an seinen Reisen, mit seinem Schwert in der Hand. Immer noch tropfte Blut von der Klinge. Niemand wagte es, seine Augen zu früh zu öffnen. Selbst als Phaidra-samas erleichterter Seufzer zu hören war, wollte niemand seine Augen wieder der Realität widmen. Sie wollten nicht, auch wenn sie mussten. (Interlude) Lyra: It seems too familiar --------------------------------------- „Aus dem Weg!“ Lyra konnte ihren Augen nicht trauen, als er den Kampf betrat. Die Welt wurde plötzlich still, hörte gänzlich auf sich zu drehen. Der vom Schmerz erfüllte Schrei ihres Gegners, als seine Klinge durch den Körper des Halbelfs glitt, verfloss ohne jemals von Lyra gehört zu werden. All das Blut, welches aus den beiden Körperhälften spritze, existierte für Lyra nicht. Ihre Welt bestand nur mehr aus der Silhouette des Söldners, der ihnen gerade das Leben gerettet hatte. Die Silhouette. Und dieses unbehagte, seltsame Gefühl. Woher kam diese Vertrautheit? Das Orakel erscheint -------------------- „Aus dem Weg!“ Ein mysteriöser Kämpfer erschien und rettete die drei Freunde als auch die Priesterin vor dem sicheren Tod. Botta war spurlos verschwunden und nur mehr die Leichen der vier Desians erinnerten an das Massaker vor dem Tempel von Martel. Der Söldner widmete sich der Wunde an Collets Arm. Ein tiefer und sorgfältiger Schnitt, der dem Mädchen schon unheimlich viel Blut gekostet hatte. „First Aid.“ Warmes Mana floss in Collets Körper über und die Schnittwunde schloss sich allmählich. Nicht einmal eine Narbe erinnerte mehr an die Verletzung. „D-danke.“ Collet verbeugte sich um ihrem Dank Ausdruck zu verleihen. Phaidra-sama kam hinzu, um auch ihren Dank dem Söldner auszusprechen. „Ich danke Ihnen, dass Sie die Auserwählte gerettet haben.“ „Also ist dieses Mädchen die nächste Auserwählte…“, sprach der Mann für sich, als er Collet abmusterte. Unbemerkt von den beiden Erwachsenen schlossen sich nun auch Genius und Lyra der Gruppe an. Beide kamen mit wenigen, kaum merkbaren Kratzern davon. „Ist das… ein Exphere?“, fragte Genius. Ähnlich wie bei Lyra befand sich ein kleiner Kristall am Handrücken des Söldners, umgeben von einer goldenen Schutzfassung. „Ah…“, bejahte das Mädchen. Ihre Augen wanderten hinauf zu seinem Gesicht. Irgendetwas… faszinierte sie an ihm. „Wer bist du?“ „Lyra!“ Phaidra-sama ermahnte ihr respektloses Verhalten. Der Schwertträger schien ein solches Benehmen durchaus gewohnt zu sein. So wandte er sich an die Fragestellerin und antwortete während er zu ihr hinab blickte: „Kratos. Ein reisender Söldner.“ Nach der kurzen und knappen Vorstellung entgegnete er zur ältesten Priesterin: „Wenn Ihr mich ausreichend bezahlt nehme ich ohne weiteres den Job an und beschütze die Auserwählte.“ „…“ Phaidra überlegte, obgleich ihr Gefühl ihr sagte, Kratos den Schutz ihrer Enkelin anvertrauen zu können. „Ich sehe keine andere Wahl. Bitte beschützen Sie die Auserwählte.“ „Phaidra-sama!“ Lyra war durchaus unskeptisch der Sache gegenüber. Viel mehr ärgerte das Mädchen die Tatsache, dass sie überrannt wurde. „Kind…“ Collets Großmutter schenkte der kleinen Kämpferin ein Lächeln. „Du kennst bereits meine Meinung darüber.“ „A-aber der Bürgermeister hat es so entschieden! Und außerdem…“ War es auch Lyras Wunsch, genau. „Das ist kein Spaziergang.“, brummte Kratos. „Geh mit deinem kleinen Freund nach Hause. Ihr habt schon mehr als genug getan.“ Oder auch nicht, wie Kratos Blick vermuten ließ. „Hmpf.“ Am liebsten würde Lyra diesen arroganten Schnösel sonst wohin verdonnern. Sie war kein kleines Kind mehr und wusste, was nun auf sie zukommen würde. Der Tempel würde die Erste der Prüfungen für Collet sein, die sie während ihrer Reise durchstehen musste. „Pöh. Ihr wollt mich nur nicht dabei haben weil ihr meint, ich sei euch im Weg?“ Genius wusste nicht, worauf Lyra nun hinaus wollte. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und ging mit erhobenem Haupt an Kratos vorbei. „Dann werde ich euch einfach folgen.“ Ihre Lippen umspielte ein selbstsicheres Lächeln. Nein, Lyra würde nicht so schnell aufgeben und das Feld räumen. Phaidra seufzte doch Kratos’ Miene schien etwas erhellt. „Du bist ein stures Kind.“ Ein feiner Übergang zu einem Lächeln konnte man im Gesicht des Söldners erkennen, wenn es auch nur für einen Atemzug lang zu sehen war. „Und das ist auch schon ihre beste Eigenschaft…“ Genius’ verlor selbst dann nicht sein Grinsen, als er von Lyra kreuz und quer gejagt wurde. Nein, ein Spaziergang würde die Eskorte zum Altar im Tempel nicht werden. Nicht für Kratos und seine Nerven. Collet kannte den Tempel schon von klein auf. Jedes Jahr fand hier zu ihrem Geburtstag eine Zeremonie statt. Um das Orakel zu empfangen, mussten sie auf die oberste Ebene. „Das ist… der Tempel…“ Sowohl Genius als auch Lyra hingegen waren zum ersten Mal im Inneren des Tempels und bestaunten die heilige Stätte. „Seid auf der Hut.“, mahnte Kratos. Die Atmosphäre im Tempelinneren war alles andere als heilig. Gefahr lag in der Luft und hinter jeder Ecke konnte ein Monster lauern. „Unheimlich…“ Mit beiden Händen hielt Genius sein Kendama fest an sich gedrückt. Er hielt sich nahe an Lyra und Kratos. Collet, sie ging einige Schritte voraus, stieg die Stufen der untersten Ebene hinauf, als würde sie den Treppen in ihr eigenes Zimmer folgen. Sie kannte den Weg in- und auswendig und war oberflächlich betrachtet die Ruhe selbst. Jedoch klopfte ihr Herz wie wild. Die Herzschläge wurden immer schneller, je näher sie dem Altar kam. „Collet, warte!“ Das Mädchen hielt an und wandte sich um. Sie hatte nicht realisiert, wie schnell ihre Füße sie zum Ziel tragen wollten und ein gewaltiger Abstand entstand zwischen der Auserwählten und ihren Aufpassern. „Es tut mir Leid.“, entschuldigte sie sich und passte fortan auf, nicht wieder im Gedanken zu versinken. Nur wenige Monster erschienen auf dem ersten und wichtigen Pfad der Auserwählten. Die letzten Stufen waren gemeistert und die oberste Ebene des Tempels erreicht. „Das ist der Altar.“, bestätigte Collet die unausgesprochene Frage. Sie schritt voran und betrachtete den roten Kristall in Karoform. Ihr Cruxis-Kristall. Angeblich wurde sie mit diesem Kristall in der Hand geboren. Seither ruhte er 16 Jahre hier im Tempel und wartete auf ihr Kommen. Und nun war es soweit. „Huh!“ Der Kristall reagierte auf seine Besitzerin. Er strahlte auf und mit ihm der Altar. Gleißendes Licht umgab die Halle der obersten Ebene. Niemand konnte diesem Licht standhalten und alle verdeckten schützend ihre Augen, bis die Strahlen verblassten. Sanfte Engelsfedern schwebten herab und lenkten die Aufmerksamkeit auf die neue Person im Raum: einem Engel. „Ich bin Remiel, ein Engel des göttlichen Gerichts.“ Seine Stimme hallte in der Räumlichkeit wider und verpasste seinen Zuhörern eine Gänsehaut. Er lenkte alle Blicke voller Ehrfurcht auf sich. „Die Zeit ist gekommen die Göttin Martel aus ihrem tiefen Schlaf zu erwecken.“ „Die Göttin Martel erwecken…“, murmelte Genius. Die Geschichte klang ident mit der Legende, die sie in der Schule gelernt hatten. Collet verneigte sich vor Remiel. Der leuchtende Kristall schwebte auf sie zu, verfestigte sich an ihrem Hals und wurde auf magische Weise von einer goldenen Fassung umschlossen. Während des Schauspiels umschloss Lyra ihre Hände und betete – für sich und für Collet. „Von diesem Moment an wurde Collet zur Auserwählten des Manas ernannt. Wir von Cruxis segnen dieses Event und schenken Sylvarant den Turm des Heils.“ Die Kontinente erbebten und Winde aus allen Himmelsrichtungen konzentrierten sich nun auf einen einzigen Punkt. Im Zentrum Sylvarants erstrahlte ein sonderliches Licht und ein Turm aus massivem Stein kam zum Vorschein. Ein Ende des eindrucksvollen Bauwerkes war nicht in Sicht. Es schien, als würde der Turm die Erde mit dem Himmel verbinden. „D-der Turm des Heils!“ Das Zeichen des Segens. Das Erscheinen des Turms war für alle Menschen ein Aufatmen. Er schenkte allen den Glauben, dass die schreckliche Zeit bald zu Ende sein würde. „Collet, Auserwählte des Manas. Erhebe dich!“ Collet tat wie ihr gesagt wurde. Mit entschlossenem Blick sah sie auf den Engel. „Auserwählte des Manas! Breche die Siegel die den Turm des Heils beschützen und erklimme seine Stufen in den Himmel!“ „Demütig nehme ich die Aufgabe an, Remiel-sama.“ Der Engel nickte als Bestätigung. „Wir von Cruxis werden Dir mit jedem gebrochenen Siegel weitere Engelskräfte gewähren. Sobald du als Engel wiedergeboren wirst, wird diese zerbrochene Welt regeneriert.“ „Ich schwöre bei meinem Leben, dass die Welt regeneriert wird.“ Die Welt regenerieren… Damit wäre Sylvarant gerettet. Lyra konnte sich nicht erklären warum, doch die Vorstellung wirkte auf sie unrealistisch. Es klang so unwirklich, dass sie alle Teil dieses Abenteuers waren. „Reise als erstes in den Süden zum Siegel des Feuers und offenbare am Altar deine Gebete, Auserwählte.“ „Ja, Remiel-sama.“ Ein letztes Mal lächelte der Engel und erhob sich in die Lüfte. „W-wartet!“ Collet schien noch eine Frage auf dem Herzen zu haben. „Remiel-sama! S-sind Sie wirklich mein Va-“ „Reise zum Siegel des Feuers.“, wiederholte Remiel. Seine Gestalt war schon verschwunden, doch seine Stimme hallte immer noch wider: „Meine geliebte Tochter, Collet.“ Der letzte strahlende Funke erlosch und ließ daran zweifeln, dass jemals ein Engel im Tempel erschienen war. Einzig der Turm des Heils zeugte von Beweis dieses Events. „Collet?“ Das blonde Mädchen sank zusammen und schien die Information noch zu bearbeiten. Remiel war wirklich ihr Vater! Das Gerücht, dass die Auserwählte in Wirklichkeit die Tochter eines Engels war und nicht mit ihren menschlichen Eltern verwandt, entpuppte sich also als wahr. „Mir geht es gut, keine Sorge.“, versicherte Collet und stand wieder auf. „Insgeheim hatte ich damit gerechnet. Dennoch… war ich nun erstaunt.“ „Verständlich.“, meinte Genius. Auch er hatte von den Gerüchten gehört und nun zu wissen, dass es sich um die Wahrheit handelte, verdutzte auch ihn. „Lasst uns nun zurück, Auserwählte.“ Die Jugendlichen hatten Kratos ganz und gar vergessen. Er schaffte es seine Anwesenheit so perfekt in den Hintergrund zu stellen, dass ihn niemand mehr wahrnahm. „Ja!“ Collet folgte ihrem Bodyguard zum Teleporter und verabschiedete sich von Genius und Lyra: „Wie sehen uns dann später in Iselia!“ „Ah!“ Beide winkten dem Mädchen hinterher und sahen ihr nach, bis sie verschwand. Eine unausgesprochene Stille herrschte über wenige Minuten, bevor ein entsetzter Schrei das Schweigen durchbrach. „Verdammt!“ Lyra – Ursprung des Schreis – konnte nicht besser als sich auf den Kopf zu schlagen. „Der Bürgermeister bringt mich um! Ich hätte mit Collet zurück ins Dorf eskortieren sollen!“ Genius kicherte halbherzig für sich. Oh ja, das versprach nach einer Menge Ärger. „Muhahaha! Fantastisch!“ „Huh?“ Verwundert blickte Lyra zurück zum Tempel von Martel. Entweder halluzinierte das Mädchen oder sie hatten eben eine sehr angsteinflößende Lache gehört. „Genius, hast du das auch eben gehört?“, fragte sie ihren kleinen Freund. „W-was meinst du?“ Nervös ergriff der Elf Lyras Arm. „Beeilen wir uns lieber, damit wir noch rechtzeitig nach Iselia kommen!“ „Huh, okay.“ Nachdenklich kratze Lyra sich am Kopf. Diese Stimme… warum klang sie so verdächtig nach Refill-sensei? „… dann ist es nun ausgemacht. Wir vertrauen den Schutz der Auserwählten Kratos, Refill und Lyra an.“ Die Tür des Hauses der Brunel Familie zeugte von unglaublicher Resistenz. Nicht zuletzt wurde sie äußerst schwungvoll geöffnet und – Schande über den fehlenden Türstopper – knallte die Holztür gegen die Mauer. „Ähm… Entschuldigung?“ Mit ihrem Auftritt zogen Lyra und Genius erboste Blicke auf sich. Wohl war die einzige, die über diese Situation lachen konnte, Collet selbst. Der Höflichkeit zugute konnte sie ihr Lachen auf ein Kichern reduzieren. „Lyra!“ Oh. Wie erfreut der Bürgermeister doch war, die junge Kriegerin wieder zu sehen! … oder auch nicht. „Ich weiß, ich weiß! Ich hätte mit Collet zurückkommen sollen und bin viel zu spät!“ Sie war sich ihrer Fehler bewusst, wollte nicht weiter darauf eingehen und versuchte, das Thema zu wechseln: „Wurden gerade die Details der Weltregenerationsreise besprochen?“ „Ah, die Reise wird morgen beginnen. Zur Sicherheit der Auserwählten werden Kratos, Refill und du-“ „Dem stimme ich nicht bei.“, unterbrach Kratos den Bürgermeister von Iselia. Schweigend hatte sich der Söldner bisher die Diskussion angehört. Doch nun war es an der Zeit, dass er auch seine Meinung dazu preisgab. „Die Kämpfe beim Tempel sind nicht vergleichbar mit den Gefahren, die außerhalb dieses Dorfes lauern.“ Sein fester Blick, der alles und jeden binnen Sekunden durchschauen konnte, haftete am Bürgermeister. „Ein Kind mit auf diese Reise zu nehmen gefährdet das Unternehmen nur.“ Besagtes ‚Kind’ stampfte aufgebracht an Kratos’ Seite und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. „Ich bin mir den Gefahren ‚da draußen’ durchaus bewusst, Mister!“ „Du magst dir dessen zwar bewusst sein, doch du kannst dich nicht den Gefahren stellen.“ Lyra hielt seinem Blick stand. Auch wenn sie das Gefühl hatte zu wissen, was Kratos ihr nun predigen würde. „Du hast es nicht einmal geschafft, die Auserwählte vor ein paar Desians zu schützen. Wie willst du sie dann auf der Reise zur Welterneuerung beschützen?“ Kratos Einwand war durchaus gerechtfertigt. Unzählige Auserwählte vor Collet waren auf ihren Reisen gescheitert. Entweder wurden sie Opfern der Desians oder kamen ums Leben, als sie dieses oder jenes Siegel brechen wollten. „Ich werde sie einfach beschützen…“, murmelte Lyra. Ihre Augen zierte nicht mehr der einstige standhafte Blick von eben. Natürlich war sie nun verunsichert. Doch ihre Wut dem Erwachsenen gegenüber hatte sie bald wieder gepackt. Sie forderte Kratos zu einem Kampf heraus um zu beweisen, dass sie durchaus stark genug war. Sekunde für Sekunde verging, wandelte sich in eine Minute nach der anderen um, doch Kratos erwiderte die Herausforderung nicht. Stumm, mit einem Blick den Lyra nicht deuten konnte, sah er dem Mädchen in die Augen. Sie tat es ihm gleich und wie zwei kleine Sturköpfe wollte niemand nachgeben. Wahrscheinlich wären sie ewig in dieser Position verharrt, wäre Phaidra-sama nicht dazwischen gegangen und hätte die Situation geschlichtet. Sie bat Lyra und Genius nach Hause zu gehen, da es allmählich spät wurde. Es konnte noch immer morgen entschieden werden, ob nun die Gruppe mit oder ohne Lyra aufbrechen würde. „Hmpf.“ Lyra trat ins Freie und atmete erstmal tief die frische Abendluft ein. „… und er hatte auch noch Recht.“, flüsterte Lyra. Genius hatte seine Freundin nicht verstanden und blickte sie verwundert an. „Und das ist das Schlimmste! Er hatte auch noch Recht!" „Es tut mir Leid mich einmischen zu müssen, Kratos-san.“ Alsbald Lyra, Genius und hinter ihnen Collet das Haus verlassen hatten, sprach der Bürgermeister offen und ehrlich mit den angeheuerten Söldner. „Doch es ist eine fix beschlossene Sache, dass Lyra die Auserwählte auf ihrer Reise beschützt und unterstützt.“ Phaidra wandte sich von ihrem Bürgermeister ab und behielt ihre Gedanken für sich. Vielleicht hätte sie diese doch laut aussprechen sollen. Sie gehörte zu den wenigen, die gegen die Entscheidung des Bürgermeisters war. „Warum bestehen Sie darauf, das Mädchen in ihr Verderben laufen zu lassen?“ Genau diese Frage schwebte Phaidra-sama im Kopf. Haargenau diese Frage, die nun Kratos an den Bürgermeister stellte. „Es wurde vor Jahren so beschlossen.“, mehr hatte er nicht zu sagen. Für ihn war die Diskussion nun beendet. Quietschend öffnete sich die Haustür der Brunel Familie und Collet verließ das Haus. „Es tut mir Leid!“, entschuldigte sie sich bei ihren Freunden, obgleich sie eigentlich keine Schuld traf. „Col- pass auf!“ Zu spät. Ihre ungeschickten Füße stolperten über die Stufen vor dem Haus und brachten das Mädchen aus dem Gleichgewicht. Reflexartig – immerhin war dies kein ungewöhnliches Szenarium – fing Lyra ihre Freundin auf. „Ein Tollpatsch wie eh und je.“ Verlegen kicherte Collet. Eine zarte Röte stieg ihr ins Gesicht. Auch wenn es in ihrer Natur lag, so war es immer wieder aufs Neue unangenehm für Collet, Umstände dieser Art zu bereiten. „Und das Beängstigende ist: Nur sie kann uns retten.“ Genius spitze Bemerkung brachte die Gruppe zum Lachen und vergessen waren die Ärgernisse der letzten Minuten. „Da fällt mir ein!“ Genius suchte in seiner Tasche nach einem kleinen, schön dekorierten Beutel. „Alles Gute zum Geburtstag, Collet! Ich hoffe, dir schmecken die selbst gemachten Kekse.“ Natürlich. Aufgrund der ganzen Aufregung wegen des Orakels und der Desians waren weder Genius noch Lyra dazu gekommen, dem Geburtstagskind zu gratulieren. „Argh!“ Lyra zog ihr nur zu bekanntes ‚Verdammt, ich hab was vergessen!’ Gesicht. „Co-Collet?“ Spitzbübisch wurde Lyra von beiden Seiten angeblickt. „Na, etwas vergessen?“, fragte Genius. „A-ah…“ Unbeholfen kratzte sie sich am Kopf. „D-das Geschenk aber nur. Nicht den Geburtstag!“, versuchte sie schönzureden und gab zu: „Es liegt noch Zuhause auf meinem Zimmer.“ Lachend sah Collet über die Macke ihrer Freundin hinweg. „Ich komme es mir später abholen.“, sagte sie einfach und entschuldigte sich, da sie nun wieder zurück ins Haus musste. Um genau zu sein hatte sie sich nur hinaus geschlichen, um ein paar Worte in Ruhe mit ihren Freunden wechseln zu können. „Ich werde dann auch langsam mal nach Hause gehen.“, verkündete Lyra. Genius zögerte einen Moment. Erst als Lyra sich entfernte, hielt er sie auf: „W-warte!“ Verwundert drehte sich Lyra zu ihrem Elfenfreund. „I-ich werde dich begleiten.“, beschloss Genius. Auf ihre Frage ‚Warum?’ erklärte er schließlich: „Ich möchte noch einen Freund besuchen. Es liegt direkt auf dem Weg.“ Ein klein wenig stutzte Lyra. Genius hatte einen Freund außerhalb Iselias? Weder sie noch Collet wussten etwas davon. Und es sollte auch noch direkt auf ihren Weg liegen? Da war doch nichts. Außer… „Los!“ Genius drängte das Mädchen, weiterzugehen. Als erstes holte er noch frische Sandwichs von sich Zuhause und brach gemeinsam mit seiner besten Freundin zum Wald von Iselia auf. (Interlude) Genius & Lyra: Friendship expanded ---------------------------------------------- Egal wo er auch hinkam, Genius blieb ein Außenseiter. „Onee-san?“ „Das hier ist unser neues Zuhause, Genius.“ Iselia. Da Refill eine Stelle als Lehrkraft an der örtlichen Schule zugeschrieben bekam, durfte Genius ebenfalls – mit zarten vier Jahren – die Schule besuchen. Es war nicht einfach für ihn, da er sich seiner Umgebung und dem Niveau anpassten wollte und er war – seiner Schwester sei Dank – bei weitem belehrter als durchschnittliche Kinder in seinem Alter. Und die Schule war voller durchschnittlicher Kinder. Zumindest fast. Zwei Mädchen stachen aus dem Rest der Menge hervor, und sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die Jüngere der beiden war ruhig und eher auf Distanz, keinesfalls aber in einer unfreundlichen oder unhöflichen Weise. Sie lächelte geradezu durchwegs und übertrug ihre gute Laune auf das Umfeld. Die andere Schülerin konnte man keinesfalls als typisches Mädchen von nebenan beschreiben. Eher eine Rebellin, ein Wildfang, gar Wirbelwind. Genius mochte sie auf Anhieb nicht. Sie war in der Lage, offen und direkt mit jeder Person zu sprechen wobei sie nicht darauf achtete, wie ihre Worte auf andere wirkten. Sie könnte ohne mit der Wimper zu zucken jedermann eine verbale Ohrfeige verpassen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Sie legte wenig Wert auf den Unterricht und es kam nicht selten vor, dass sie plötzlich für einige Tage der Schule fern blieb. Die genaueren Hintergründe wusste er nicht und ging es ihm auch nichts an, doch natürlich hatte er so seine Vermutung. Ein unausstehliches und unhöfliches kleines Gör, und dabei war sie 5 Jahre älter als er. Es war Genius ein Rätsel, warum diese beiden als beste Freundinnen galten und unzertrennlich waren. Gegensätze ziehen sich an, schön und gut. Aber dieser Fall war doch zu heftig in seinen Augen. „Genius?“ Ah, da war es wieder. Seit jeher baten ihn Mitschüler um Hilfe. Anfänglich waren es nur ein bis zwei Nachfragen und Genius hatte wahrlich seine Freude daran, helfen zu können. Doch in der Zwischenzeit vermehrte sich das ‚ein Paar’ zu gut einem Dutzend. „Jetzt lasst den Kleinen doch mal in Ruhe! Sonst ignoriert ihr ihn ja auch.“ Mit Bedacht zeigte Genius seine Verwunderung, dass gerade jene Person ihre Stimme gegen die Menge erhob. Wobei, eigentlich hätte ihm das nicht erstaunen sollen. Gerade sie wäre doch die erste gewesen. „Als ob du deine Aufgaben gemacht hättest, Lyra!“ „Natürlich nicht.“ Diese Selbstverständlichkeit in Lyras Stimme, ein Ohrenschmaus für den Zuhörer. „Und ich steh auch dazu.“ Das selbstsichere Grinsen war fast schon als ihr Merkmal zu bezeichnen. Fühlte sie sich etwa Stolz, ihre Hausaufgaben nicht erledigt zu haben? Genius konnte es sich nicht erklären, aber dieses Verhalten verstimmte ihn. Mürrisch blickte er auf seine Klassenkameradin, nur um geradewegs eine aufs Haupt von ihr zu bekommen: „Und du Zwerg, lass dir nicht immer alles gefallen!“ Es juckte Genius in den Fingern, seine frisch erlernten Zauber an Lyra auszutesten. Doch er war und blieb lieber der Klügere und ignorierte ihre Ansprache. Es ging sie nichts an, Punkt. An Tagen, an denen Lyra der Schule auf unergründliche Weise fern blieb, nutzte Genius die Gelegenheit und freundete sich mehr und mehr mit Collet an. Er wusste die Blicke seiner Klassenkameraden nicht zu deuten, die aufgrund seiner freundschaftlichen Nähe zum besagten Mädchen vermehrt auf ihn geworfen wurden, und ignorierte diese. Es kam, wie es kommen musste. Befreundet zu sein hieß nämlich auch, mal das ein oder andere gemeinsam zu unternehmen. Gemeinsam, zu dritt. Genius, Collet und Lyra. Oh du schöne Freude! Es bedarf wohl keiner Erwähnung, dass Letztere nicht nur die Idee zu diesem Ausflug hatte, sondern auch noch den Bestimmungsort festlegte: Zu den hochgewachsenen Wiesen nahe des Waldrandes. „Collet und ich waren früher immer dort!“ Die jüngere der beiden Mädchen zeigte eine Spur weniger Euphorie über die geplante Unternehmung und wechselte einige flüsternde Worte mit Lyra. Genius konnte nur wenige Wortfetzen wie ‚Dorf’ und ‚nicht verlassen dürfen’ erlauschen. Er vermag sich keinen Reim darauf zu machen und versuchte, als es beschlossene Sache war, sich etwas darüber zu freuen. Zu sagen, dass der erste Ausflug der drei unter keinem guten Stern stand, war durchaus galant ausgedrückt. Wobei das Unglück anfing, als sie ihre Tour um den Iselia Wald erweitert hatten. Was sollte man auch dagegen sagen? Es waren Kinder, die die Früchte der Natur entdecken und genießen wollten. Niemand konnte vorhersehen, dass sie einem in Rage befindenden Bären begegnen würden der nur darauf gewartet hat, in seine Beute zu laufen. „Noishe!“ Glücklicherweise befand sich Lyras Haustier immer in der Nähe. Nie würde der Hund seine Besitzerin auch nur länger als zehn Minuten aus den Augen lassen, sofern es die Situation nicht verlangte. Und nun galt es erstmal Collet, die ihren Fuß nicht hätte außerhalb des Dorfes setzen dürfen, sicher nach Iselia zu bringen. Eine gemeinsame Flucht würde nur missglücken. Ein solch ragewütiger Bär würde sie bis ins Dorf verfolgen und noch mehr Unheil anrichten. Glück im Unglück, dass Lyra immer ihre Trainingsschwerter bei sich hatte. Ihr Ziehvater erlaubte ihr es einfach nie, Schwerter mit scharfen Klingen zu führen. So musste sie sich mit zwei aus Holz geschnitzten Provisorien zufrieden geben. Mit Bedacht eingesetzt können sie ebenfalls zu einer tödlichen Waffe werden. Falls man zum Angriff kommen würde. Für ein zehnjähriges Mädchen konnte sie der extremen Gewalt des Bären beeindruckend strotzen, nur ihre Holzschwerter hielten der immensen Kraft an zwei Polen gleichzeitig nicht lange stand. Die erste Klinge brach entzwei. Zeitgleich zog Lyra ihre zweite Klinge zurück, um diese vor dem Bruch zu bewahren, sprang rücklings und entwich auf kurzer Distanz den Klauen des Tieres. „Du kannst doch zaubern. Mach was!“, fauchte sie Genius an, der wie versteinert das Szenario beobachtete, die Angst in seinen Augen. Was sollte er gegen ein wildes Tier dieser Größe unternehmen? Er war ein fünfjähriger, kleiner Elf bestückt mit einigen wenigen Angriffszaubern, die in seinem panischen Angstzustand relativ unnütz waren. „GENIUS!“ Sie konnte schreien soviel sie wollte, doch er rührte sich nicht aus vom Fleck. Viel eher sackte er in sich zusammen, wollte dieser brutalen Realität entgehen und verschloss Augen und Ohren. Ohne es zu wollen lenkte Lyra die Aufmerksamkeit des Tieres auf ihren kleinen Gefährten welches sich kurzerhand entschloss, Genius als Zwischenmahlzeit einzuplanen. „So nicht!“ Lyra setzte alles auf ihr letztes Holzschwert und wechselte in die Offensive. Es war der letzte Angriff, den sie mit ihrem geliebten Trainingsschwert ausführen würde. Dunkel wie die Nacht und still wie das Ende der Welt. Vielleicht war es bereits auch schon das Ende, Genius wusste es nicht. Genauso blieb es außerhalb seines Wahrnehmungsvermögens, was als nächstes geschah. Ein dumpfes Geräusch, als würde leichtes Metall auf weichen Boden fallen, gefolgt von weiteren Sekunden des Nichts. „LIGHTNING!“ Neben der Predigt des Bürgermeisters – die weitaus nicht für kindliche Ohren geeignet war, so erbost war das Oberhaupt – handelte sich Lyra eine Ohrfeige ihresgleichen ein. Rot verfärbte sich die Wange und allein vom Hinsehen fühlte man den pochenden Schmerz. Doch Lyra sagte kein Wort. Starr richtete sie ihren Blick geradeaus, blickte weder den Bürgermeister, noch Collet, noch sonst jemanden in die Augen. Sie sah einfach ins Nichts und ließ die Flüche des Mannes auf sich niederprasseln. Zum ersten Mal realisierte Genius, dass Lyra vielleicht doch kein ungehobeltes Gör war, wie er immer vermutet hatte. Im Moment der Schwäche, der Angst und des Eingestehens eines Fehlers zeigte sie auf ihre Art mehr Würde als jede erdenkliche Person. Als die Erwachsenen zum Rückweg einschlugen, löste sich Lyra aus ihrer Starre und seufzte. Vorsichtig tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre wunde Wange und zuckte augenblicklich vor Schmerz zusammen. „Au! Also wenn der alte Mann mal was gut kann, dann ist es zuschlagen.“ Im Grunde gab es keinen Anlass dafür, doch Genius musste lachen. Aus vollem Herzen lachte er, während Tränen über seine Wangen liefen. Womöglich handelte es sich um die Erleichterung, dass er weinen musste. Sein Glücksgefühl blieb ihm aber unerklärt. Bei gegebenem Anlass musste er jedoch seinen Dank aussprechen, dass ihm das Leben gerettet wurde. „Idiotin. Lass uns zurück gehen.“ Doch dafür hatte er noch Zeit. Eine ganze Freundschaft lang. Der Fall Iselias ---------------- Aufmerksam scannten die Augen der Desians die Umgebung. Im regelmäßigen Rhythmus wandte sich ihr Kopf von der Felswand zum Waldweg, der die Menschenfarm mit der einzigen Route des Waldes verband, bis hin zur Böschung. Mehr denn je waren sie darauf erpicht, einen Eindringling zu schnappen und ihm seine – aus ihren Augen gerechte – Strafe zukommen zu lassen. „Wie sollen wir da bloß vorbei kommen?“ Hinter eine Baumgruppe aus alten, breit- wie auch hochgewachsenen Bäumen ragten die Köpfe zweier Jugendlicher hervor. Lyra war es, die diese Frage im leisteten Flüsterton möglich stellte. Halbelfen, als auch reinrassige Elfen, waren für ihr erstaunlich gutes Gehör bekannt. „Lass das nur meine Sorge sein.“ Ihr kleiner Begleiter Genius schien einen Plan zu haben. Es war nun vollkommen ausgeschlossen, dass er zum ersten Mal die Farm heimlich besuchte – so wie Lyra einst auf ihren Weg hierher gerätselt hatte. „Dann bist du also der Eindringling, von dem die Desians sprachen.“ Das Mädchen erinnerte sich an ihre gestrige Begegnung mit den Halbelfen der Farm. Vom Schreck gepackt wandte sich Lyras elfischer Freund an sie, doch konnte sie ihn sofort wieder beruhigen: „Keine Sorge, sie haben die Person nicht erkannt. Sie wissen nur, dass jemand ihrer Farm häufiger einen Besuch abstattet.“ Erleichtert atmete Genius aus, auch wenn nun höchstes Gebot zur Vorsicht galt. Allein, dass die Desians eine Anwesenheit bemerkt hatten, war Grund zur Sorge. „Komm, hier!“ Genius bückte sich mehr und mehr ins Gebüsch und zog seine Freundin hinterher. Er kannte den Weg durch das Dickicht und seine Verstecke in- und auswendig. Es war, als würde er seinen normalen Heimweg bestreiten. Bald waren sie außer Sichtweite der Wachen und standen an der westlichen Umsperrung der Farm. Abseits des täglichen Treibens innerhalb der Einrichtung – Menschen wurden mit Peitschenhieben motiviert, noch schneller zu arbeiten – stand eine ältere Frau und schien auf jemanden zu warten. Ihr Haar war ergraut und Falten des Lebens zeichneten sich über ihren Körper. Wie alle Gefangenen der Farm trug sie ein einfaches Leinengewand. Lächelnd ging sie auf ihre heimlichen Besucher zu und würde sie, wenn es ihr möglich wäre, mit offenen Armen empfangen. „Marble-san!“ Durch das Gitter hindurch schenkte Genius ihr die frischen Sandwiches. Herzlich bedankte sie sich bei dem kleinen Elfen ehe sie fragend zu Lyra blickte. „Eine Freundin von dir, Genius?“ „Ah-“ – „Lyra Irving.“, kam sie Genius zuvor und stellte sich vor. Ungeachtet dessen – und die Formalitäten beiseite – berichtete Genius voller Freude von den heutigen Ereignissen am Tempel von Martel. Das Orakel sei erschienen und die Auserwählte würde morgen ihre Reise beginnen. Er versuchte mit seinen Erzählungen Marble – und im Grunde eigentlich auch allen Gefangenen der Menschenfarm – wieder Hoffnung zu schenken. Wenn das Ritual zur Welterneuerung vollzogen wurde, wären neben dem wieder regenerierten Mana auch die Desians versiegelt. Die Freiheit und Sicherheit aller lag in nicht mehr weit entfernter Zukunft. „Hm?“ Lyra hatte Genius’ Erzählungen kaum zugehört und war im Gedanken weit weg gewesen, als sie ein Funkeln auf Marbles Handrücken wahrnahm. „Marble-san, ist das ein Exphere?“ „Oh?“ Verwundert blickte Marble auf den besagten Stein „Exphere wird er also genannt?“ Bis dato wusste sie nicht, was und warum sie den Stein von den Desians bekommen hatte. „Ja, eindeutig.“, bestätigte Lyra. „Er wurde ohne Schutzfassung an die Haut angebracht.“ „Ist das schlimm?“, fragte Genius nach. „Die Schutzfassung schützt vor den negativen Wirkungen des Expheres.“ Sie deutete auf ihre eigene. „Ohne die Fassung würde der Exphere Lebenskraft entziehen und uns krank machen.“ Lyra gab eine grobe Erklärung dessen wider, was sie einst von ihrem Ziehvater Dirk gehört hatte. Wie so oft hatte sie ihm in jüngeren Jahren nicht zugehört und ignoriert, als er seiner Ziehtochter etwas erklären wollte. „D-das ist schlimm! Wir müssen etwas machen!“ „Na, ja…“ Lyra verstand durchaus die Sorge ihres Freundes, nur war dies alles nicht so einfach. „Für die Schutzfassung benötigen wir ein spezielles Erz. Und dann ist noch der Herstellungsprozess…“ Das Mädchen wurde gegen Schluss des Satzes hin immer leiser. Wie bereits erwähnt hatte sie als kleines Kind Dirk nie zuhören wollen. Da war es wohl nun mehr als verständlich, dass sie auch nichts von seinem Handwerk gelernt hatte. „Dirk wird uns sicher eine Fassung für Marble-san herstellen können!“ Oh, das war bei weitem keine Frage, die Genius stellte. Und genau diese Tatsache ließ Lyra erschaudern. „Äh… natürlich…?“ Sie vermochte nicht ihren Freunden die frischerlangte Hoffnung zu nehmen. „Ihr müsst doch nicht!“ Marble wollte keineswegs Umstände bereiten. Zudem sie auch die Kleinigkeit verschwieg, dass alle Gefangenen einen solchen Exphere ohne Schutzfassung angebracht bekamen. Und Schutzfassungen für alle Menschen in dieser Farm zu erstellen… das war doch schier unmöglich! „Weib, was ist hier los?!“ Iiik! Genius und Lyra mussten sich in Windeseile in Sicherheit bringen. Aus ihrem Versteck im Grünen beobachteten sie, wie zwei Desians Marble weg und zu den anderen arbeitenden Insassen brachten. „Sie haben uns zum Glück nicht bemerkt.“, murmelte Lyra erleichtert und wandte sich an Genius: „Lass uns gehen und unser Glück nicht weiter herausfordern.“ „Nein!“, entgegnete er und blickte besorgt als auch flehend in die Augen seiner Freundin. „Sie werden Marble unsertwegen etwas antun!“ Ein Seufzen entkam Lyras Lippen und sie verschränkte ihre Arme. „Wenn sie uns erwischen, machen wir alles nur noch schlimmer. Denk an den Nichtangriffspakt.“ „… aber sie haben bereits Collet angegriffen. Heute.“ „…“ Verdammt, der kleine Zwerg hatte Recht. Die Desians hatten den Pakt als erstes gebrochen und sie alle am Tempel von Martel angegriffen. „Du kleiner, sturer Giftzwerg.“ Gespielt beleidigt stupste sie Genius’ Stirn. „Gut, klettern wir drüben den Felsvorsprung hoch und verschaffen uns einen Überblick.“ Lyra wunderte sich schon, ob sie beide mehr Glück als Verstand hatten. Die Wachen um die Menschenfarm waren auf einen Bruchteil reduziert und nicht der Rede wert. Unbemerkt konnten sie sich ihren Weg durchbahnen und überblickten auf beschaulicher Höhe das Treiben in der Farm. „Marble-san!“ Erschrocken zuckten beide zurück, als sie Marble vor Schmerz gepeinigt gegen die Mauer kauern sahen und immer mehr Desians lachend mit ihren Peitschen auf den entkräfteten Körper einschlugen. Der Anblick… er war einfach nur grauenvoll. „Genius, greif sie von hier mit Magie an.“ Ein Befehl. Noch nie hatte Lyra jemanden einen Befehl erteilt – mit Ausnahme von Noishe. Fest umklammerte sie den Griff ihrer Schwerter. Wie gern würde sie selbst einschreiten und jeden einzelnen dieser Halbelfen in die Hölle schicken. „Greif sie nur an. Ich werde sie zum Hang locken und in die entgegen gesetzte Richtung des Dorfes fliehen.“ „S-sie werden dein Gesicht erkennen!“ „Falls sie es sehen.“ Ihr Gesicht spiegelte Kampflust wider. „Werden sie nicht lang genug leben um zu wissen, wer sie getötet hat.“ Genius schluckte und hielt sein Kendama bereit. Er wollte Marble ebenso helfen wie Lyra im Moment. Warum zitterte er also? Angst… Er hatte einfach Angst. Die Sorge, eine Kleinigkeit könnte schief gehen. Ein verhängnisvoller, winziger Fehler und das Leben aller stand auf dem Spiel. „Jetzt!“ Lyra sprang los und fand Halt an der Mauer der Farm. Zeitgleich feuerte Genius mehrere Fireballs ab und traf seine Gegner punktgenau. Wage vernahm er, wie die Desians Lyras Schatten weghuschen sahen und ihr folgten. Erschöpft ließ er sich nieder und atmete tief durch. Er… hatte es eben getan, richtig? Er hatte es geschafft, im richtigen Moment seine Magie einzusetzen und Marble zu retten… oder? Genius wusste es nicht. Was war in den letzten Sekunden geschehen? Vorsichtig kletterte er die Felswand wieder herab und schlich sich neben Gebüschen allmählich weg von der Farm. Der Elf erblickte noch den ein oder anderen Desians, der Lyra nachjagte. Genius versuchte seine Gedanken zu sammeln, doch kam zu keinem vernünftigen Ergebnis. Ein Filmriss von wenigen Sekunden hinterblieb ihm als Erinnerung an dieses Abenteuer. „Da ist noch jemand!“ „Verdammt!“, zischte Lyra und wandte sich zu ihren Verfolgern, deren Aufmerksamkeit nun der gedankenverlorene Genius anzog. Oh, dafür hatte sich der Kleine eine Kopfnuss verdient, dachte sich das Mädchen und eilte zurück. Sie schnitt den Desians den Weg ab und zog ihre Klingen. Ein Kampf war nun unausweichlich. Genauso wie weiteres Blutvergießen. Außer Puste erreichte Genius die Lichtung am Waldrand zu Iselia. Tränen standen ihm in den Augen. Die Desians hatten ihn gesehen. Sie hatten ihn und Lyra erspäht. Wie hatte er sich bloß so gehen lassen können?! „Es ist alles meine Schuld!“ „Was soll deine Schuld sein?“ „!“ Ganz mit sich selbst beschäftigt hatte Genius nicht bemerkt, dass Lyra wieder zurück war. Sie hatte den kurzen Weg über den steilen und tiefen Hang genommen. Ihrem Exphere sei Dank war ein solcher Sprung eine Kleinigkeit. „S-sie haben uns gesehen!“ „Hatten.“, korrigierte sie. „Und können es nun keiner Seele mehr verraten.“ „Es… tut mir Leid.“ Geknickt stand Genius da, sich seiner Fehler bewusst und bereit, jegliche Konsequenz zu tragen. „Au!“ Und sei es eine Kopfnuss seiner besten Freundin. „Warum entschuldigst du dich? Danke mir lieber.“ Das Lächeln fand wieder in sein Gesicht zurück und so hatte er nun wirklich Grund genug, seinen Dank auszusprechen. Zur Verabschiedung kündigte er noch an, gemeinsam mit Collet und seiner Schwester dem Mädchen noch einen Besuch abzustatten. Damit trennten sich ihre Wege. Genius eilte ins Dorf zurück und Lyra machte sich auf den Weg nach Hause. „Sie sind entkommen, Forcystus-sama!“ Japp, das sah der Leiter der Farm auch ohne die Bemerkung seines Untergebenen. „Wie konnte ein einfacher Mensch bloß einen solchen Sprung hinlegen?“ Forcystus wurde aus der Sache nicht schlau, doch er würde die Wahrheit schon noch herausbekommen. Und er wusste auch schon wie: „Überprüft die Aufnahmen am Eingangstor, sofort!“ „Jawohl!“ „Oyaji, bin wieder da.“ Gemächlich betrat Lyra die gute Stube und ließ ihren Blick umherschweifen. Sie war etwas verwundert, dass ihr Ziehvater bereits seine Arbeit beendet hatte und das Essen vorbereitete. „Du bist reichlich spät.“, merkte Dirk an und wandte sich zum Mädchen. „Na ja. War noch mit Genius so hier und da unterwegs.“ Ihre typischen Gesten – ein unsicheres Grinsen und die Angewohnheit, sich am Kopf zu kratzen – verrieten Lyras Lügen. Dem nicht genug wuchs Dirks Misstrauen noch weiter an als sie fragte: „Oyaji, du kannst doch sicher eine Schutzfassung herstellen, richtig?“ „Wofür benötigst du eine Fassung, Lyra?“ „Errr...“ Verdammt. Warum konnte Dirk nicht einfach die Frage beantworten und es sein lassen? „Na ja. Ich habe da jemanden kennen gelernt und sie...“ Beunruhigt, wie Dirk nun reagieren könnte, sprach das Mädchen immer leiser: „... trägt einen Exphere ohne Schutzfassung. Deshal-“ „Du warst auf der Menschenfarm?!“ Erbost knallte Dirk die Holzschüssel auf die Tischplatte. Erschrocken zuckte Lyra zusammen und fühlte sich – trotz der Tatsache, dass sie mindestens einen Kopf größer war als der Zwerg – erheblich klein und winzig. „W-wie kommst du darauf?“ „Zwergenregeln Nummer 11: Lügen ist der erste Schritt zum Diebstahl. Sag mir die Wahrheit, Lyra.“ Argh. Kam Dirk erstmal mit seinen Zwergenregeln, dann war alles hoffnungslos. „Ja, gut. Waren Genius und ich halt auf der Menschenfarm.“ Beleidigt verschränkte sie die Arme und blickte zur Seite. Dass eine einfach gestellte Frage gleich in einem solchen Verhör enden musste! Dirk schritt an seine Ziehtochter heran. Noch bevor Lyra wusste wie ihr geschah, hallte eine Ohrfeige durch die Räume des Hauses. Ihr Kopf war nach rechts geneigt und ihre linke Wange färbte sich allmählich rot. „Habe ich dir nicht verboten, den Desians zu nahe zu kommen?!“ Lyra hatte das Gefühl, dass selbst die Wände vor Ehrfurcht erzitterten. Sie wich einige Schritte zurück und erwiderte missbilligend, die ersten Tränen vor Schmerz in ihren Augen, Dirks Blick. „Was sollte das?!“ Trotz ihrer unzähligen Reibereien hatte es Dirk noch nie gewagt, Hand an Lyra anzulegen. „Haben sie deinen Exphere gesehen?“ Der Zwerg ignorierte ihren Gefühlsausbruch und verdrängte ihren Wunsch nach Erklärung. Für ihn zählte im Moment nur eines: Antworten auf Fragen zu bekommen. „Und selbst wenn.“ Lyra war nicht daran interessiert, eine eindeutige Antwort zu geben. „Ich bin nicht die einzige mit einem Exphere! Der Söldner von heute trägt auch einen - genau wie - ich und hat ebenfalls gegen Desians gekämpft.“ Lyra legte es darauf an, dass Fass zum Überlaufen zu bringen. Und sie schien auch ein wahres Talent dafür zu haben. „Darum geht es nicht!“, hisste Dirk. „Die Desians sind hinter deinem Exphere her – weiß Martel warum! Es reichte bei weitem, dass deine Mutter schon deswegen ihr Leben lassen musste.“ Die gesamte Wut in Lyra verflossen ins Nichts, ersetzt durch Verwirrung und Entsetzen. Das Gefühl, wenn die Zeit für einen stehen blieb, war beängstigend. Als wäre man von endloser Dunkelheit umgeben, ohne einer Spur von Hoffnung oder Wärme. „Sie... wurde ermordet?“ Ein Hauch. Nicht mehr entkam Lyras Lippen. Bis dato blieb sie im Glauben, ihre Mutter sei durch einen Unfall verunglückt. Sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte ihre vor Zorn gefärbte Trauer. Warum erfuhr sie erst jetzt von der wahren Begebenheit? Warum so? „Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?“, murmelte sie und wandte sich ab. „Du hättest mich nicht anlügen sollen!“ In ihrer blinden Wut schmetterte sie die Eingangstür auf und lief hinaus. Sie wollte an einen Ort um alleine zu sein und sich zu fassen. „Urg!“ - „...“ Nur gerade heute war es Lyra einfach nicht gegönnt, ihr Dasein alleine zu fristen. „I-ihr?“ Verwundert blickte sie zu ihren Besucher und versuchte sich mit einer gut gemeinten Geste bei Kratos zu entschuldigen, weil sie in ihm reingelaufen war. Mit ausdrucksloser Miene schien er ihre Entschuldigung mehr oder weniger anzunehmen, doch überließ das Reden Refill: „Wir möchten gerne mit Dirk-san über morgen und die Reise an sich sprechen.“ „O-okay?“ Unbeholfen schritt Lyra zur Seite und machte Platz. Ihren Augen war es bis jetzt entgangen, doch erkannte sie nun die betroffenen Gesichter aller. „Ich schätze mal, ihr habt alles mitangehört.“ Das Schweigen war Lyra Antwort genug. Wehmütig seufzte sie und bat selbst Collet, die eine Kleinigkeit mit ihrer Freundin besprechen wollte, um einige Minuten der Ruhe. „Ich werde bei Noishe auf dich warten, Lyra.“ „Danke dir, Collet.“ Okaa-san... Sanft strichen Lyras Finger über den rauen Grabstein. Die Umrisse des Grabes, die Aufschrift des Namens ihrer Mutter... all dies und noch viele Kleinigkeiten kannte Lyra in- und auswendig. Sie sank auf ihre Knie und faltete die Hände in Gebetsstellung. Sie konzentrierte ihre Gedanken und zwang sich, die abscheuliche Wahrheit zu vergessen. Blinde Wut würde ihre Mutter auch nicht mehr lebendig machen. Nichts auf dieser Welt würde diese Tatsache ändern können. Getötet. Von Desians. „Wessen Grab ist das?“ Vollkommen aus ihren Gedanken gerissen schweifte Lyras Blick vom Grabe an und begutachtete die fragende Person, Kratos. Sie hatte weder sein Kommen noch seine Anwesenheit vernommen. „Es... gehört meiner Mutter.“ Kein Zittern lag in der Stimme des Mädchens. Nein. Viel zu ruhig – als hätte nie das Schauspiel von Trauer, Wut und Verzweiflung in ihr stattgefunden – antwortete sie Kratos und stand langsam wieder vom Steinboden auf. Keineswegs ließ sie den Söldner aus den Augen, studierte neugierig sein Gesicht. Es blieb ein kläglicher Versuch, aus seiner Mimik schlau zu werden. „Und dein Vater?“ Da kannte sie Kratos erst wenige Stunden und schon sagte ihr Gefühl, wen Kratos nun meinte. Gut. Logisch betrachtet würde sich die Frage in der Frage von selbst beantworten. Aber Lyra hörte nicht auf ihr Köpfchen, das 'logisch' nur mit Mühe und Not buchstabieren konnte. „Ich weiß es nicht. Vielleicht lebt er noch. Vielleicht auch... nicht.“ Gemächlich streckte sie ihre müden Gelenke und warf all die Trägheit und Last für den Augenblick von sich. „Wird langsam Zeit. Ich sollte Collet nicht länger warten lassen.“ Der Windzug, als Lyra an ihm vorbeihuschte, kitzelte Kratos. Jedenfalls meinte er, ein Kitzel gespürt zu haben. Vielleicht war es auch vielmehr ein kalter Schauer. Dumpf hörte er die Mädchen von weitem Kichern, bis auch der letzte Laut von der Nacht verschluckt wurde. Trotz der Dunkelheit erkannten seine Augen den Schriftzug des Grabes, als wäre es heller Morgen. „... Anna.“ „So~! Und nun...“ Lyra hatte Collet still und heimlich in ihr Zimmer gelotst und kramte – länger als eigentlich nötig – in ihrer Schublade und... „Tada~!“ Übergab dem Geburtstagskind ein goldenes Kettchen, geschmückt mit einem roten Anhänger. „Lyra!“ Freudestrahlend nahm Collet das Geschenk entgegen und bestaunte das Schmuckstück. In der Vergangenheit hatte ihre Freundin sich öfter daran versucht, die ein oder andere Kette oder Anhänger herzustellen, doch fehlte es dem Mädchen in Rot an Übung. Oder auch Talent, was natürlich keiner laut sagen wollte. „Die ist wunderschö-!“ Klick Klirrr Zwei Geräusche, die man nicht unbedingt in Verbindung mit einem Goldkettchen hören möchte. Das feine Metall konnte dem Gewicht des Anhängers nicht standhalten und zerbrach in aberwinzige Teile. „ARGH! Ich könnt' mich in den Hintern beißen!“ - „Ly-“ - „Nicht mal das mag mir gelingen!“ Schmollend ließ sich Lyra auf ihr Bett fallen und starrte auf einen zufälligen Punkt in ihrem Blickfeld. „Und das gerade heute...“ Amüsiert lächelte Collet. Lyras schmollendes Gesicht, verziert mit einem Hauch Ärgernis, war einfach zu niedlich. „Danke dir, Lyra.“ Collet setzte sich auf ein freies Plätzchen am Bett. „Dieser Geburtstag... er ist der Schönste, den ich bis jetzt erlebt habe.“ „Also das wundert mich nicht!“ Augenblicklich saß das brünette Mädchen gerade auf ihrem Bett und stupste Collets Nase. „Ist auch dein erster Geburtstag ohne der traditionellen Feier im Tempel.“ Jahr für Jahr musste das Mädchen als Auserwählte der hiesigen Generation an einer eigens für sie stattfindenden Feier im Tempel teilnehmen. Nur ihre Familie und die Priester des Tempels waren befugt, Teil dieser Veranstaltung zu sein. „Doch dafür erschienen das Orakel.“ „Ah...“ … Eine sonderbare Stille schwebte im Raum. Jedes der Mädchen wollte das Schweigen auf ihre Art und Weise durchbrechen, doch wusste ein unsichtbares Hindernis dies zu untergraben. Im gleichmäßigen Rhythmus tickte die Standuhr im unteren Geschoss des Hauses. Sie zeugte von rustikaler Struktur und ihr lautes Ticken war selbst durch geschlossene Türen im gesamten Haus zu hören. Das Ticken des Sekundenzeigers verstummte und wurde vom lauten Gong abgelöst. Zehn-, elf-, zwölf-mal. Mitternacht. Collets sechzehnter Geburtstag, verblichen im unaufhörlichem Strom der Zeit, war nur mehr ein Fragment der Erinnerung. „Wir werden morgen nach Mittag aufbrechen. Unser erstes Ziel ist... Triet.“ Durchaus merkbar verkrampften sich die zarten Hände der Auserwählten in ihrer Robe. Sie erwies sich als keine gute Schauspielerin wenngleich dahingestellt war, ob sie ihr Missbehagen auch wirklich verstecken wollte oder nicht. Ihre Unsicherheit war mit jeder Faser ihres Körpers zu erkennen. „Collet...?“ „Das ist die offizielle Version.“ Behutsam, ohne ein Geräusch zu viel zu machen und die schneidende Stille zu durchbrechen, rückte Lyra an ihre Freundin und beobachtete sie eindringlich. „Offizielle Version?“, fragte sie nach. „Vor den ersten Sonnenstrahlen werden Sensei, Kratos-san und ich Iselia verlassen.“, flüsterte Collet kaum hörbar. Man könnte schon fast meinen sie hätte Angst, dass die Wände ihre Worte aufsaugen und über die ganze Welt verstreuen würden. „Und der Bürgermeister?“ Lyra wechselte ihre Position in den Schneidersitz und verschränkte die Arme. Ihr fehlte bei weiten die Energie um wie sonst so üblich einen Aufstand zu machen und zu protestieren. Zudem das letzte Wort in der Sache so und so noch nicht gesprochen war. „Er ist sich des Vorhabens nicht im Klaren. Sonst würde er es zu aufhalten wissen.“ „Tatsache.“, schnaubte Lyra. „Collet!“ Refills Ruf erklang durch das Haus und verkündete, dass die Zeit des Besuches vorbei war. Collet blieb nicht viel Zeit, also beugte sie sich zu Lyra und flüsterte die Nachricht hastig und in kurzen Sätzen in ihr Ohr. Es folgte ein zustimmendes Nicken seitens der Zuhörerin und schlussendlich wünschten sie einander eine gute Nacht. „Gar nicht mal schlecht geplant, Collet.“ „Lyra!“ „Urgh…“ Ein Déjà-vu Erlebnis? „Genius, lass mich schlafen.“, brummte sie in ihr Kissen. „Lyra!“ Wie kam es, dass die Stimme ganz und gar nicht nach Genius klang? Viel zu tief und… beunruhigend. Gar angstauslösend. BAMM Der Blitz persönlich schlug in Lyras Zimmer ein. Aus dem Schlaf gerissen und halb verstört versuchte sie die Ursache des fürchterlichen Lärms herauszufinden. Nein. Es handelte sich natürlich um keinen Blitz, obwohl die Beschreibung schon sehr treffend war. „O..yaji?“ Gähnend hielt Lyra sich die Hand vor dem Mund und schloss ihre Augen, obgleich sie diese wenige Augenblicke später wieder öffnete. Gemächlich begannen die Zahnrädchen in ihrem Kopf zu arbeiten und sie nahm den Hammer in Dirks Händen war. Das Werkzeug, wenngleich es viel mehr als Waffe diente, verfügte über eine stattliche Größe von mindestens einem Meter. Fiese Zungen würden gar behauptet, er sei genauso groß wie der Zwerg. Gebaut aus robusten Holz und der Kopf versiegelt mit einer dicken Metallschicht erwies sich der Hammer als tödliches Werkzeug – wusste man mit ihm umzugehen. „Steh auf.“ Dirks Miene war weiterhin finster. Seine Stimmung schien an die von gestern Abend anzuknüpfen und Lyra überkam ein verdammt unangenehmes Gefühl. Es war nicht die Vorahnung, dass irgendetwas schlimmes passiert war oder passieren würde, die ihr diesen Eindruck des Unwohlseins vermittelte. Die Tatsache, dass ihr Ziehvater – schon wieder oder noch immer, wie man es auch sehen mag – eine solch überaus schlechte Laune mit sich trug, war Grund der Sorge genug für sie. „Was ist los, Oyaji?“ Nickend deutete er Lyra, dass sie aus dem Fenster schauen sollte. Ein kalter Schauer überfiel sie und wie in Zeitlupe wagte sie einen Blick in die Ferne. Schwarze Rauchwolken. Iselia stand in Flammen. (Interlude) Genius: Trance -------------------------- „Genius, greif sie von hier mit Magie an.“ I-ich kann nicht! Wenn ich das tue, dann-! „Greif sie nur an. Ich werde sie zum Hang locken und in die entgegen gesetzte Richtung des Dorfes fliehen.“ Nein! Sie werden dein Gesicht erkennen und dann-! „Falls sie es sehen werden sie nicht lang genug leben um zu wissen, wer sie getötet hat.“ A-aber! Ich… ich habe Angst! Sie werden unser Dorf dafür angreifen, unser Zuhause! Onee-san… wi-wir haben hier nun endlich ein Zuhause gefunden. Ich will es nicht riskieren! „Jetzt!“ Etwas geschah mit Genius. Sein zitternder Körper entspannte sich mit einem Mal und durch seine halbgeöffneten Augen bewies er ein ungeheures Maß an Zielfertigkeit. In den Sekunden des Handelns war er die Ruhe selbst, auch wenn er sein Tun nicht realisierte. Erschöpft ließ er sich nieder, versuchte den Moment zu verstehen. Erneute Angst packte ihn. Er hatte in Trance gehandelt. Verstoßen und verdammt ---------------------- Eine unglaubliche Welle der Hitze lag über Iselia, hervorgerufen durch Flammen, die wild im Licht der Morgensonne tänzelten. Immer rapider verstummten die Schreckensschreie der Einwohner des Dorfes und fanden ihre ewige Ruhe im Staub der Zerstörung. Höhnisch lachend betrachteten dutzende Soldaten halbelfischer Herkunft die Trümmer ihres Handels und waren sichtlich stolz auf ihre glorreiche Tat. Aufmerksam blieben sie auf der Suche nach Überlebenden um auch noch ihnen den letzten Hauch von Leben zu entziehen. „Ich hab Angst!“ Fest umklammerte ein kleiner Junge seinen älteren Mitschüler. Eine handvoll Kinder konnten sich rechtzeitig verstecken und warteten geduldig, bis die Desians in die entgegengesetzte Richtung hinfort schritten. „Sshh!“, hisste Genius. Keine Sekunde lang ließ er die Desians aus den Augen und starrte selbst dann noch gespannt in die Ferne, als die Schatten ihrer Silhouetten verschwunden waren. Er konnte wirklich von Glück reden, eine Konfrontation mit den Desians bis jetzt vermieden zu haben. Wäre es zu einem Kampf gekommen, wüsste Genius nicht, ob sie es lebendig heraus geschafft hätten. „W-werden sie wieder kommen?“, schniefte ein Mädchen. Ängstlich zitterte sie und wirkte im Augenblick zerbrechlicher als eine Porzellanpuppe. Sie konnte nicht viel älter als Genius selbst sein. „Wahrscheinlich. Der Norden des Dorfes blieb noch größtenteils verschont. Zum Glück.“ Wahrlich, zum Glück. Collets Haus befand sich im nordöstlichen Eck des Dorfes und Genius konnte nur hoffen, dass es Phaidra und Frank – Collets Vater – gut ginge. Eine glückliche Fügung des Schicksals hatte es wohl eingefädelt, dass Collet mit ihren Reisebegleitern vor Beginn der Tragödie das Dorf verlassen hatte. Auch wenn sie zwei Weggefährten dafür hinter sich ließen. In seinen Gedanken versunken bekam Genius nicht mit, wie seine Kameraden um ihn herum beschlossen, im Schulgebäude Schutz zu suchen. Er realisierte ihr Vorhaben erst, als sie sich auf den Weg zur Straße begaben. Als Denker kam er zügig hinter ihre Absichten und eilte ihnen nach: „Wartet! Genau dort werden sie uns erwar-“ Genius unterbrach sich selbst und erstarrte. Schlagartig, in jener Sekunde, vernahm er eine fremde Anwesenheit. Die erbleichten Gesichter seine Freunde, die sich zu ihm wandten, schienen seine Vermutung zu bestätigten. Ein kalter Schauer jagte über seinen Rücken und binnen Sekunden, die sich in Angesicht der Gefahr wie eine Unendlichkeit anfühlten, wandte er sich zur Seite. Im Augenwinkel vernahm der Elf den Umriss einer Gestalt, bevor die im Sonnenlicht reflektierende Klinge seine volle Aufmerksamkeit erhielt. Entsetzte Schreie durchbrachen den Zauber der Unendlichkeit, wenngleich einer dieser Schreie, gepeinigt durch Schmerz, nicht zu den anderen passte. Das Schwert des Desians glitt zu Boden. Röchelnd stand der ehemalige Angreifer da und konnte keinen Muskel seines angespannten Körpers mehr bewegen. So hektisch er auch atmete, die Luft verließ immer wieder aufs Neue seine Lunge. Blut floss seinem Mundwinkel hinab und auch sein Brustleder färbte sich bereits dunkelrot. Leise, kaum hörbar, tropfte Blut von zweier Schwertklingen hinab auf die Erde. Ruckartig, als wären diese Klingen nie dagewesen, wurden sie aus den Körper des Halbelfes gezogen. Er verlor somit den letzten Halt und fiel zu Boden. Elendig hustete er, bis er an seinem eigenen Blut erstickte. Ein Blick reichte, und mehr als tausend Worte wurden gesprochen. Sowohl Genius als auch Lyra wurde mehr als zuvor klar, dass sie die Todesengel dieses Massakers waren. „Urgh!“ Präzise schwang der überragende Kopf eines Hammers durch die Lüfte. Das massive Holz, umrundet von Metallringen, zerschmetterte Knochen als wären sie feinstes Glas. Es war bei weiten nicht die humanste Art, mit der Dirk seine Gegner niederstreckte, jedoch aufgrund seiner Kondition eine durchaus effektive Methode. „Bring die Kinder und alle anderen Überlebenden zum Schulgebäude.“ Lyras blutbesudelte Schwertklingen wanderten zurück in ihre Scheiden. „Oyaji hält euch die Desians vom Leib.“ Die meisten der Jugendlichen und Kinder ließen sich dies nicht zweimal sagen und begaben sich auf den Weg zu ihrem vertrauten Gebäude. Kaum einer hörte noch die Hiobsbotschaft aus Lyras Munde: „Denn das hier war erst das Begrüssungskomitee.“ „LYRA IRVING!“ Und die weiteren Besucher ließen nicht lang auf sich warten, wie dieser unerschütterliche Ruf – eigentlich schon eher ein Gebrüll – verlauten ließ. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, hätte man das Geschrei über das gesamte Dorf hinweg gehört. Zumindest über jene Teile, die noch standen. Die Stunde der Vergeltung für den Fehler, sich auf der Menschenfarm erwischen zu lassen, schritt voran. „DU!“ Der Bürgermeister mitsamt einer handvoll Dorfbewohnern, die die Desians großzügigerweise vor dem Tode verschont hatten, standen umgeben von ihren Angreifern in der Nähe des Südeingangs. Es war kein geringerer als Forcystus selbst, Leiter der Iselia Menschenfarm, der seine Geiseln in Verwahrung hielt, wobei noch zwei weitere Desians den vor Wut sträubenden Bürgermeister im Zaum halten mussten. Zu gern hätte sich das Oberhaupt von Iselia den Gefallen gemacht und wäre Lyra an die Gurgel gesprungen. „Teufelskind!“, brüllte er. „Sieh', was du aus unserem Dorf gemacht hast!“ „Oh. Ganz allein ihr Werk war es nun auch wieder nicht.“, lenkte Forcystus grinsend ein und führte die Klinge seines Schwertes an den Hals des schreienden Bürgermeisters. Das rasierklingenscharfe Edelstahl wirkte wahre Wunder auf den ehemals tobenden Mann, der nun gebannt vor Furcht auf das Schwert starrte. Der feinste Hauch von einer Berührung genügte vollkommen, um filigran die Haut zu teilen und Blut gemächlich seinen Weg hinaus aus dem Körper bahnte. Lyra ließ die Situation geschehen und zeigte sich unbeeindruckt. Weder rührte sie sich vom Fleck noch zeigte sie eine Reaktion, als sie umzingelt wurde. Selbst die Worte des Bürgermeisters schienen an ihr abzuprallen. Ihre volle Aufmerksamkeit galt Forcystus, den sie ohne mit der Wimper zu zucken anstarrte. Es war wohl Hochmut oder einfach nur ihre Dummheit, doch grinste sie den Anführer der hiesigen Desians herablassend an. „Man trifft sich immer zweimal im Leben, Halbelf.“ Forcystus hatte sich bereits beim ersten Treffen mit dem Mädchen nicht geirrt. Ihre Art löste in ihm eine unbändige Wut aus. Wie konnte dieser Menschling nur meinen, ihm – einen der Großfürsten der Desians – mit einer solchen Abfälligkeit zu begegnen. Vor Zorn erbebte jede Zelle des Halbelfs und er gab seinen Untergebenen den Befehl zum Angriff. Der Dutzend Mann starke Trupp stürmte auf das Mädchen zu, unfähig ihren Gegenangriff vorherzusehen. „Sword Whirlwind!“ Lyra rotierte mehrmals mit ausgestreckten Schwertern um die eigene Achse. Erst mitten im Angriff realisierte sie, dass diese Soldaten einen zusätzlichen Schutz trugen, der ihren Oberkörper so gut wie unverwundbar machte. Im Dreh musste sie also ihre Schwerter tief genug platzieren, damit sie am überlangen Brustharnisch nicht abprallten und hoch genug, damit die Gürtel ihren Angriff nicht abblockten. Teilweise gelang ihr das Manöver und gut ein Drittel ihrer Kontrahenten war kampfunfähig. Weitere Soldaten wurden aufgrund der Wucht hinter Lyras Angriff zu Boden gerissen. Doch sich in Sicherheit zu wiegen war ein schwerer Fehler. Lyra fehlte es nicht nur am nötigen Reflex sondern auch an der Bewegungsfreiheit, den aufblitzenden Klingen auszuweichen. Schmerzvoll stöhnte sie auf und fuchtelte letztlich wild um sich, wobei sie ungeachtet ihrer Lage weitere Schnittverletzungen einbüssen musste. Zu guter Letzt konnte sie sich jedoch aus dieser misslichen Lage befreien und sprang einige Schritte zurück, wobei Lyra rechts leicht einknickte. Einer dieser Bastarde hatte ihr seitlich des Bauches eine tiefe Schnittwunde verpasst die nicht nur unausgesprochen schmerzte, sondern mindestens genauso schlimm blutete. „Hmpf.“ Ob Forcystus nun wollte oder nicht; er musste sich eingestehen, eine Kämpferin ihresgleichen vor sich zu haben. Sie war bereit, bis zur letzten Sekunde ihres niederträchtigen Lebens zu kämpfen. Und das sollte sie auch so haben. Gewaltsam stieß Forcystus seine Geiseln von sich, die er nun alles andere als benötigte. Provozierend auf jeden Angriff schritt er auf das nun ruhige Kriegsfeld zu, seinen linken Arm, der als Kanone umgeformt war, immer in Bereitschaft. Keine Sekunde ließen die Augen des Mädchens von ihm ab, um ja rechtzeitig seinen Angriff vorhersehen zu können. Das Verhalten des Halbelfes war weder nachvollziehbar noch schlüssig. Inzwischen bewegte er sich im toten Winkel und hatte seine Kanone alles andere als auf Lyra gerichtet. Was verdammt noch mal hatte er v-? Oh Shit. Eine verflucht schlimme Ahnung. Lyra schaffte es nicht, ihre Warnung auszusprechen, da wurde bereits das noch stehende Gebäude des Händlers in seine Einzelteile zerschossen. Brennende Holzsplitter flogen durch die Lüfte und brachten das Gras unter sich zum erglühen. In all dem Chaos aus Zerstörung und Rauch schien die Erscheinung eines kleinen Jungens in blau schon fast wie eine Einbildung. „Genius!“ Trotz der überraschenden Attacke konnte sich der Neuankömmling glücklich schätzen, nicht nur alle Arme und Beine noch am Körper zu haben, sondern auch noch so gut wie unbeschadet davongekommen zu sein. Einige Holzsplitter fügten ihm nur winzige Kratzer zu und zeigten sich in Harmonie mit den kleinen Brandwunden. „Da wir nun alle versammelt sind,“ Forcystus klang einfach zu erfreut über den Lauf der Dinge, als hätte er diese eigenhändig geplant. „Wird es Zeit, euch jemanden vorzustellen. Besser gesagt, es.“ Es. In der Größe eines tausendjährigen Baumes, der gerade seine Midlifecrisis erlebte. Noch nie hatte jemand in diesem Dorf ein solches Ungeheuer gesehen. Die Größe konnte man nur schätzen, doch riesig wäre eine überaus treffende Beschreibung. In leicht gebückter Haltung trat es hervor, die Arme aufgrund der Länge am Boden schleifend, und brüllte laut auf. Zumindest konnte man meinen, dass es brüllte, denn es verfügte weder über ein Gesicht noch über eine Mimik. Das Grölen war aber dennoch nicht zu überhören und schien eine Warnung dessen zu sein, was noch auf die Protagonisten zukommen würde. „Was ist das für ein Vieh?“ Bereit die kommenden Attacken abzuwehren trat Lyra in Stellung und versuchte den pochenden Schmerz in ihrer Seite zu ignorieren. Wie gebannt starrte sie auf den Kopf des Ungeheuers und vernahm einen bläulichen Glanz auf ungefährer Augenhöhe. Ein Stein? Und woher hatte sie das Gefühl, diesen schon einmal gesehen zu haben? Viel Zeit zum Überlegen blieb Lyra jedoch nicht. In Rage grölte das Untier und schwang die Arme in jener wirbelnden Manier um sich, wie es einst die Taktik der Schwertkämpferin mit ihren Waffen gewesen war. Mit Mühe gelang es sowohl Genius als auch Lyra, den Fängen der überlangen Armen auszuweichen. „Irgendeinen Plan?“ Genius verbarg seine Verwunderung nicht, dass gerade er von seiner Freundin nach einer Kampfstrategie gefragt wurde. „Meinst du, das Vieh hat irgendeine Schwäche?“, fragte sie weiter nach. Rein äußerlich betrachtet, und Genius versuchte in der kurzen Zeit so gut wie möglich den Gegner zu analysieren, konnte er sich keinen Reim auf eine mögliche Rettung dieser Situation machen. „Es sieht schlecht aus, Lyra.“ „Wie schlecht?“ Die Schreckensnachricht hielt Lyra nicht davon ab, wieder in die Angriffsstellung zu wechseln. „Das willst du nicht wissen.“ Sie brauchte es auch nicht zu wissen, erfuhr sie es doch wenige Augenblicke später am eigenen Leibe. Es war ein aussichtsloser Kampf. Als sei man in den Ring getreten, nur um zu verlieren. Jegliche Attacke physischer und psychischer Natur prallte ab, hinterließ nicht einmal den feinsten Schnitt. Und waren die anfänglichen Ausweichmanöver beider, Genius und Lyra, noch geschickt platziert, so wurden sie im Laufe des Kampfes träger und langsamer. Beiden verließ sowohl die Kraft als auch die Ausdauer und das Ende schien in greifbarer Nähe zu sein. Spätestens jetzt, als Lyra in einem Versuch der Abwehr ihre Schwerter verlor, mussten die kleinen Kämpfer resigniert ihrem Untergang in die Augen sehen. Forcystus, lachend sah er sich als Gewinner dieser Schlacht. Die Geiseln, die ihrem Blick dem Kampffeld nicht mehr zuwenden konnten. Und ein Bürgermeister, der in seiner ehemaligen Wut nicht wusste, ob er noch für den Schutz oder für deren Bestrafung beten sollte. All diese feinen Details waren im Anbetracht des vermeintlich letzten Angriffs nebensächlich. Den Kämpfern von Iselia fehlte es im entscheidenden Moment an Kraft oder gar an Willen und die volle Wucht des Wirbelschlags schleuderte sie beide in den nächsten Trümmerhaufen. Der Klang des dumpfen Aufpralls läutete eine nie da gewesene Stille ein, nur um vom entsetzten und besorgten Aufschrei Lyras durchbrochen zu werden. „Es… ist nichts…“, spielte Genius herunter als er versuchte, sich zu erheben. Benommen hielt er seinen Kopf und registrierte das Blut über seinem Gesicht. „Nur eine… Platzwu-“ Kraftlos kippte sein Körper nach vorne und fand sich im Staub der Zerstörung wieder, bewusstlos. Genius Niemand vermag den genauen Ablauf der nächsten Sekunden wiedergeben oder gar erklären zu können wie es dazu kam, dass gerade Forcystus von seinem getrimmten, ja er würde es sogar als loyales Geschöpf bezeichnet, fast zu Tode erdrosselt wurde. „Esss… tuut… miirrr… Leiiiddd.“ Sprach es? Die Stimme… sie wirkte so menschlich und vertraut. Zumindest meinte Lyra, sie mindestens schon einmal gehört zu haben. Und als sie im Nachhinein der Geistesblitz traf dankte sie insgeheim der Göttin, dass Genius zu dem Zeitpunkt bereits ohnmächtig war. Kabooom Und nun war es zu spät. Sie hätte weder sich selbst noch Genius beschützen können, geschweige denn das Dorf. Jetzt saß Lyra in den Trümmern eines ehemaligen Ladens und konnte sich nicht dazu bemühen, ihre Augen vor dem aufgerüttelten Staub zu schützen oder gar ihren Blick abzuwenden. Dieses Monster – nein! Es… sie war kein Monster – hatte sich selbst mit Forcystus in die Luft gesprengt. All dies, um im letzten Moment ihres Lebens ihre lieb gewonnen Personen zu schützen. „Marble-san…“ Minuten vergingen, ehe sich der Staub teilweise löste und Umrisse freigab. Gar bewusstlos lag Forcystus am Ort des Geschehens, mehr als nur zugerichtet. Die Explosion hatte unzählige tiefe Brandwunden verursacht und an vielen Stellen die Haut im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt. Doch er bewegte sich noch. Dieser Verdammte hing bissig an seinem Leben und dachte lange noch nicht daran, aufzugeben. Seine Gefolgsleute standen ihm zur Seite und halfen Forcystus auf die Beine. Wutentbrannt blickte er auf Lyra und ihrem bewusstlosen Freund. Eine solche Schande hatte er noch nie in seinem Leben hinnehmen müssen. Er wird es ihnen heimzahlen. Egal wie, wann und wo. Zitternd erhob er seinen linken Arm, die Kanone voll und ganz auf Genius und Lyra gerichtet. Beiden wäre ein Entkommen unmöglich und wären ihm vollkommen ausgeliefert gewesen, da schwankte die goldene Waffe scharf nach links ab und entleerte sich ihrer immensen Kraft. Es kam zu plötzlich, als dass jemand über diese Brutalität und diesen Skrupel hätte entsetzt sein können der dazu nötig war, um einfach so das Leben zweier unschuldiger und älterer Personen auszulöschen. Zurück blieb ein zerstörtes Dorf, eine handvoll Überlebender und zwei kindlich wirkende Jugendliche, an deren Schultern für immer die Last dieses Massakers ruhen wird. Es bedarf keinem Ausdruck jener Gefühle, die diese oder jene Person nun empfand. So schnell körperliche Wunden auch heilen möchten, die Narben der Seele werden einen auf ewig schmücken. „Amtes als Bürgermeister verbanne ich euch aus Iselia. Verschwindet!“ „Aber es sind doch noch Kinder!“ „Kinder, die das Leben Hunderter auf dem Gewissen haben.“ So begann nach einer zeitlichen Verzögerung von wenigen, nicht minder bedeutenden Stunden, eine neue Reise. (Interlude) Genius: Initial distrust ------------------------------------ Triet, die Wüstenstadt. „Dort werden wir auf Collet treffen.“ Seltsam. Woher konnte Lyra das so genau wissen? Triet zählte zwar zu den größten (und wenigsten) Wüstenoasen, doch wieso sollte Collet gerade dort regelrecht auf die beiden warten? „Woher bist du dir so sicher?“ „...“ Wie Genius dieses Zögern verabscheute. Warum war es nötig, über so eine einfache Frage dermaßen nachzudenken? „Collet... hat es versprochen. Sie wird auf uns warten.“ „...“ Versprochen, so war das. Collet hatte es ihr gesagt – nein, versprochen. Ihm nicht. „Genius?“ „Nichts. Komm, lass uns weitergehen!“ Komisch, wie einfach ein falsches Lächeln über seine Lippen kommen konnte. (Interlude) Lyra & Collet: Let's change the world! -------------------------------------------------- „Miko-sama?!“ Hektisch, gar panisch, suchten die jungen Tempeldienerinnen nach ihrer Auserwählten, Collet. Zarte sechs Jahre alt und doch wie vom Erdboden verschluckt. „Wo ist eigentlich das Mädchen, das immer bei Collet-sama ist?“ „Ihr meint Lyra?“ „P-Phaidra-sama!“ Ehrfürchtig traten die Dienerinnen einen Schritt zurück und verneigten sich vor der ältesten Priesterin. „J-ja, Phaidra-sama. Sowohl Collet-sama als auch das Mädchen sind verschwunden.“ Verschwunden klang durchaus übertrieben. Wohlwissend lächelte Collets Großmutter und wandte sich ab – zum Erstaunen aller. „Dann ist Collet in guten Händen.“ Besorgt blickten zwei himmelblaue Augen gen Osten, geradewegs auf das friedliche Dorf Iselia. Zum allerersten Mal in ihrem jungen Leben hatte Collet den Schutz ihres Heimatdorfes hinter sich gelassen und fand sich umgeben der wilden Wiesen und Felder. Hier und da wehte der Wind auf und brachte den salzigen Duft des Meeres mit sich, den das Mädchen mit ihren goldenen Haaren bislang nicht kannte. „Collet!“ „Hm?“ „Wenn wir auf die Reise gehen!“ Breit grinsend streckte Lyra ihre Arme seitlich aus und balancierte ihr Gewicht auf dem Felsen, bis sie eine sichere Position fand. Als wollte die Göttin persönlich den Anmut des Kindes unterstreichen, wehte eine kräftige Brise auf. „Dann lass uns die Welt verändern!“ Die Triet-Basis --------------- Inmitten der brennenden Mittagssonne wanderten drei einsame Gestalten gen Süden des Landes. Die Bäume beglückten das Auge immer seltener, währenddessen sich zusehends goldgelbes Gras über die sonst so felsige Landschaft erstreckte. Die ersten Vorboten der Wüste hießen ihre Gäste bereits willkommen. „Lass uns eine Pause machen.“ Lyra schulterte ihren Rücksack ab und suchte sich ein kühles Plätzchen abseits der prallen Sonne. Sie und Genius waren noch äußerst angeschlagen von ihren Kämpfen in Iselia, sodass die Reise bislang gemächlich voran ging. Die Pausen, wie auch die Fußmärsche an sich, waren durchwegs von bedrückendem Schweigen geprägt. Zu tief saßen noch die jüngsten Ereignisse, als dass Worte darüber hätten fallen können. Obgleich das Eis langsam aber sicher brach. „Ich habe mich nicht einmal von ihr verabschieden können...“ Bedrückt strich Genius mit seinem Zeigefinger über die ausgetrocknete Erde, ohne Sinn und Absicht hinter den entstandenen Zeichen. Abschied... Diese sogenannte Verabschiedung von der Heimat verlief überaus hektisch, und zwar gewollt hektisch. Nachdem beide aus dem Dorf verbannt wurden, kümmerte sich Phaidra provisorisch um die Wunden, bevor der Bürgermeister nach der Priesterin verlangte. Offensichtlich, um sie von den Jugendlichen fern zu halten. Von Dirk erhielten die jungen Reisenden nützliche Utensilien und letztlich schloss sich noch Noishe der Gruppe an. Alle drei brachen noch am selben Nachmittag auf, um schnellstmöglich von dem Ort voller bedrückender Erinnerungen wegzukommen. „Hm?“ „Von Marble-san. Ich habe sie nicht mehr gesehen.“ Spürbar zog sich Lyras Magen zusammen und unbewusst hielt sie die Luft an. Bis dato hatte sie ihre vage Vermutung Genius gegenüber nicht geäußert und hatte auch nicht vor, dies in Zukunft zu ändern. Es war und blieb eine stümperhafte Annahme von ihr, also wollte sie auch niemandem unnötig Sorgen bereiten. „Streck mal deine Hand aus.“, bat Lyra. Verwundert tat Genius wie ihm gesagt wurde und kurze Zeit drauf schimmerte eine Fassung goldgelb auf seinem Handrücken. „Was…?“ „Für den Exphere. Als Ma… das Monster sich selbst in die Luft sprengte, verlor es diesen Exphere.“ Und wenn es wirklich jener von Marble-san ist, dann bist du der Einzige, der ihn haben darf. „Er ist deinem ähnlich, Lyra.“ Neugierig betrachtete Genius seinen eigenen Exphere von allen Seiten. „Bloß ein wenig dunkler und nicht so klar.“ „Mhm.“ Geistesabwesend nickte das Mädchen. Marble, Exphere, Desians… Iselia. War dem allen wirklich ein Ende gesetzt, wenn Collet das Ritual zur Welterneuerung vollzogen hatte? „Lyra?“ „Lass uns weiterziehen.“ Stillschweigend nickte Genius ein. Solch kurze Pausen waren überaus keine Seltenheit, doch bedrückte es den kleinen Elfen doch von Zeit zu Zeit. „Weiter nach Triet?“, fragte er. „Ah.“ Die Luft wurde merklich trockener und die Temperatur stieg unnatürlich rapide in die Höhe. Hin und wieder frischte ein Föhn auf und wehte Sand in die Gesichter der Reisende. Die Wüste ließ herzlich grüßen. „Heiß.“ Schweiß bedeckte ihre Körper, brachte jedoch nicht die ersehnte Abkühlung. „Heiß. Mir ist heiß!“ „LYRA!“ Genervt erhob Genius seine Stimme. „Denkst du, ich erfriere hier?!“ „Es ist heiß! Ich bin müde und kann keinen Schritt mehr gehen!“ Ach Göttin, dieses Jammerkind. „Solange du noch quengeln kannst, kannst du auch weitergehen. Und das in Ruhe.“ „Hmpf.“ Widerwillig - denn Genius machte keine Anstalten, auf Lyra zu warten – setzte sie ihren Fußmarsch fort. Im Grunde dachte der Elf einzig sinnvoll. Wenn sie jetzt schon wieder eine Pause einlegen würden, schafften sie es nicht mehr rechtzeitig vor Sonnenuntergang nach Triet. Und er konnte getrost darauf verzichten, in der Wüste zu übernachten. Dann doch lieber genervt, dafür in absolut wohltuender Ruhe, die noch Stunden andauernden Wanderung fortsetzen. Wie eigenartig, dass man sich nach mehreren Stunden an der Stille satt gehört hatte. Irgendwie vermisste man doch mit der Zeit eine nervende Stimme, die einen auf Trapp hielt. Wauu! Noishe huschte an den beiden Zweibeinern vorbei und trabte voraus. Von weitem hatte er schon Umrisse wahrgenommen und steuerte, den Schwanz vor Freude wedelnd, darauf zu. Erstaunlich, in welcher Rekordzeit der Hund nicht nur seine Bewegung stoppte, sondern in die entgegen gesetzte Richtung fliehen konnte. „Hm…“, fragend legte Collet den Kopf schief und studierte weiter eingehend den Steckbrief, der seit kurzem die Außenwand des Gasthauses schmückte. Irgendjemand vermisste eine Person. Zumindest meinte die Auserwählte, dass es sich hierbei um ein menschliches Wesen handelte. Die Zeichnung der gesuchten Individuums – hauptsächlich färbten Braun und Rot das ‚Kunstwerk’, um es adäquat als auch galant auszudrücken – wirkte äußerst ungenau und unprofessionell. „Komisch. Und dennoch habe ich das Gefühl, jemanden Bekanntes zu sehen.“ „Miko-sama!“ Aus ihren Gedanken gerissen blickte Collet verwirrt hin und her. Sowohl Kratos als auch Refill drängten bereits auf die Weiterreise zu den Ruinen. „Einen Moment noch!“ Zeit, sich eine neue Strategie einfallen zu lassen. „Das nennt man mal eine Begrüßung.“ Locker aus der Hand ließ Lyra ihre Schwerter zurück in die Scheiden gleiten und überblickte nach dem Chaos des Kampfes das Schlachtfeld. Fast grotesk wirkten die Blutlachen im hellen Braun der Wüste. Der befleckte Sand war zu schwer, um vom aufkommenden Wind verweht zu werden. Bald jedoch würde er von den anderen Sandkörnern verdeckt sein. „Sie suchen uns…“ Tatsache, und bei weitem auch erschreckend. Genius lief es kalt dem Rücken runter bei der Vorstellung, immer und überall auf einen Desian treffen zu können. „So wie die sich anstellen, werden sie uns nie erwischen!“ Lyra beugte sich hinab, um sich ihren Rucksack wieder umzuschnüren. Noch während ihrer Bewegung jaulte Noishe auf, auch wenn sich seine Warnung als nutzlos entpuppte. „AHHNG!“ Lyra biss sich auf die Unterlippen, um einen weiteren Schmerzensschrei zu unterdrücken. Eine blaue Kugel aus Blitzen und Starkstrom, ein ehrenwerter Angriff von hinten, ganz wie von Desians zu erwarten, hatte das Mädchen getroffen. Zuerst lähmte es ihren Körper, um sie dann in die Bewusstlosigkeit zu zwingen. „Heh.“ Zufrieden grinsten die Desians, zwei an der Zahl, über ihren Fang. Es hätte einfacher nicht laufen können. „Und was machen wir mit dem Zwerg?“, fragte einer der beiden und schwang vor Freude seine Peitsche. „Nicht so schnell.“, warf Desian B ein. „Unser Befehl lautet, das Mädchen zu schnappen.“ „Ich weiß, ich weiß. War doch nur ein kleiner Spaß.“ Ein Spaß zur Einschüchterung, der perfekt funktionierte. Genius, auf einige Meter Sicherheitsabstand, rührte sich nicht vom Fleck. Vielmehr konnte er sich nicht rühren da er wusste, alleine nichts gegen die Desians ausrichten zu können. „Und hopp.“ Ohne Umwege hievte Desian A den bewusstlosen Körper Lyras auf seine Schulter. Bevor er sich mit seinem Kollegen auf den Weg machte, warf er noch einen letzten bedeutenden Blick auf Genius. „In deinem eigenen Interesse rate ich dir, dass wir uns nicht noch einmal begegnen werden.“ „Miko-sama, es reicht.“ Unweigerlich zuckte Collet zusammen. Sie hatte nun eindeutig die Grenzen von Kratos' Geduld überschritten. „A-aber der Basar, Kratos-san!“ „Collet.“ Refill hatte sich bislang geduldig im Hintergrund gehalten und ihrer Schülerin den Willen gelassen, die Stadt noch weiter in Ruhe zu erkunden. Jedoch war es nun einfach an der Zeit, den Weg fortzusetzen. „Ah...“ Niedergeschlagen resignierte Collet. Es war ihr einfach nicht mehr möglich, noch mehr Zeit zu schinden. Bedrückt lächelte sie. „Gehen wir.“ Die Spuren der Entführer Lyras verliefen sich immer mehr im Sand. Der Föhn wurde immer stärker und kündigte einen baldigen Sandsturm an. Glücklicherweise hatten die beiden Männer jedoch ihre Destination so gut wie erreicht, sodass sie sich keine Sorgen mehr machen brauchten. „Warte mal.“ Jener Desian, der zum Packesel verdonnert war und das bewusstlose Mädchen trug, hielt inne. Ungewöhnlich starr verharrte sein Blick nach vorne. „Wir werden verfolgt.“ „Was?“ Auch Desian Nummer zwei hielt in ähnlicher Position wie sein Kamerad inne. Einzig mit seinen Augen versuchte er einen Blick rückwärts zu erhaschen. Augenblicklich lockerte sich sein verspannter Körper. „Es ist nur der Köter. Die Wachen werden ihn schon verscheuchen.“ Ohne weitere Umwege betraten sie das Basisquartier. Die Felswände im nördlichen Teil der Wüste gaben dem Gebäude die nötige Tarnung, um unentdeckt zu bleiben. „Verscheucht den Hund, wenn er der Basis zu nahe kommen sollte.“ „Jawohl, Sir!“ Ambitioniert erstreckte die Wache seine Patrouille um einen nennenswerten Umkreis. Wachsam beobachtete er dabei jede Bewegung des Sandes und eines möglichen Eindringlings. Nach einiger Zeit jedoch, da seine konzentrierte Suche nicht vom Erfolg gekrönt war, kratze er sich am Kopf und platzierte sich schulterzuckend zurück auf seinen Posten. Einen angeblichen Hund hatte er nicht gesehen. Verzweifelt bahnte sich Genius seine Wege durch die Wüstenoase, immer weiter auf der Suche nach seiner Schwester, Collet und Kratos. Keine Sekunde nachdem die Desians sich auf dem Weg gemacht hatten, war ihm Noishe entlaufen und der kleine Elf blieb allein zurück. Seinen vierbeinigen Freund hätte er nie und nimmer einholen können, so dass ihm nur eine Möglichkeit blieb: Hilfe holen. „Wie ich sehe bist du auf der Suche nach jemanden.“ Eine junge Frau, ihr roter Schleier verdeckte ihr Gesicht, tauchte wie aus dem Nichts vor Genius auf. Ihre zarten, langen Finger strichen über die Kristallkugel in ihrer Hand und offenbarte ihr Tätigkeitsgebiet: Wahrsagen. „A-ah…“ Im Zwiespalt mit sich selbst, die äußerst skurrile Person vor sich ins Vertrauen zu ziehen, blieb Genius auf Distanz und observierte. „200 Gald.“ „Was?“ „Für 200 Gald sage ich dir, wo deine Freunde sind.“ Genius schluckte. Im Anbetracht ihrer finanziellen Verhältnisse war dies ein durchaus stolzer Preis. Nichtsdestoweniger pflegte er diesen zu zahlen, wenn die Information tatsächlich zur Rettung beitragen wird. „Die Gruppe der Reisenden brach Richtung Westen auf. Zu den Wüstenruinen, wenn ich mich recht entsinne.“ Huh? Sich recht entsinnen? „Zumindest hat es der ungeduldige Söldner behauptet, bevor sie aufgebrochen sind.“ Ohne Umschweife machte sich die Frau auf und verschwand, während sie einen leicht verärgerten Genius zurück ließ. Schon eine rückhaltlose Kunst, dieses Wahrsagen. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sie auch die Wahrheit gesagt hatte. Je zur vollen Stunden fand ein Wachenwechsel vor den Zellen im untersten Geschoss der Basis statt. Gut und gerne wurde diese Gelegenheit unter den Kameraden zum kurzen Schwätzchen genutzt. Vor allem, wenn die zu bewachende Person noch das Land der Träume mit ihrer Anwesenheit segnete. „Das ist also die gesuchte Person?“ Die neue Einheit zum Wechsel, noch ein relativ junger Halbelf im Vergleich zu seinen Kollegen, musterte neugierig das schlafende Mädchen. „Werde ja nicht leichtsinnig.“, warnte sein Senior. „Auch wenn man es ihr nicht ansieht, sie hat mehr als genug Desians auf dem Gewissen.“ Mehr hat es an einer Warnung nicht gebraucht, um den Jüngling zur Aufmerksamkeit und Vorsicht zu raten. „Aber keine Sorge.“, winkte Senior-Desian ab, als er seine ersten Schritte Richtung wohlverdienter Pause ging. „Ihre Hinrichtung wird das letzte Wort sein.“ Lyra, ihre letzten Minuten des Schlafes waren zugegebenermaßen vorgespielt, schreckte hoch und gewann somit die Aufmerksamkeit der zurückgebliebenen, jungen Wache. Prüfend wandte sich ihr Blick von einer Seite der Zelle zur anderen. Nichts. Die Desians hatten ihre Schwerter und ihre Items allesamt verschwinden lassen. Schlussendlich, um ein Gesamtbild ihrer Umgebung zu haben, entdeckte sie auch die Wache vor der Zelle. Regelmäßig im Gleichschritt marschierte er vor ihrem Gefängnis auf und ab und konnte es sich nicht nehmen, gelegentlich einen nervösen Blick auf Lyra zu werfen. „Bastarde.“, kam es ihr über die Lippen. „Wie soll ich denn da entkommen können?“ Musste sie wohl oder übel ihr letztes Ass ausspielen. „Was?“ Keine zwei Stockwerke über der Gefangenenzelle registrierte ein Halbelf eine überaus interessante Veränderung. Seine edle Kleidung und die Art, wie sein Haar zu einem Zopf zusammengebunden war zeichneten aus, dass es sich hierbei um keinen gewöhnlichen Desian handeln konnte. „Was für eine Manasignatur ist das?“ Doch Zeit zum Überlegen blieb dem blauhaarigen Halbelfen nicht. „Leader!“ Ungefragt und in aller Hektik stürmten eine handvoll Soldaten in das Büro ihres Anführers. „Gefangenenausbruch!“ „Verdammte Schei~heiße!“ Im Normalfall sollte man, sofern ein erfolgreicher Ausbruch erwünscht ist, diesen Vorgang zumindest dem Grunde nach sorgfältig durchdenken. Sollte man, hat sie aber nicht. Immerhin muss man Lyra gutschreiben, dass sie es aus ihrem erniedrigendem Gefängnis geschafft hatte zu fliehen und die erste Wache niederstrecken konnte. Und überhaupt! Woher hätte sie wissen können, dass dieses Vorhaben die Aufmerksamkeit von einem Dutzend weiterer Desians wecken würde? Nun hieß es eben, die Beine in die Hand zu nehmen. Das Versteck kam ihr mehr als gelegen, da sie ihre Verfolger selbst über heimtückische Manöver und einer Vielzahl an Treppenstufen nicht loswerden konnte. Mit ihrer gewohnten Flinkheit schlug Lyra einen Hacken nach links und verschwand keine Sekunde darauf im gefundenen Schlupfwinkel. Die Türe, so leise und schnell wie sie geschlossen wurde ließ nicht erahnen, dass sie zuvor von jemandem durchquert wurde. „Hier bin ich erstmal sicher.“, murmelte Lyra und atmete erleichtert aus. Die Schritte der Desians verhallten in der Ferne und ein letztes Mal warf das Mädchen einen prüfenden Blick auf ihrem goldgelben Armreif, der wieder wie gewohnt ihren rechten Oberarm zierte. Alles war perfekt. „Und wer zum Teufel bist du?!“ Fast perfekt. „Kyaa!“ Es war eine reine Reaktion, hervorgerufen vom Schreck, dass Lyra sich mit geballter Faust umdrehte und somit nur sich selbst schützen wollte. Eine wahrlich außergewöhnliche Trefferquote, welche sie hierbei vorführte. „Argh!“ Schmerz peinigte ihn und automatisch führte er die Hand zur verletzten Stelle. Seine Fingerspitzen färbten sich rot vom Blut aus seiner Nase. „Du Mistgöre!“ Oh, seine Wut schien sich seinem Schmerzpegel angepasst zu haben. „Wer ist denn wie ein Depp hinter mir gestanden und hat sich schlagen lassen?!“ Was erlaubte sich dieser bescheuerte Halbelf - blaue Haare! Wie konnte er bloß so dämlich hellblaue Haare haben? - und gab Lyra die Schuld an diesem Vorfall! „Du wagst es auch noch?!“ Mädchen mit dem Exphere hin oder her. Den Stein konnte er auch noch bekommen, wenn sie die Blumen von unten wachsen sah. „Ah!“ Geschickt gelang es Lyra im Moment noch, dem ersten Angriff ihres Gegenübers auszuweichen, doch leider brachte sie dieses Manöver in eine Sackgasse. Verdammt sei der Verlust ihrer Schwerter! „Äh... ich meinte das nicht so?“ Selbst Worte scheinen ihr nicht mehr helfen zu können. Im Anbetracht dessen, ihrem Ende entgegen zu sehen, überkreuzte Lyra die Arme vor ihrem Gesicht, um wenigstens nicht den letzten Schlag sehen zu müssen. „Dieser...“ Ungläubig betrachtete er Lyras Handrücken. Sein Augenmerk galt ganz dem blauen Edelstein. „Dieser Exphere...“, brachte er über die Lippen und ließ die Klinge seines Schwertes sinken. Zum ersten Mal seit dieser Auseinandersetzung nahm er das Mädchen genauer unter die Lupe. Wie... wie konnte sie es sein? „Diese Ähnlichkeit... kein Zweifel.“ Vorsichtig lugte Lyra aus ihrer zweifelhaften Verteidigung hervor. Die Fragen standen ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben. Dieser Mann... kannte dieser Halbelf wahrhaftig ihre Eltern? „Yuan-sama!“ Und schon war die schöne Zweisamkeit vorbei. Oh, wie schade. „D-du?!“ Lyra traute ihren Augen nicht, als sie den stämmigen Desian vom Angriff am Tempel von Martel sah. Bereits einmal hatte er schon versucht, Collet umzubringen. „Du elendiger Mistkerl!“, schrie sie auf ihn ein. Nichts sehnlicher wünschte sie sich nun, als dem Kerl alleine und aus eigener Kraft in die Schranken weisen zu können. „Ich glaube kaum, dass du in der Position bist, solche Worte in den Mund zu nehmen.“ Im Handumdrehen hatte Yuan den kleinen Wildfang beruhigt. Denn wer unbewaffnet einer Schwertspitze im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge sah, biss sich lieber freiwillig in die Zunge, als ein Wort zu viel auszusprechen. „Botta, was ist los?“, forderte Yuan seinen Untergebenen auf, die plötzliche Aufruhr zu erklären. „Die Gruppe der Auserwählten ist in die Basis eingedrungen, Yuan-sama.“ Unzufrieden verzerrte der Angesprochene das Gesicht. Ein überaus schlechtes Timing, um es noch galant auszudrücken. „Ich ziehe mich zurück, Botta. Wenn er mich hier sieht, sind unsere Pläne zum Scheitern verurteilt.“ „Und die Miko?“ „Du weißt, was du mit der Auserwählten zu tun hast. Lass sie aber am Leben.“ Am Leben lassen bedeutete jedoch nicht, dass Botta gänzlich auf seinen Spaß verzichten musste. Und je mehr daran beteiligt waren, desto besser. „U..urg. Lass... mich los, du... Großkotz!“ Vehement versuchte sich Lyra aus dieser misslichen Lage zu befreien. Ihrer unterlegenen Körperkraft hatte sie es nur zu verdanken, dass sie nun von dem Halbelfen in die Mangel genommen wurde und ihren eigenen Kampf gegen die Luftknappheit führte. „Fireball!“ Es war keine große Kunst für Botta, einem so leicht vorhersehbaren Angriff auszuweichen. „Na, wollt ihr etwa eure kleine Freundin mitrösten?“ Wütend funkelten Genius und Kratos ihren Gegner an. Bislang war es ihnen nicht möglich gewesen, einen nennenswerten Angriff zu unternehmen. Die Chance, dass Lyra als menschliches Schutzschild dabei verletzt werden könnte, war zu groß. „Arsch...“ Ein letzter verzweifelter Versuch Lyras, sich mit Händen und Füßen zu befreien, scheiterte kläglich. „...loch.“ Ein letzter Atemzug, und ihre Welt färbte sich schwarz. „Autsch!“ Ausgiebig untersuchte Yuan sein verletztes Riechorgan mithilfe des Spiegels. „Sieht gebrochen aus.“ „Klappe, Botta.“ Oh ha, hier hatte der gute Botta einen wunden Punkt erwischt. Besser, nicht noch weiter Salz in die Wunde zu streuen. Zumal sein Chef auch der Tatsache wegen, dass er gegen die Gruppe der Auserwählten verloren hatte und das Mädchen ihnen entwischt war, sich bereits gereizt genug zeigte. „Sie ist den beiden ähnlicher als sie denkt.“ Melancholisch lächelnd hing Yuan alter Erinnerungen nach. Sie mochten aus vergangener Zeit stammen, doch empfand er sie, als wäre es gestern gewesen. Augenblicklich erschauerte Yuan, da eine nennenswerte Anzahl dieser Erinnerungen über einen schmerzlichen Beigeschmack verfügten. „Und genau das ist das Gefährliche.“ „-ra! Lyra!“ Die Rufe ihrer Freunde lockte Lyras Bewusstsein zurück in die hiesigen Sphären. Vorsichtig blinzelte sie mit ihren Augen und es dauerte mehrere Augenblicke, bis sie die ersten Umrisse wahrnehmen konnte. „Lyra!“ Collets lächelndes und erfreutes Gesicht löste in dem befreiten Mädchen einen Knoten. Erinnerungen von einem friedlichen und glücklichen Leben aus vergangenen Jahren in Iselia spielten sich vor Lyras mentalen Augen ab und brachten den Damm zum Einbrechen. Selbst als sie ihre Hände schützend vor Augen hielt, konnten diese die Tränenflut nicht mehr aufhalten. „A-auf d-dieser Reise...“ Das Schluchzen erschwerte die Verständlichkeit ihrer Worte. „Lass uns die... die Welt ver-verändern!“ Nur eine aus der Gruppe konnte den wahren Wert und Hintergrund dieser Aussage verstehen. Collet lächelte. Ja, sie werden diese Welt verändern. Und wie. Das Siegel des Feuers --------------------- Gedämpft nahmen Lyras Ohren das Stimmengewirr wahr, ohne Sinn und Herkunft der gesprochenen Worte eruieren zu können. Viel zu sehr waren die Sinne des Mädchens damit beschäftigt, dem Hämmern im Kopf Einhalt zu bieten. Der tränenreiche Gefühlsausbruch hatte seine Spuren an der sonst so gefassten Lyra hinterlassen. „Jetzt haltet doch mal die Klappe.“, brummte sie ihre verzweifelte Bitte in das Kopfkissen. Unermüdlich schritt die Diskussion im Gästezimmer der Herberge voran. Allen voran äußerste Refill-sensei ihre Freude über den erbeuteten Exphere in höchsten Tönen, da jener Stein nun ihr Zugute kam. Selbst die fehlende Schutzfassung stellte sich für die Lehrkraft als lachhaftes Hindernis heraus. So fand sie in ihren – historisch womöglich nicht so bedeutungsvollen – Schätzen doch noch einen Gegenstand, der einer Schutzfassung beträchtlich nahe kam. „Lyra, schau dir diese Fassung mal an!“ Eine äußerst dezent platziertes Bittgesuch, ganz wie man es sich wünschte. Glücklicherweise wusste Lyra eines Besseren, als diesem Ansuchen nicht nachzukommen. Erschöpft rappelte sie sich daher auf und streifte lustlos ihren Blick über den metallenen Gegenstand. Ihre Lippen formten bereits ein gleichgültiges ‚Und?’, doch belehrte auch diesmal das freundliche, wenn auch stechende Lächeln ihrer Professorin, die Entscheidung nochmals zu überdenken. „Die Gravierung gehört überarbeitet, dann funktioniert das kleine Schätzen wieder wie neu.“ Wenn man wüsste, wie die Gravierung ursprünglich gelautet hatte. Die alten Schriftzeichen – sie entsprangen einer vor Jahrtausenden verlorenen Sprache – waren überwiegen kaum lesbar. Nichtsdestoweniger wollte Lyra dem stillschweigenden Ersuchen, Hand an der reparaturbedürftigen Fassung anzulegen, keine Abfuhr verpassen. Für sie wäre es durchaus schwieriger, sich der unangenehmen Frage zu stellen, warum sie die Kunst ihres Ziehvaters nicht beherrschte. Tüchtig bastelte Lyra daher an der Schutzfassung, während ihre Freude das Abendmahl in der Gaststube genossen. Keinesfalls hatte man das Mädchen ausschließen wollen. Vielmehr beharrte Lyra selbst darauf, dass sie keinen Anfall von Hunger verspürte und sich lieber der ausstehenden Arbeit widmen wollte. Jeglicher Hunger wäre ihr auch vergangen nachdem sie hörte, wie prächtig doch die Tomantenernte verlaufen sei und die Gerichte des Hauses nun zum Überdruss das rote Gemüse enthielten. Neben Lyra blieb Kratos ebenfalls zurück, wobei seine Abneigung dem Abendmahl gegenüber bei weitem weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Vielleicht gehörte der Söldner einfach zu jener Gruppe Mensch, die über einen weitaus geringeren Appetit verfügte. „Hm…“ Mitunter inspizierte Lyra die nachgezogene Gravierung und betrachtete dabei die Wörter aus allen Winkeln. Rein optisch sah das Ergebnis bereits sehr gut aus. Jetzt müsste nur noch mehr die Funktionsweise erprobt werden, wofür sich Lyra selbst mehr oder weniger als Versuchskaninchen erwählt hatte. Die Fassung platzierte sie auf ihre expherefreie Hand. Sie passte sich perfekt an das Handgelenk an und saß wie angegossen. Es musste nur mehr der Exphere eingesetzt werden, welcher nervös von einem Finger zum anderen gereicht wurde. Lyra zögerte den Moment hinaus, bevor sie letztendlich tief Luft holte und kurzum der Schutzfassung Sinn und Zweck verlieh. Nichts. Kein Schmerz. Weder ein unerträgliches Stechen noch ein brennendes Gefühl. Alles fühlte sich normal an, inklusive dem geringen Ziehen der Haut, wenn der Exphere angelegt wurde. „Das bedeutet nun aber noch nicht, dass die Schutzfassung tatsächlich funktioniert.“ Erschrocken fuhr Lyra zusammen. Völlig in ihrer Tätigkeit vertieft hatte sie vergessen, dass sie nicht alleine im Raum war. Ihr lag es förmlich auf der Zunge, dem Schlaumeier der Runde die Leviten zu lesen, doch war sie zeitgleich gezwungen sich einzugestehen, dass Kratos durchaus Recht haben könnte. Lyra konnte nicht wissen was passiert, wenn ein Exphere ohne schützende Fassung angebracht wurde. „Eine wirklich schwache Vermutung von mir.“, gestand sie sich ein. Wahrhaftige Nebenwirkungen, die eine unzureichende Fassung mit sich brachte, waren längerfristig veranlagt. Konsequenterweise stelle sie sich nun die Frage was geschehen könnte, wenn ein Exphere ohne (funktionierender) Schutzfassung wieder entfernt werden würde. Dieser Gedanke brachte sie wieder zurück zu dem Zwischenfall in Iselia. „Können sich… Menschen in Ungeheuer verwandeln?“, fragte Lyra abwesend. Die Stille des Raumes antwortete ihr, bis Kratos, sein Gesicht bedeckt durch die Haarsträhnen, den Blick hob. „Warum fragst du?“ Seine Stimme klang ruhig und gefasst, wie auch sonst immer. Jedoch – und glücklicherweise konnte ihn keiner sehen, da selbst Lyra mit dem Rücken zu ihm saß – verriet ihm seine angespannte Haltung. „Nur so.“ Lyra wusste nicht, wie viel Genius über den Vorfall erzählt hatte. Dessen ungeachtet würde sie die Letzte sein, die die Geschehnisse ein weiteres Mal aufrollen möchte. Jenes winzige Detail, dass besagtes Monster in Iselia durchaus einen Exphere trug, vergaß Lyra vollkommen. Da in den Augen des Mädchens keine Gefahr mehr bestand, gab es auch keinen Grund mehr, den zweiten Exphere weiterhin zu tragen. Just in dem Moment, als ihre Finger ansetzten, vernahm Lyra eine ruckartige Bewegung hinter sich. Verwundert wandte sie sich um und hielt bereits den Exphere in Händen, den sie ohne Belang entfernt hatte. Kratos machte auf der Stelle kehrt und versteckte sein Gesicht hinter seiner rechten Hand. „Die Schutzfassung funktioniert.“, brummte er, bevor er das Zimmer abrupt verließ. Das sanfte Klopfen an der Türe weckte Refill aus ihrer abendlichen Tätigkeit, die Geschehnisse des Tages auf Papier zu bringen. Der Finsternis der nahenden Mitternacht zu Trotze erleuchtete der Kerzenschein spärlich die Arbeitsfläche. Sorgsam und leise betrat Lyra den Raum, wohlbedacht, den schlafenden Genius nicht zu wecken. „Ihre Schutzfassung, Sensei. Sie ist nun fertig.“ Entgegen der Strapazen und Leiden des heutigen Tages wirkte Lyra erstaunlicherweise nicht erschöpft. Vielmehr strahle sie – wahrscheinlich unbewusst – eine gewisse Erleichterung, gar Entspannung, aus. Die Reparatur der Schutzfassung musste sie innerlich zur Ruhe gebracht haben. „Ich danke dir, Lyra.“ Wider der Vorfreude auf ihr neuestes Equipment zeigte die Professorin nun wenig Interesse an dem Item. Ihr Blick ruhte weiterhin auf ihrer Schülerin und machte Refill den Eindruck, als würde sie die Wahl ihrer nächsten Worte sorgfältig durchdenken. Beinahe war die Mühe vergebens, verabschiedete sich Lyra bereits wieder für den heutigen Abend. „Lyra!“ Die Angesprochene hielt inne und wandte sich verwunderten Blickes an Refill. Lächelnd überbrückte die Elfin ihr eigenes Erstaunen über den plötzlichen Aufruf. Womöglich fielen deshalb die Worte magerer aus als gewünscht: „Hab’ einen erholsamen Schlaf.“ Alsbald Lyra den Raum der Sage Geschwister hinter sich ließ, verschwand Refills Lächeln allmählich, bis die Lippen nur mehr eine schwache, gerade Linie formten. Egal, wie oft sie sich auch ermahnte, sie konnte den Gedanken nicht abschütteln. Die armen Kinder. Dabei war dies erst der Anfang. Genüsslich regte Noishe seinen Kopf zur Seite, damit die großen Finger auch jene verzwickten Stellen ertasten konnten, die sonst vernachlässigt wurden. Sein Schwanzwedeln verriet den Ausdruck größter Freude und hätte er am liebsten laut herumgetobt, wenn nicht Kratos’ strenge Augen zu wissen vermochten, einen derartigen Gefühlsausbruch einzudämmen. Die Dunkelheit der Nacht hatte ihre Schwingen über das Land gelegt. Trotz der nächtlichen Kälte fröstelte Kratos nicht. Dennoch war es für den sonst so wachsamen Söldner mehr als untypisch, seine Umgebung derart zu vernachlässigen und sich nur auf eine Sache zu konzentrieren. Alsgleich seine Augen mit Strenge auf Noishe blickten, so verriet sein gelassener Gesichtsausdruck die eigentliche Vergnügtheit. Verräterisch wackelte Noishe mit seinen übergroßen Ohren und signalisierte den Eindringling. Kratos wurde hellhörig, reagierte letztendlich und schallte mit gezogenem Schwert zur Seite. Rotbraune Augen starrten nun auf die gefährlich nahe Schwertspitze, der Schreckensschrei konnte nur knapp unterdrückt werden. „Du bist es.“ Der als Feind markierte Eindringling entpuppte sich als Lyra, von ihrer Neugierde hierher getrieben. „Entschuldige. Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.“ „Erschrecken ist auch nicht ganz das richtige Wort dafür.“ Zur Beruhigung atmete Lyra einmal tief durch und lehnte sich, um einiges gefasster, gegen das Holzgeländer. „Du scheinst mit Tieren gut umgehen zu können.“, lenkte Lyra zum Themenwechsel ein. „Noishe mag eigentlich keine Fremden. In dich scheint er sich aber regelrecht verguckt zu haben.“ Wie aufs Stichwort grinste der Hund und bellte auf. Grinsen war vielleicht übertrieben, zumindest konnte man meinen, einen amüsierten Ausdruck erkannt zu haben. Kratos zog seine Hand zurück und beendete damit die geführte Streichelstunde. Es schien, als würde er einen Moment überlegen. Es ging nicht darum, was er nun antwortete, sondern ob: „Ich hatte einmal selbst ein Haustier, vor länger Zeit.“ „So?“ Angestrengt versuchte Lyra, sich den Söldner als Tierfreund vorzustellen. Sie scheiterte kläglich und konnte sich ihr Lachen gerade noch verkneifen. Als sie nach einiger Zeit seinen Blick in ihrem Nacken spürte, wandte sie sich fragen um: „Kratos?“ „Wofür bist du der Auserwählten gefolgt?“ Lyra ließ die Frage auf sich wirken, wusste sie nicht, wie sie sonst hätte damit umgehen sollen. „I-ich...“, begann sie. „Ich konnte nun schlecht in Iselia bleiben.“ „Du wärst sowieso hierher gekommen.“ Ertappt wie ein kleines Kind schmollte Lyra vor sich hin und verweigerte jegliche Antwort. „Wenn du über alles so gut informiert bist, brauche ich gar nichts mehr sagen.“, murmelte sie im Glauben, dass er sie nicht hören könnte. Jedoch hatte sie sich gewaltig getäuscht und musste für ihr kindisches Verhalten einbüßen. „Lyra. Deine Schwertkunst ist ungeübt. Arbeite an deinen Schwachstellen, wenn dir dein Leben etwas bedeutet.“ Mit Kritik umzugehen war für jeden von uns ein eigenes Kapitel. Kratos wusste, dass er in der Person gegenüber einen Stein ins Rollen gebracht hatte und empfand es für klüger, sie nun alleine zu lassen. Noch bis zum Eingang der Herberge vernahm er ihre Worte: „So ein Großkotz!“ Lauthals fluchte sie Kratos hinterher. „Er könnte so nett sein, aber nein! Er spielt lieber den arroganten Mistkerl.“ Neutral winselte Noishe vor sich hin, wollte er sich weder auf die Seite seines Frauchens noch auf die von Kratos stellen. „Argh!“ Völlig aufgewühlt marschierte Lyra einige Runden im Kreis, ehe sie sich über den Zaun hievte und neben ihrem Haustier Platz fand. Sie brummte einige unverständliche Worte für Noishe, welcher schlussendlich seinen Kopf ins Heu legte, um der späten Tageszeit den Rücken zu kehren. Für seine Besitzerin würde es eine längere Nacht werden. Schlafen könnte sie heute ohnehin nicht mehr. „Habt ihr auch nichts vergessen?“ In ihrer Rolle als Lehrerin überprüfte Refill wie gewohnt, dass kein Gegenstand zurückgelassen wurde. Der Treffpunkt vor der Abreise war in der Nähe des Marktplatzes vereinbart worden. Im Grunde hatte Kratos alleine die kleine Gruppe verlassen und wartete man nur noch mehr auf seine Rückkehr. Gelangweilten Schrittes ging Lyra auf und ab und hörte nur mit einem Ohr der Diskussion zwischen Collet und Genius zu. Etwas gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht. „Was soll dieser Steckbrief? Und vor allem wer...?“ Mädchen in Rot. Schulterlange, braune Haare. Rotbraune Augen. Gesucht von den Desians. „Ich soll das sein?!“ Lyra zeigte sich weniger über die Tatsache entsetzt, dass sie steckbrieflich gesucht wurde, als dass ihr Abbild dermaßen deformiert und entstellt wurde. „Wenn ich denjenigen in die Finger bekomme...“, brummte sie und riss das Stück Papier von der Mauer. „Lyra!“ Kratos hatte sich der Gruppe wieder angeschlossen. Anscheinend musste er über den Basar spaziert sein, hielt er nun ein längliches Bündel in den Händen. Einkaufen, das wäre es für Lyra gewesen. Sie verschränkte ihre Arme und dachte mit Verbitterung an die Desians von gestern. Wäre dieser Zwischenfall nicht gewesen, würde sie noch ihre Schwerter und ihre Tasche mitsamt dem Hab und Gut besitzen. Jetzt musste erstmal dafür gesorgt werden, dass wieder Geld in die Reisekasse kam. Danach konnte sie sich erst wieder Gedanken über eine neue Waffe machen. Nie in ihren Träumen wäre Lyra auf die Idee gekommen, dass jene in Leinen gewickelten Gegenstände ausschließlich von ihr geschwungen werden sollten. „Ich werde aus dir nicht schlau.“ Lyra begutachtete ihre neuen Schwertklingen und versteckte, so gut es ihr möglich war, ihre Freude. Sie staunte über die Qualität der Klingen, die in nichts den Schwertern ihres Ziehvaters nachstanden. Im Nu war die Frustration über den Söldner vergessen. „Du bist seltsam, Kratos. Ist jetzt nicht negativ gemeint. Einfach nur... seltsam.“ „Hmpf. Ein gutes Schwert macht noch lange keinen guten Kämpfer aus.“ Lyra zuckte in Erinnerung an die Worte von gestern Abend zusammen und funkelte Kratos wütend nach. „Vielen Dank auch. Ich hatte es schon fast vergessen.“ Während des Aufenthalts zu dritt in Triet hatten Refill, Kratos und Collet in Erfahrung bringen können, dass sich das Siegel des Feuers westlich der Oase, genauer gesagt in den Ruinen Triets, befand. Entgegen der bisherigen, relativ langwierigen Märsche durch die Wüste empfand die Gruppe den jetzigen Trip durch Sand und brennende Sonne von kurzer Dauer. Bald war es möglich, die ersten Ausgrabungen der Ruine am Horizont zu erkennen. Eine Einladung für Refill, zu der sie nicht nein sagen konnte. „Ne-Nee-san!“ Genius wollte seine Schwester aufhalten, wusste er nur zu gut, was nun auf ihn zukommen würde. Doch die Elfin war schneller und eilte auf ihr Ziel in höchster Euphorie zu. Ihr glorioses Gelächter, es erweckte auf so manchen Rücken eine Gänsehaut, war meilenweit noch zu hören. „Genius?“ Ungläubig starrten die Schülerinnen ihrer Lehrkraft nach. Diese Seite von Refill blieben ihnen bis dato verborgen. „Ist sie... immer so?“, fragte Collet vorsichtig nach. Der junge Magier wollte am liebsten vor Scham im Boden versinken während Refill, nachdem sie jegliches Material benennen konnte, jedes noch so kleine Staubkorn nun genauer unter Augenschein nahm. „Ich hätte es so gern verstecken wollen.“, murmelte Genius. Dass es jedoch genau dieser Obsession der Professorin überhaupt möglich war, den Eingang der Ruine zu finden, wollte niemand auch nur ansatzweise zugeben. „Hach, ist das kühl hier!“ Die Räumlichkeiten der Ruine befanden sich unterhalb der Erde und boten eine erfrischende Abkühlung. Lyra genoss sichtlich die frischen Temperaturen und fühlte sich auf ein Neues motiviert. Etwas abseits ihrer Begleiter erkundete das Mädchen für sich die Innenräume des Reliktes, bis sie auf eine mächtige, mit Goldverzierungen bestückte Tür stoß. Die Pforte besaß weder Schloss noch eine Klinge und ließ sich ebenfalls nicht aufschieben. „Das wird der Eingang sein.“ Lyra schreckte auf. Weder hatte sie Kratos kommen hören, noch seine Anwesenheit gespürt. Collet befand sich nun unlängst in der Nähe und ruhten ihre Augen auf dem Tor. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ungewohnt ernst. „Ja, das ist der Eingang.“ Als wären ihre Worte nicht Bestätigung genug, berührte die Auserwählte die Türe aus massiven Gestein und Gold. Ein Licht erstrahlte und knarrend öffneten die Flügel den Weg in die Halle, in dessen Mitte der Altar verborgen lag. „Pa-passt auf!“, stotterte Genius. Sie hatten noch keine drei Schritte in den Raum gesetzt, schon versammelte sich eine gefährliche Menge Manas um den Altar. Dieser begann Rot aufzuglühen und ein schreckliches Heulen kündigte an, dass sie dieses Siegel nicht, ohne einen Kampf zu bestreiten, brechen können. „Sensei! Bleiben sie mit Collet im Hintergrund.“ Wie Kratos zog Lyra ebenfalls ihre Waffe und begab sich in Angriffsstellung. Das Mana verfestigte sich allmählich und zwei Höllenhunde mitsamt des ausgewachsenen Muttertiers bestritten das Schlachtfeld. „Ich werde aber mitkämpfen!“ Collet zückte ihre Chakrams. Unnütz im Hintergrund stehen konnte und wollte das junge Mädchen nicht, immerhin kämpften ihre Freunde in jenem Moment für sie. „Den Teufel wirst du tun!“ Als ob irgendjemand, vor allem Lyra, einfach zulassen würde, dass sich Collet so mir nichts, dir nichts in Gefahr begebe. „Das hier ist unser Kampf.“ Wie aufs Stichwort eröffneten Kratos und Lyra den Angriff. Etwas abwärts verweilte Genius, der mit seiner Magie die Ungeheuer um ein Vielfaches schwächen konnte. Mit einem Spaziergang auf dem Spielplatz konnte man den Kampf jedoch keinesfalls vergleichen. „Verdammte Mistviecher!“, fluchte Lyra nicht zum ersten und vermutlich auch nicht letzten Mal. Sie musste ihrem Kontrahenten hoch anrechnen genug Grips zu besitzen, seine Attacken gut und gerne auf die abseits stehende Heilerin samt Auserwählten zu richten. Zwar besaß die Zwillingsschwertkämpferin flinke Füße und konnte die Angriffe meist umlenken, doch ließ ihre Kraft zu wünschen übrig. „Du Elendiger...!“ Ihre Schwerter überkreuzt blockte sie die fiesen Krallen des Hundes ab und katapultierte das Tier schließlich von sich weg. Der vermeintlich raffinierte Schachzug entpuppte sich als großer Fehler, konnte das Feuerwesen sowohl auf kurzer als auch längerer Distanz angreifen, und sei es mit einem Feuerodem. Lyra war den heißen Flammen hilflos ausgeliefert und achtete nicht auf den nächsten Zug ihres Gegners. Scharfe Krallen bohrten sich durch die Kleidung hindurch und fügten dem Mädchen tiefe Schnittwunden zu. „Lyra, deine Verteidigung ist zu offen.“ Wütend knurrte die Kämpferin und wartete, bis Kratos' First Aid auf sie gewirkt hatte. Lyra verlor darauf hin keine Zeit, schoss auf den Feuerhund zu und wollte ihn mit ihrem Schwert durchbohren. Ihr Angriff war nicht stark genug und die spitzen Zähne des Biestes fingen ihr rechtes Zwillingsschwert ab. „Halt einfach mal deine Klappe!“, brüllte sie Kratos nachträglich über das Kampffeld an. „Nicht einmal jetzt...“ Die verzweifelten Versuche, ihre Waffe zu befreien, scheiterten. Lyra sah sich gezwungen, kurzweilig auf eine der Klinge verzichten zu müssen. „Kannst du mich in Ruhe lassen!“ Gekonnt flink sprang sie zur Seite, wechselte die übrig gebliebene Schwertklinge in ihre rechte Hand und machte sich zum nächsten Angriff bereit. Ein bisschen noch, nur noch ein paar Sekunden. „Aqua Edge!“ Genius' Magie verpasste dem Feuertier eine kalte Dusche. Lyra nutzte den Moment und stach mit voller Kraft in die Brust des Biestes. Schmerzerfüllt heulte es auf, das Blut floss in unglaublichen Mengen aus der Wunde und entkräftete das Geschöpf um ein weiteres. Klirrend fiel die Klinge aus dem Maul des Hundes zu Boden, bevor das Tier selbst zusammensackte. Es stellte keine Gefahr mehr da. Angespannt ruhig holte sich Lyra ihr Schwert zurück und platzierte es in die vorgesehene Halterung. In einer Drehung wandte sie sich an ihren Kampfkumpanen und machte sich nicht die Mühe, auch nur etwas Anstand zu zeigen. „DU!“ Wütend stampft sie auf Kratos zu, welcher zu ihrem Ärgernis seinen Gegner problemlos, und vor allem alleine, niederstrecken konnte. „Du arroganter, selbstverliebter, besserwisserischer Arsc-“ Ein lautes Aufheulen erschütterte die Mauern des antiken Reliktes. In ihrer Wut hatte sie das Muttertier komplett vergessen. Lyra hielt inne und konnte nur genervt aufseufzen: „Verdammt.“ Mit vereinten Kräften wurde auch dieses letzte Hindernis überwunden. „Collet, Auserwählte des Manas.“ Remiels Worte hallten in den Räumen der Ruine wider. „Offenbare deine Gebete.“ „Ja, Remiel-sama.“ Tief atmete Collet ein und fasste den nötigen Mut, um sich dem Altar zu nähern. Es gab kein zurück mehr, dachte sie sich immer wieder und verneigte sich zum Gebet: „Oh Göttin Martel, große Beschützerin und Ernährerin der Welt, gewähre mir deine Stärke!“ Klirrend zerbrach das Siegel des Feuers und der Engel Remiel nahm Gestalt an. „Ich bin stolz auf dich, Collet, meine geliebte Tochter.“ „Da-dankeschön, Remiel-sama.“ „Der Wächter des Siegels ist gefallen, Efreet wird sicher bald erwachen.“ Remiel breitete seine Arme aus. „In Namen von Cruxis gewähre ich dir die Macht der Engel.“ Für einige Augenblicke erstrahlte Collets Körper im grellen Lichte, bis es sich eindämmte und den Blick auf die Auserwählte freigab. Wenige Zentimeter schwebte das Mädchen über den Boden. Sie verdankte ihren Flügeln diese neue Gabe. „Die Verwandlung in einen Engel wird nicht ohne Leid sein. Jedoch wird dies nur eine Nacht anhalten. Sei stark und erdulde diese Prüfung.“ Collet verlor kein weiteres Wort, sondern verneigte sich demütig vor ihrem Vater. „Das nächste Siegel befindet sich weit über den Ozean, gen Osten. Offenbare auch dort deine Gebete, Auserwählte.“ „Vielen Dank, Remiel-sama.“ Die Gestalt des Engels schwand dahin, bis sie schlussendlich nur noch mehr Teil einer Erinnerung war. „Flügel.“ Die stillen Beobachter des Spektakels kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Collets rosaviolette Flügel glitzerten mit jedem Schlag und verliehen dem Mädchen besonderen Anmut. Zaghaft schritt Lyra voran und schloss ihre Freundin in die Arme. „Du hast es geschafft.“, flüsterte sie Collet zu, den Freudentränen bereits nahe. Sie hatte es geschafft. Ein weiterer großer Schritt Richtung Welterneuerung lag hinter ihnen. Bald schon würde Collet zu einem „wahrem Engel“ erwachen. (Interlude) Refill: Ruine-Mode ------------------------------ Von weitem schon erblickte Refill die Ruinen der Triet Wüste. Versteckt vom Sand der Zeit waren sie für den Durchschnitt der Bevölkerung kein lohnendes Ziel. Doch für sie... Wild pochte ihr Herz und das mulmige Gefühl erwachte wieder in ihr. Würde sie womöglich hier ihre Antworten finden? Vielleicht. Unbewusst setzte sie einen Schritt nach dem anderen. Immer schneller, immer hektischer. Am Ziel angelangt und von ihren Mitstreitern eingeholt, erbebten ihre Schultern. „Sensei?“ „Einfach fantastisch!“ Nein, Refill war lange noch nicht am Ende ihrer Suche angelangt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)