Autumn Storm von antara13 (alter Titel: "Together we can brave the Storm") ================================================================================ Kapitel 3: Ice -------------- Hi, Danke für die Kommentare. Die sind alle so nett. Wäre aber auch über konstruktive Kritik erfreut – also nur keine falsche Scheu. P.S.: An alle, die das zweite Kapitel vor dem 07.08.2009 gelesen haben, hier noch ein Hinweis. Ich musste Bellas Wagen leider umgestalten, da sich der Transporter in späteren Kapiteln als unpraktisch erwiesen hätte – Grund hierfür ist unter anderem die ominöse Elphie. Also nicht wundern, wenn jetzt plötzlich von Bellas Van die Rede ist. Aber keine Angst, auch dieses Auto gehört zur Marke „Total verrostet - Eigenbau“. _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ Ice Ein Sonnenstrahl kitzelte meine Nase und weckte mich aus meinen Träumen. Ich reckte mich schnurrend wie eine Katze und öffnete langsam die Augen. Verwirrt blickte mich im Zimmer um. Ich war nicht bei mir zu Hause, soviel stand fest. Ich lag in einem sehr steril wirkenden Raum mit kahlen, weißen Wänden, auf einem unbequemen Bett mit seitlichen Hochstellgittern. Über meinem Kopf blinkte eine Vielzahl von Lichtern und das gleichmäßige Piepen eines Herzmonitors drang in mein Ohr. Als ich an mir hinab sah, bemerkte ich die Infusionsnadel, die in meiner Armbeuge steckte. Weitere Schläuche und Drähte kamen unter meiner Decke hervor und führten zu den verschiedensten Geräten im Raum. Ohne jeden Zweifel befand ich mich in einem Krankenhaus. Doch wie war ich hierher gekommen? Ich wollte mich gerade erheben und das Bett verlassen, als ich bemerkte, dass ich festgeschnallt war. Was war hier eigentlich los? Ich versuchte, mich zu befreien, doch je mehr ich an den Riemen zerrte desto mehr zogen sie sich zusammen. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Irgendetwas stimmte hier nicht! Doch noch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, wurde die Tür geöffnet und ein Mann in einem weißen Kittel trat herein. Seine weißblonden Haare standen im wirr vom Kopf ab und in seinen dunkelblauen Augen spiegelte sich der Wahnsinn. Er erinnerte mich eher an einen verrückten Professor als an einen Arzt. „Wer sind sie? Wie bin ich hierher gekommen? Warum bin ich festgebunden?“ Wie aus der Pistole geschossen prasselten meine Fragen auf ihn ein. Als Antwort grinste er mich nur diabolisch an. Ich schrie ihn an, dass er mich losbinden solle, doch er beachtete mich nicht weiter. Gelassen notierte er einige Daten von den medizinischen Geräten auf seinem Klemmbrett. Dann ging er wieder hinaus. Ich bekam Angst. Jetzt war ich mir absolut sicher, dass hier Irgendetwas nicht stimmte. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und einen klaren Gedanken zu fassen, doch alles, was ich vernahm war das immer schneller werdende Piepen des Herzmonitors. Panik stieg in mir auf. Mein Atem beschleunigte sich. Wo war ich hier? Was hatte ich gemacht? Wie war ich hier her gekommen? Was zur Hölle hatte ich vergessen? Eine leise Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Hab keine Angst, ich helfe dir.“ Ich sah auf und erblickte einen Lichtpunkt, der über meinem Kopf hin- und herschwebte. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich darin eine kleine Fee, die mir sorgenvoll zulächelte. „Ich befreie dich.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da war sie auch schon verschwunden. Ich hingegen lag nicht mehr in dem Krankenzimmer, sondern befand mich auf einem Lichtdurchfluteten Forstweg. Vor mir tauchte eine große, frech grinsende Katze aus dem Geäst auf und rannte an mir vorbei. Verwirrt folgte ich ihr. Ich kam mir vor, wie „Alice im Wunderland“, nur das bei mir das Kaninchen und die Grinsekatze zu einer Figur verschmolzen waren. Sie führte mich auf eine Wiese und verschwand dann genauso schnell wie die winzige Fee. Ich kannte diesen Ort nur zu gut. Es war meine kleine Waldlichtung, auf die ich mich immer zurückzog, wenn ich meine absolute Ruhe haben wollte. Nicht einmal Jake kannte sie. Nur was wollte ich ausgerechnet jetzt hier? Ich sah mich aufmerksam um. Zwischen den Bäumen erkannte ich einen Schatten – genauer gesagt, eine riesigen Schatten. War das etwa ein Grizzly? So weit weg vom Nationalpark verirrten sie sich normalerweise nie. Wieder stieg Panik in mir auf. Das Tier trat heraus und kam langsam auf mich zu. Ich wurde starr vor Angst. Was sollte ich tun? Gegen dieses Ungetüm hatte ich doch nicht die geringste Chance! Wie durch einen Nebel voller Erinnerungen kamen mir Billy Blacks Worte in den Sinn: „Bei einem Bärenangriff am besten hinlegen und tot stellen.“ Ich schmiss mich auf die Erde, schloss die Augen und versuchte, meinen Atem zu beruhigen. Dies war leichter gesagt als getan, denn ich hatte die immer näher kommenden Schritte genau im Ohr. Dann wurde es auf einmal gespenstig still. Der Boden unter mir fühlte sich merkwürdig hart und kalt an. Ich blinzelte durch meine Lider und bemerkte, dass ich nicht mehr auf einer Wiese lag, sondern auf einer asphaltierten Straße. Ein unnatürliches, silbernes Leuchten umgab mich. Zögernd nahm ich den Kopf hoch. Vor mir stand kein Bär – doch was ich jetzt dort sah, ließ meinen Herzschlag ebenfalls kurz stocken. Ich erhob mich vorsichtig und ging langsam auf die Davidstatue zu, die sich am anderen Ende des Schulparkplatzes befand. Kurz davor hielt ich an. Ich betrachtete die Marmorgestalt. Sie sah fast genauso aus wie auf den Fotos, die ich von der Skulptur gesehen hatte. Ich konnte mich aber nicht daran erinnern, dass das Original smaragdgrüne Augen gehabt haben sollte. Plötzlich bewegte sich der Kopf und ein stechender Blick nahm mich gefangen. Es lag etwas Furchterregendes darin. Ich wusste, ich sollte wegschauen, sollte mich umdrehen und so schnell wie möglich davonrennen, doch ich konnte nicht. Ich war wie verzaubert. Diese Augen strahlten eine Faszination aus, der ich mich nicht entziehen konnte. Mein Herz raste, mein Atem beschleunigte sich, doch Angst verspürte ich keine. Erst langsam, dann immer schneller wurde ich in einen Strudel gezogen und verlor mich darin. Ein schriller Ton ließ mich auffahren. Ein Traum, es war nur ein Traum gewesen. Manchmal ging meine Fantasie wirklich mit mir durch. Immer noch schlaftrunken griff ich neben mich auf den Nachttisch und tastete nach meinem Telefon. Wieso hatte ich mein Handy und nicht meinen Radiowecker gestellt? Ich öffnete langsam die Augen und sah auf das Display. Leicht verschwommen erkannte ich die Uhrzeit – 6:30 Uhr. Ich erschrak. Ich hatte doch tatsächlich verschlafen. Wieso hatte Elphie mich nicht schon vor einer halben Stunde geweckt? Ihre innere Uhr funktionierte doch sonst immer. Ich musste noch mit ihr spazieren gehen, bevor sie Charlie mit zur Arbeit nehmen konnte. Ruckartig setzte ich mich in meinem Bett auf – und erstarrte. Dies war nicht mein Zimmer. Auch wenn die Wände in einem hellen Apricot gestrichen waren und ein Bild von irgendeiner Landschaft an der gegenüberliegenden Wand hing, so war ich eindeutig in einem Krankenhaus – schon wieder! Ich sah an mir herunter, entdeckte aber weder eine Infusion noch sonst irgendwelche Schläuche. Ich war auch an keine Geräte angeschlossen. Ich atmete kurz durch. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Mein Vater hatte mich gestern ins Krankenhaus gebracht, damit meine Wunde behandelt werden konnte. Nachdem wir das Aufnahmeformular ausgefüllt hatten, mussten wir nicht lange warten. Schon nach ein paar Minuten war der Arzt erschienen. Ich hatte diesen Mediziner noch nie gesehen, obwohl ich fast Jeden im Forks Memorial Hospital kannte – meiner Neigung zu Verletzungen sei Dank. Der Neue hatte wirklich gut ausgesehen. Weißblonde Haare hatten ein offenes und freundliches Gesicht umrandet, aus dem einen dunkelblaue Augen warm entgegen gestrahlt hatten. Ich war nicht verwundert gewesen, dass sich ungewöhnlich viele Schwestern in seiner Nähe aufgehalten hatten. Ebenso wenig war ich überrascht gewesen, als er sich mit klassisch-britischem Akzent als Dr. Carlise Cullen vorgestellt hatte. Zuerst hatte er meine Wunde behandelt. Sie hatte glücklicherweise nicht genäht werden müssen – ein wenig medizinischer Kleber hatte genügt. Danach waren einige Untersuchungen gefolgt. Mein Stirn war abgetastet, mein Blutdruck gemessen und meine Pupillenreflexe getestet worden. Letztendlich hatte der Doktor entschieden, dass ich wegen Verdachts auf Gehirnerschütterung und einer möglichen Schockgefahr aufgrund des Flüssigkeitsverlustes über Nacht zur Beobachtung dableiben sollte. Ich war aus allen Wolken gefallen. Ich hatte mich doch gut gefühlt. Okay, in meinen Kopf hatte es wahnsinnig gedröhnt und mir war schwindelig gewesen, doch das hätte ich auch zu Hause kurieren können. Ich hatte Charlie angefleht, mich mitzunehmen, doch er war auf Dr. Cullens Seite gewesen. Dieser Judas – er war anscheinend immer noch sauer gewesen, weil ich nicht gleich zu Arzt gegangen war. Ich hatte es nur noch geschafft, den beiden das Versprechen abzunehmen, zur Schule gehen zu dürfen, wenn es mir am Morgen besser gehen würde. Stark angesäuert hatte ich mich von meinem Vater verabschiedet, meinen Handywecker gestellt – man konnte sich ja nicht darauf verlassen, in diesem Haus voller Verräter pünktlich geweckt zu werden – und mich viel zu früh ins Bett gelegt. Während ich schon am Einschlafen gewesen war, hatte ich den Tag noch einmal Revue passieren lassen und war zu der Erkenntnis gekommen, dass mich die Cullens nervten. Es war immerhin ihre Schuld gewesen, dass ich im Krankenhaus übernachten musste. Ich war mir sicher gewesen, sollte ich Mrs. Cullen eines Tages kennen lernen, würde ich über sie genauso denken. Es war also kein Wunder, dass ich von ihnen geträumt hatte. Langsam zog ich die Decke weg und stand auf. Ich hatte am Abend einfach nur meine Jeans und das Hemd ausgezogen, bevor ich mich hingelegt hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich gar keine frische Wäsche bei mir hatte. Ich konnte doch unmöglich mit dem Top, in dem ich geschlafen hatte, zur Schule gehen – so viel zu meinen tollen Plänen. Ich ging ins Badezimmer, um mich meiner Morgentoilette zu widmen. Danach schlüpfte ich notgedrungen in meine Klamotten von gestern, flocht meine Haare zu einem ordentlichen Zopf und verließ das Zimmer. Ich wollte Dr. Cullen oder einen anderen Arzt so schnell wie möglich finden, vielleicht schaffte ich es dann vor der ersten Stunde noch einmal nach Hause, um mich umzuziehen. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, hörte ich die Stimme meines Vaters. „Bells, wo willst du denn hin? Hat der Arzt gesagt, dass du gehen darfst?“ Ich drehte mich um und sah Charlie an. Da stand er in seiner Uniform, eine Papiertüte unter den Arm geklemmt. Seine schwarzen Haare wirkten zerzaust und seine braunen Augen machten einen müden Eindruck. Da ist man eine Nacht nicht da und schon geht alles den Bach runter! Ich sollte ihn eigentlich bemitleiden, aber er hätte mich ja mit nach Hause nehmen können. „Morgen, Dad! Ich war gerade dabei, einen Arzt zu suchen, damit ich hier raus kann. … Du siehst fertig aus und leicht durch den Wind. Ist alles in Ordnung?“ Er schüttelte den Kopf. „Elphie hat mich nicht schlafen lassen. Die halbe Nacht war sie auf der Suche nach dir und ständig hat sie gewinselt. Zu allem Überfluss habe ich es dann auch noch verpennt. Dieser Hund ist einfach zu verwöhnt.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich auf seinen Vorwurf einging: „Elphie ist nicht verwöhnt. Sie war nachts nur noch nie von mir getrennt, dass ist alles. Außerdem hast du dir das selbst zuzuschreiben. Du hast mich ja schließlich hier gelassen.“ „Isabella!“, sagte mein Vater ärgerlich und ich ließ das Thema fallen. Er schaute mich mit einem besorgten Blick an. „Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“ „Nein, mir geht’s gut, ehrlich.“ Das war nicht gelogen. Das Dröhnen in meinem Kopf war verschwunden und auch das Schwindelgefühl war abgeebbt. Ich sah ihm an, dass er noch nicht ganz überzeugt war. Also startete ich eine Ablenkung. „Was hast du da in der Tüte, Dad?“ „Das sind saubere Sachen für dich, falls du entlassen wirst. Ich dachte mir, dass du vielleicht etwas Frisches anziehen möchtest. Außerdem hab ich dir ein Sandwich zu Frühstück gemacht.“ Ich fiel ihm um den Hals. „Danke Dad, du bist der Größte.“ „Na, da ist ja jemand gut gelaunt. Ist die schlechte Stimmung von gestern verflogen?“ Dr. Cullen stand direkt hinter uns und grinste uns freundlich an. Ich ließ Charlie wieder los und dieser räusperte sich verlegen – er mochte solche Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit nicht. Mit einem Lächeln wandte ich mich an den Arzt. „Das kommt ganz auf ihre Diagnose an, Herr Doktor.“ „Nun gut, dann gehen wir zurück in dein Zimmer und ich werde dich untersuchen?“ Er nahm mich eingehend unter Lupe. Seinem Gesicht konnte ich nicht anmerken, was er dachte. Der Ausdruck darauf war gleich bleibend freundlich und ruhig, egal welche Werte er gerade ermittelte. Während ich ihn so betrachtete, kam mir der Gedanke, dass er keinem seiner Kinder ähnlich sah. Da die drei aber auch untereinander sehr unterschiedlich waren, konnten sie nicht alle nach Mrs. Cullen kommen. Vielleicht hatten sie ja verschiedene Mütter oder waren adoptiert? Moment Mal, was dachte ich denn da? Ich war doch nicht Jessica Stanley, die jedem Geheimnis gleich auf die Spur kommen musste. Außerdem interessierten mich die Cullens schließlich nicht im Geringsten. Als er mit seinen Tests fertig war, erneuerte der Arzt noch das Pflaster an meiner Stirn. Dabei sprach er: „Die Verletzung ist sehr gut verheilt, besser als ich erwartet habe.“ Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Nun ja, wer immer mir diese Neigung zu Ungeschicken in die Wiege gelegt hat, hat auch für eine gute Wundheilung und einen starken Knochenbau gesorgt. Sonst wäre ich hier Dauergast.“ Dr. Cullen lachte leise auf und strahlte mich an. „Na dann, ich sehe keinen Grund, warum du nicht zur Schule gehen solltest, Isabella, obwohl die meisten anderen über einen freien Tag begeistert wären.“ Jetzt war ich es, die strahlte. Ich durfte hier raus. Euphorisch, wie ich mich in dem Moment fühlte, erwiderte ich wahrheitsgemäß: „Der Nachmittag war schon peinlich genug, da will ich dem Getratsche lieber gleich die Stirn bieten. Ein weiterer Tag würde dies nur noch verschlimmern. Außerdem ist heute der erste, richtige Schultag. Können sie sich vorstellen, wo ich sitze, wenn morgen alle Plätze verteilt sind?“ Er nickte immer noch schmunzelnd. „Ja, das kann ich verstehen“, antwortete er, bevor sein Blick wieder ernster wurde. „Ich erinnere dich noch einmal daran, genügend zu trinken – du hast gestern viel Blut verloren. Ich hoffe, wir sehen uns nicht so schnell wieder – zumindest nicht hier.“ Dann wandte er sich an meinen Vater: „Charlie, ich rufe sie dann an, wenn wir genaueres aus der Werkstatt erfahren haben. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“ Mit einem letzten Lächeln in meine Richtung wandte er sich zur Tür und ging hinaus. Ich ohrfeigte mich innerlich. Die Reparatur des Volvos hatte ich ganz vergessen. Mein Vater musste gestern Abend noch mit Dr. Cullen drüber gesprochen haben. Fragend sah ich ihn an. „Ich erzähle dir alles, aber du solltest dich dabei umziehen.“ Ich griff nach der Papiertüte und verschwand im Bad. Durch die Tür konnte ich seine Stimme hören. „Nachdem wir gestern dein Zimmer verlassen hatten, sprachen wir noch über das, was geschehen war. Er wusste durch das Aufnahmeformular ja bereits, dass du einen Unfall hattest. Anscheinend hatte eines seiner Kinder ihn bereits angerufen, denn er war nicht überrascht gewesen, als ich ihm vom Schaden am Auto seines Sohnes erzählte habe. Er hat aber keinerlei Probleme gemacht.“ Ja, im Gegensatz zu seinem Filius. Was mein Vater erzählte, passte zu dem Dr. Cullen, den ich kennen gelernt hatte. Er war wirklich ein sympathischer, freundlicher und aufgeschlossener Mensch. Ich könnte ihm sogar das mit der unfreiwilligen Übernachtung verzeihen. Vielleicht nervten doch nicht alle Cullens. „Der Wagen ist jetzt in der Werkstatt und unsere Versicherung wird die Kosten übernehmen“ sprach mein Dad weiter. „Der Volvo wird allem Anschein nach keine bleibenden Schäden davon tragen.“ Bei den letzten Worten gluckste er. Er hatte die Spannung also mitbekommen, die gestern auf dem Parkplatz geherrscht hatte. Ich sollte wirklich aufhören, meinen Vater zu unterschätzen. Ich hörte das Klingeln eines Handys und beeilte mich mit dem Umziehen. Ich wechselte meine Unterwäsche und zog die langärmelige, dunkelgrüne Bluse an, die ich in der Tüte fand. Meine Jeans musste noch mal ran – Charlie hatte mir doch tatsächlich einen Rock eingepackt, obwohl er wusste, dass ich so was nur trug, um Tante Liz einen Gefallen zu tun. Als ich das Badezimmer verließ, telefonierte er immer noch. Es klang wichtig. Als er aufgelegt hatte, schaute er mich an. „Bells, es tut mir leid. Es gab einen Unfall auf dem Highway. Ich muss sofort los. Hast du noch genug Zeit, um zur Schule zu laufen?“ Ich sah auf meine Uhr. Es war viertel nach sieben. Die Forks High lag etwas außerhalb, doch die Zeit müsste reichen. „Kein Problem! Du musst arbeiten. Ich pack das schon. Grüß Elphie von mir. Ich hohle sie dann heute bei dir ab, bevor ich zu NEWTONS gehe – vor der Redaktionssitzung schaffe ich das ohne Auto nicht. Machs gut, Dad!“ Er lächelte mich noch einmal an, ich gab ihm die Tüte mit den alten Sachen und dann ging er hinaus. Als ich meine Tasche zusammengepackt und meinen iPod startklar gemacht hatte, folgte ich ihm. Ich trat auf den großen Platz vor dem Krankenhaus und schaute zum Himmel. Anscheinend hatte die Sonne heute nicht vor, uns ihre Aufwartung zu machen. Aber es regnete zu Glück auch nicht. Ich hatte wirklich keine Lust, wie ein begossener Pudel in der Schule anzukommen. Ich wollte gerade auf den Fußweg einbiegen, als ich hinter mir ein Hupen vernahm. Ich drehte mich um und lächelte. Da stand mein Retter in glänzender Rüstung – sein edles Ross im Schlepptau und ein spitzbübiges Funkeln in den Augen. Nun gut, die glänzende Rüstung waren eine ausgebeulte, viel zu kurze Jeans und ein durchlöchertes Shirt und das edle Ross glich eher einem klapprigen, alten Moped – aber mein Retter war er trotzdem. Während ich meine Ohren von den Kopfhörern befreite, ging ich langsam auf ihn zu und fragte: „Jake, was machst du den hier?“ Mit einem frechen Grinsen im Gesicht antwortete er mir: „Dein Vater hat gestern bei Billy und mir angerufen und uns erzählt, was passiert ist. Ich hab natürlich sofort versprochen, mir deinen Van mal anzusehen. Also habe ich mich heute früh auf den langen Weg von La Push hier her gemacht, um den Unglückswagen zu begutachten. Und ich dachte, dir wäre es lieber, von mir zur Schule gebracht zu werden, als vom Streifenwagen. Das dein Vater eh ohne dich fährt, konnte ich ja nicht ahnen.“ Ich strahlte. Manchmal hatte es seine Vorteile, wenn der beste Freund auf die Schule im Quileute – Reservat ging und eben diese eine Woche länger Ferien hatte als die eigene High School. „Charlie hatte einen dringenden Einsatz“ erklärte ich ihm. „Ich habe also die Wahl zwischen deiner Horrormaschine und Blasen an den Füßen.“ Mittlerweile war ich bei ihm angekommen. Er nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich spürte, dass sein Blick auf dem Pflaster lag. „Wie geht es dir?“, fragte er mit besorgter Stimme. „Es geht mir gut. Ich hatte schon weitaus schlimmere Verletzungen.“ Diese Erläuterung schien ihn nicht zu überzeugen, denn er hakte nach: „Aber du musstest über Nacht hier bleiben?“ „Der neue Chefarzt ist etwas übervorsichtig, dass ist alles“ gab ich ihm zu verstehen. „Außerdem bin ich selbst Schuld. Ich hätte gleich ins Krankenhaus fahren sollen anstatt mir einen Kleinkrieg mit dem Besitzer des anderen Autos zu liefern.“ Jake sah mich fragend an. Also erzählte ich ihm kurz die ganze Geschichte. Als ich fertig war, schaute er verärgert drein und erwiderte: „So ein aufgeblasener Schnösel. Soll ich mir den Kerl mal vornehmen? Glaub mir, ein paar Schrammen würden diesen Esel gut tun.“ Ich schmunzelte. „Danke, aber dass ist nicht nötig. Ich kann mich auch allein wehren. Außerdem tust du schon genug für mich.“ „Was meinst du?“ Mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete ich auf meinen Van. „Na, mein Auto. Du opferst einen deiner letzten freien Tage, um meinen Mist gerade zu rücken. Du bist wirklich ein Schatz.“ Er grinste über beide Ohren. „Ach, das ist doch nichts. Für was hat man denn einen großen Bruder?“ „Großer Bruder?“, empörte ich mich. „So weit ich weiß, bist du immer noch zwei Jahre, zwei Monate und zehn Tage jünger als ich. Bild dir ja nichts ein, nur weil du mir über den Kopf ragst.“ Er machte sich absichtlich noch ein wenig höher, bevor er erwiderte. „Stolze 1,75 m und bei meinem Alter habe ich noch nicht vor, mit dem Wachsen schon aufzuhören.“ Bei seinen letzten Worten verdrehte ich die Augen und sah zu ihm hoch. „Angeber! Sag mir bescheid, wenn du irgendwann aus der Regentonne saufen kannst. … Wo wir gerade beim körperlichen Erscheinungsbild sind – wolltest du dir die Haare nicht wieder schneiden lassen? Sie werden ja immer fransiger.“ Jake schaute an mir vorbei. „Nein, ich trage sie lieber etwas länger, das ist ähm … cooler.“ Soso, cooler also! Wen wollte er hier eigentlich veralbern? Sich selber oder mich? Doch so leicht kam er mir nicht davon. „Jacob Black, wer ist sie und wie ist ihr Name?“ Er funkelte mich sauer an, als er antwortete. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich bin ein Quileute und da ist es normal, längere Haare zu haben.“ „Natürlich, wie konnte ich das vergessen? Du warst es ja auch nicht, der einmal sagte, dass er von dieser Tradition nichts halte und dass er nie ein Freund von Pferdeschwänzen werden würde.“ Jacob wurde rot – vor Scham oder Wut, wusste ich nicht, wahrscheinlich beides. Er warf mir einen bösen Blick zu. „Ach, halt die Klappe! Ich bringe dich jetzt zur Schule, sonst kommst du noch zu spät.“ Mit diesen Worten löste er den festgezurrten Helm vom Gepäckträger und warf ihn mir unsanft zu. Ich stülpte ihn über meinen Kopf – darauf bedacht, das Pflaster nicht zu berühren – und setzte mich hinter Jacob. Es war eine schweigsame Fahrt. Er war eindeutig sauer auf mich. Ich hätte ihn nicht so bedrängen sollen, aber es war in letzter Zeit nicht immer leicht mit ihm gewesen. Seit ich Jake kennen gelernt hatte – und zwar wenige Stunden nach seiner Geburt – waren wir unzertrennlich gewesen. Er war immer der Bruder gewesen, den ich nie hatte. Ich stand ihm näher als meiner eigenen Schwester. Er kannte all meine Stärken und Schwächen und meine Geheimnisse waren bei ihm sicher. Ich war es gewohnt gewesen, dass er immer für mich da war und mit mir über alles sprach. Doch seit er angefangen hatte, sich mit Mädchen zu verabreden, war es anders geworden. Er wollte mit mir nicht über diese Dinge reden, solche Gespräche hob er sich für seine Kumpel auf. Als ich ihm einmal nach dem Grund gefragt hatte, hatte er mir eine äußerst chauvinistische Antwort gegeben: „Bella, du bist meine Schwester, ein Mädchen. Ich kann mit dir doch nicht über andere Mädchen reden. Das sind Männerthemen und die gehören in eine Männerrunde.“ So ein ausgemachter Quatsch. Ich konnte durchaus nachvollziehen, was seine Verehrerinnen an ihm fanden. Er war groß, für sein Alter geradezu riesig. Seine schwarzen Haare hatten einen beinahe blauen Schimmer und umrandeten ein offenes Gesicht mit warmen, tief liegenden, schwarzbraunen Augen. Er hatte das typische Profil der Quileute – ein markantes Kinn und eine gebogene Nase. Seine Haut war rotbraun und er war für sein Alter erstaunlich durchtrainiert – kein Wunder, wenn man mehr in den Bergen und Wäldern herumstreifte, als sich mit seinen Schulbüchern zu beschäftigen. Er wirkte sicherlich sehr attraktiv auf das weibliche Geschlecht, zumindest auf diejenigen, die ihn nicht schon in Windeln gekannt hatten. Wovor also hatte er Angst? Ich würde ihm keine Vorschriften machen oder an seiner Wahl herumnörgeln, so wie Rosalie das bei Jasper drauf hatte. Ich würde nicht das Gesicht verziehen, wenn er sich jede Woche mit einer anderen traf – ich würde zumindest versuchen, dass Gesicht nicht zu verziehen. Ich würde zuhören und wäre für ihn da, so wie immer. Warum musste er nur so stur sein? Es war wirklich frustrierend. Nach einer knappen viertel Stunde erreichten wir das Schulgelände. Jacob fuhr über den Parkplatz direkt zu dem Vordach, unter dem die Motorräder abgestellt wurden. Ich stieg ab und band meinen Helm wieder auf dem Gepäckträger fest. Jake nahm seinen Kopfschutz ebenfalls ab und lehnte sich gegen sein Moped. Noch immer sagte er nichts. Das war doch wirklich albern. Ich suchte seinen Blick und lächelte ihn an. „Danke Jake. Du warst mein Retter. Meine Füße stehen auf ewig in deiner Schuld.“ Er erwiderte mein Lächeln. Zum Glück konnten wir nie lange aufeinander böse sein. „Was macht man nicht alles, um eine Lady vor Schmerzen zu bewahren. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Pünktlich um drei Uhr heute Nachmittag werden mein Ross und ich dich wieder hier erwarten, um dich zurück in dein Schloss zu geleiten.“ Ich schüttelte grinsend den Kopf wegen seiner Wortwahl – manchmal konnte er echt spinnen – ging aber auf sein Spiel ein. „Das ist wahrhaft edel von euch, aber die Lady hat heute noch ein Treffen mit den Dichtern des Burgblattes und danach wartet der Dienst am Newtonschen Marktstand.“ „Mist, heute ist ja Diensttag, das hatte ich ganz vergessen.“ Fragend sah ich ihn an. Er verstand meinen Blick und antwortete. „Abends kann ich dich nicht abholen. Ich hab schon was vor, weißt du, ich … treff’ mich mit den Jungs.“ Ich spürte einen Anflug von Ärger. Er sagte mir eindeutig nicht die Wahrheit. Wütend sah ich ihm in die Augen. Kurz zuckte er zusammen. „Jacob Black, ich kann es akzeptieren, wenn du mir nicht alles sagen willst. Ich verstehe es nicht und es ist nicht leicht, doch ich werde deine Entscheidung respektieren. Aber ich warne dich, lüge mich ja nicht an. Das habe ich nicht verdient und das hat unsere Freundschaft nicht verdient, ist das klar?“ Meine Stimme war nicht lauter als ein Flüstern. Jacob sah mich schuldbewusst an. „Du hast ja Recht. Tut mir leid.“ Er atmete kurz durch: „Ich habe eine Verabredung.“ Ich legte ihm eine Hand auf sie Wange, als Geste der Beruhigung und der Versöhnung. „War das so schwer? Mehr als Ehrlichkeit verlange ich gar nicht. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.“ Ein mattes Lächeln trat auf sein Gesicht. „Natürlich weiß ich das. Es ist nur, ich glaube nicht, dass du verstehst, was gerade in mir vorgeht. Jungs ticken einfach anders als Mädchen. Ich kann mit dir darüber nicht reden. Nicht, solange ich es selbst noch nicht richtig kapiere. Einige Ansichten und Einstellungen, die ich gerade habe, würden dich verletzen und das will ich nicht. Lass mir einfach Zeit, ja?“ Oje, die Pubertät hatte Jacob voll erwischt. Er würde sich also noch mehr von mir zurückziehen. Das war hart, aber ich würde es akzeptieren. Ich nickte. Sein Lächeln wurde wieder strahlend, es wurde zu meinem Jacob – Lächeln. Enthusiastisch sagte er: „Ich bringe dir deinen Van einfach gegen halb sechs bei NEWTONS vorbei. Dann kannst du allein nach Hause fahren.“ Ich schluckte meinen Kommentar von wegen Vierzehnjährige als Autofahrer hinunter. Charlie würde wahrscheinlich nicht mal etwas unternehmen, wenn er ihn erwischte. Zum einen war Billy Black sein bester Freund und Jacob als dessen Sohn hatte in gewisser Hinsicht Immunität. Zum anderen lernten die Jungs im Reservat eher Fahren als laufen. Ich umarmte ihn zum Abschied und ging dann Richtung Eingang – bereit, mich den abschätzenden Blicken und unangebrachten Kommentaren zu stellen. Jake hatte mich erfolgreich von meinem Unfall abgelenkt, doch jetzt – hier auf dem Parkplatz – kam alles wieder hoch. Ich konnte nur hoffen, dass seine Göttlichkeit nicht in meinem Jahrgang war. Es würde schon genügen, ihm auf den Gängen oder in der Cafeteria zu begegnen. Im Unterricht selber konnte ich wirklich keine Ablenkung gebrauchen. Ich nahm mir vor, ihn einfach nicht zu beachten. Ich hatte es nicht nötig, mich grundlos nieder machen zu lassen, egal, was für Probleme er hatte. Außerdem wollte ich es vermeiden, mich wieder provozieren zu lassen. Eine Showeinlage vor der halben High School reichte für ein Semester. Und falls er sich doch zu einer Entschuldigung durchringen sollte, so wollte ich diese nicht mehr hören. Er hatte mich gestern schließlich auch nicht ausreden lassen. Die Devise hieß also „Eiskalt ignorieren!“ Hinter mir hörte ich, wie Jake den Motor startete und davon fuhr. Ich drehte mich noch einmal um und winkte ihm hinterher, dann betrat ich das Schulgebäude. _________________________________________________________________________________ Emmett fluchte leise vor sich hin, als er einem Mopedfahrer ausweichen musste, der wie ein Verrückter vom Schulparkplatz gefahren kam. Seine Laune war seit gestern Abend nicht die Beste – seit eine gewisse Blondine ihm am Telefon eiskalt abblitzen lassen hatte. Hinzu kam, dass es ihm gar nicht gefiel, dass heute sein Auto auf dem Gelände der High School stehen würde. Als es meinen Wagen erwischt hatte, war er damit wesentlich lockerer umgegangen. Ich atmete tief durch. Schon wieder glitten meine Gedanken zum gestrigen Nachmittag. War es nicht schon genug gewesen, dass mich die Erinnerung daran kaum schlafen lassen hatte? Unwillkürlich ging mir mein Gespräch mit Carlisle noch einmal durch den Kopf. Ich klopfte an das Büro meines Vaters und trat ein. Er saß an seinem Schreibtisch – seine Brille auf der Nase und einen Stapel Unterlagen vor sich. Als er mich sah, lächelte er verständnisvoll. Er wusste als schon Bescheid. „Hallo, Edward. Setz dich doch.“ Ich nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz und atmete kurz durch. „Ich nehme an, du weißt bereits, was passiert ist?“ Er nickte, bevor er sprach: „Alice hat mich angerufen, gleich nachdem du sie und Emmett zu Hause abgesetzt hattest, um zur Werkstatt zu fahren. Sie sagte mir, dass du sehr erregt gewesen wärst und dass dich die ganze Geschichte ziemlich mitgenommen hätte. Laut ihrer Auskunft ist der Volvo aber gar nicht so schwer beschädigt. Was war los?“ Ich seufzte. „Alice hat Recht, das Auto ist so gut wie in Ordnung. Die Ersatzteile sind bis morgen Mittag aus Seattle da und spätestens Mittwoch kann ich ihn wieder abholen. Um den Wagen ging es im Enddefekt auch gar nicht. Klar war ich sauer über den Unfall. Doch eigentlich nahm ich ihn nur als Vorwand, um Dampf abzulassen. Es war einfach ein langer, anstrengender Tag. Ich hätte nicht zur Schule gehen sollen. Es war ein Wunder, das ich nicht schon eher ausgerastet bin.“ „Und deswegen legst du dich mit dem erstbesten Menschen an, der dir über den Weg läuft?“ Carlisle lächelte noch immer. Sein Tonfall ließ nicht die Spur eines Vorwurfes erkennen. Er wollte nur verstehen, was passiert war. Da war er nicht der einzige. „Alice hat dir also alles erzählt?“ „Ihr Bericht war sehr ausführlich. Sie wirkte sogar richtig verärgert, als sie mir von dem Streit erzählte.“ Meine Schwester war also verärgert. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Groll nicht gegen Isabella ging. Alice hatte die gesamte Heimfahrt kein Wort mit mir gesprochen und war ohne Abschied aus dem Wagen ausgestiegen. Selbst Emmett war ungewöhnlich still gewesen. Es gab mehrere Menschen, bei denen ich mich für mein Verhalten entschuldigen musste. Doch erstmal musste ich mich hier erklären. „Sie hat ja Recht. Ich habe mich unmöglich benommen. Dabei ist es gar nicht meine Art, mich so leicht aus der Fassung bringen zu lassen. Irgendwie haben dieses Mädchen und ich uns gegenseitig so in Rage gebracht, dass die Situation überkochte. Gleich morgen werde ich sie um Verzeihung bitten.“ Carlisles Gesichtsausdruck änderte sich von interessiert und verständnisvoll zu besorgt. „Es steht noch nicht fest, ob Isabella morgen zur Schule gehen wird. Genaueres darf ich dir natürlich nicht sagen, aber ich musste darauf bestehen, dass sie zur Beobachtung über Nacht hier bleibt.“ Mir stockte kurz der Atem und ich musste schlucken. Wieder kam dieses Gefühl von Schuld in mir hoch. Seit ich gesehen hatte, dass sie verwundet war, machte ich mir Vorwürfe. Natürlich konnte ich nichts dafür, dass sie meinen Wagen gerammt und sich dabei verletzt hatte. Aber wenn ich nicht so wütend gewesen wäre und ihr zugehört hätte, wäre sie vielleicht eher zu einem Arzt gekommen. Wenn meine angestaute Frustration und meine selbst erbrachte Enttäuschung nicht mein Denken bestimmt hätten, müsste sie jetzt vielleicht nicht im Krankenhaus übernachten. Ich fasste einen Entschluss. „Dann sollte ich mich gleich entschuldigen. In welchem Zimmer liegt sie.“ Ich stand auf und ging Richtung Tür. „Nicht so eilig, mein Sohn. Es ist wahrscheinlich keine gute Idee, jetzt zu ihr zu gehen. Ihr Vater ist erst vor einer halben Stunde aufgebrochen – nachdem er zusammen mit mir beschlossen hatte, dass sie hier bleiben sollte. Sie war darüber alles andere als glücklich. Ich befürchte, gerade eben überlegt sie, wen von uns dreien sie zuerst den Hals umdrehen wird.“ Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. Dann fuhr er fort: „Ich musste ihr versprechen, sie in die Schule gehen zu lassen, falls es ihr morgen früh gut genug gehen würde. Vielleicht kannst du ja doch dort mit ihr reden.“ Ich gab mich geschlagen und nickte zustimmend. Ein paar Stunden Ruhe würden sowohl Isabella als auch mir gut tun. Carlisle sah mir an, dass alles gesagt war. „Du solltest jetzt nach Hause gehen, Edward. Esme wartet bestimmt schon mit dem Abendessen. Abgesehen davon wird sie sich Sorgen machen.“ Überrascht sah ich ihn an. „Ich dachte, wir könnten zusammen fahren? Aus diesem Grund kam ich von der Werkstatt hierher ins Krankenhaus.“ „Ich habe leider kurzfristig den Nachtdienst übernommen. Du musst wohl Emmett anrufen, damit er dich abholt.“ Und so war ich aufgebrochen, ohne mich entschuldigt zu haben. Zumindest bei meiner Familie hatte ich dies inzwischen nachgeholt. Fehlte nur noch Isabella. Wir stiegen aus dem Auto. Alice und ich liefen auf das Eingangsportal des Haupthauses zu, unser Bruder hingegen wandte sich Richtung Turnhalle. Dort wartete bereits Jasper auf ihn. Rosalie hatte mir gestern noch den Weg zur besten Werkstatt der Stadt erklärt – bei dreien im ganzen Ort war die Auswahl nicht sehr groß. Derweil waren ihr Bruder und Emmett ins Gespräch gekommen und hatten festgestellt, dass sie in der ersten Stunde gemeinsam den fortgeschrittenen Sportkurs belegt hatten. Meine Schwester und ich machten uns auf den Weg zu unserem Englischunterricht. Den entsprechenden Raum zu finden würde nicht schwer fallen – nicht nach dem ausführlichen Rundgang gestern Vormittag. Im Vergleich zu der euphorischen Stimmung des ersten Schultages wirkte die Atmosphäre in den Fluren heute geradezu gruselig normal. Die meisten Gespräche drehten sich um Stundenpläne und Lehrer. Viele waren mit ihren Gedanken schon in den Klassenzimmern. Als wir auf der Etage ankamen, in der unser Kurs stattfinden sollte, blieb Alice plötzlich stehen. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Freude und Sorge wider. Ich folgte ihrem Blick. Am anderen Ende des Ganges, keine fünf Meter von uns entfernt, standen Angela und Isabella und unterhielten sich angeregt – beide mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Sie war also zur Schule gekommen. Ich wusste bereits, dass Carlise ihr die Erlaubnis dafür gegeben hatte – ich hatte heute früh im Krankenhaus angerufen, um mich nach ihrem Zustand zu erkundigen – doch ich hatte gedacht, sie würde sich einen freien Tag gönnen. Schon wieder ein Irrtum! Ich erlaubte es mir, sie etwas genauer zu betrachten. Gestern in der Turnhalle war ich durch ihren außergewöhnlichen Kleidungsstil zu sehr von ihr selbst abgelenkt gewesen und später auf dem Parkplatz hatte mein Blick nur auf einem Paar großer, wütend funkelnder, brauner Augen geruht. Heute war ich aufmerksamer. Die grüne Bluse, die sie trug, ließ erkennen, dass sie alles andere als plump war. Sie und Rosalie hatten ungefähr die gleiche Figur, obwohl Isabella mindestens zehn Zentimeter kleiner war und nicht annähernd so durchtrainiert. Auch ihre Haare waren wesentlich länger, als ich angenommen hatte. Würde man den dicken, mahagonifarbenen Zopf, der ihr über die Schulter fiel, öffnen, würden die Strähnen ihr wahrscheinlich bis zur Taille reichen. Ihr ovales Gesicht wirkte ebenmäßig – abgesehen von der Nase, die etwas schief zu sein schien. Sie war relativ blass, bei dem Wetter in dieser Gegend war dies aber wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches. Alles in allem war sie durchschnittlich – zumindest redete ich mir das ein. „Hallo Edward, hi Alice! Na, wie geht es euch heute Morgen? Habt ihr gut geschlafen?“ Ich zuckte zusammen, drehte mich aber nicht um. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Jessica Englisch nicht mit uns gemeinsam. Was wollte sie dann hier? Als sie meinen Namen hörte, sah Isabella in unsere Richtung. Ihr freundlicher Blick kühlte merklich ab, ihre Gesichtszüge erstarrten. Sie war immer noch sauer, soviel stand fest. Plötzlich befürchtete ich, dass die Geschichte mit der Entschuldigung nicht so einfach werden würde, wie ich mir das vorgestellt hatte. Sie verabschiedete sich von Angela und ging dann in das Zimmer, indem unsere Stunde stattfinden sollte. Sie war Chefredakteurin der Schülerzeitung – natürlich war sie ebenfalls im fortgeschrittenen Englischkurs. Ich spürte, dass mich jemand berührte und sah an mir hinunter. Alice´ kleine Hand lag auf meinem Arm. Ich blickte ihr ins Gesicht. Ihr Ausdruck war missmutig. Mit den Augen deutete sie auf das Mädchen neben sich. Jessica stand da und strahlte mich an. Sie erwartete anscheinend immer noch eine Antwort auf ihre Fragen. Ich gab ihr keine, nahm Alice bei der Hand und wir folgten Isabella in das Klassenzimmer. Der Englischunterricht war leidlich interessant. Auch an dieser Schule hielt man sich an die Klassiker, große Überraschungen gab es in der Literaturliste nicht. Mehr Spannung schienen da die Debattierduelle zu versprechen, die Ms. Jacoby ankündigte. Ab Oktober würden immer zwei Schüler zu einem vorgegebenen Thema Pro und Contra vertreten. Die Paare würden nächste Woche bekannt gegeben. Während der Stunde sah ich hin und wieder zu Isabella, doch sie ignorierte mich eiskalt. Ich musste mir wirklich etwas einfallen lassen, sonst würde sie mir nicht einmal zuhören. Im Anschluss an Englisch hatte ich Mathe – allein. Alice mochte dieses Fach nicht, deshalb belegte sie nur den normalen Kurs. Als ich den Raum betrat, sah ich schon Jessica, die mir freudig entgegenwinkte und auf den leeren Platz neben sich deutete. Warum musste es ausgerechnet in diesem Fach Doppelbänke geben? Ich beachtete sie nicht – zum zweiten Mal heute. Irgendwann musste sogar sie es verstehen. Mein Blick fiel auf einen unbesetzten Stuhl in der letzten Reihe – neben Angela Weber. Ohne Zögern ging ich auf sie zu und fragte: „Ist hier noch frei?“ Sie nickte schmunzelnd. Sie hatte wahrscheinlich bemerkt, dass ich vor Jessica floh. Der Unterricht verlief sehr entspannt. Angela wurde dem ersten Eindruck, den ich gestern von ihr gehabt hatte, gerecht. Meine voreilige Beurteilung am Nachmittag war unangebracht gewesen. Sie war höflich, bescheiden und klug. Wir sprachen kaum miteinander, doch die Stimmung zwischen uns war freundlich. Als sie sich am Ende der Stunde erhob, verabschiedete sie sich mit einem lächelnden „Mann sieht sich!“ und ging Richtung Ausgang. Ich sah, wie Jessica ebenfalls aufstand. Sie warf mir einen brüskierten Blick zu und stolzierte aus dem Zimmer. Anscheinend hatte sie es endlich kapiert. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand. Als ich auf den Flur trat, hörte ich zwei bekannte Stimmen: „Unsere Cheerleaderkönigin besucht dieses Jahr also den Fortgeschrittenenkurs? Was ist passiert? Ist sie in den Ferien zu einem Mathegenie mutiert?“ Der unterschwellige Spott war nicht zu überhören. Jessica war also auch nicht bei jedem beliebt. „Nein, wahrscheinlich nicht. Ich befürchte, ihr Wechsel hat keinerlei akademische Gründe.“ Während Angela dies sagte, schielte sie in meine Richtung. Ihre Gesprächspartnerin folgte ihrem Blick. Als Isabella mich sah, verschwand ihr Grinsen und machte einem gereizten Ausdruck Platz. Kühl fixierte sie mich. „Verstehe!“ Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu: „Wir sollten uns jetzt beeilen. Du weist ja, dass Mr. Waldheim es gar nicht lustig findet, wenn man zu spät kommt.“ „Du hast Recht! Lassen wir Goethe und Schiller nicht warten.“ Ohne einen weiteren Blick in meine Richtung gingen die beiden den Gang runter. „Hallo, Bruderherz!“ Ich zuckte zusammen. Ich war so in das Gespräch von Isabella und Angela vertieft gewesen, dass ich Alice gar nicht bemerkt hatte. Sie stand neben mir und strahlte übers ganze Gesicht. Ich musste irgendwas verpasst haben, denn als wir uns nach Englisch getrennt hatten, war ihre Laune nicht annähernd so gut gewesen. Ich fragte nach: „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst so fröhlich aus?“ „Natürlich ist alles in Ordnung, warum auch nicht? Ich finde nur, dass Mathe ein ausgesprochen schönes Fach ist.“ Das überraschte mich! Den Grund für diesen Sinneswandel wollte ich unbedingt erfahren. „Seit wann? Soweit ich weiß, hast du Zahlen schon immer gehasst.“ Sie zuckte leicht mit den Schultern und sah gerade aus, bevor sie leise erwiderte. „Ich habe ja auch nicht gesagt, dass der Unterrichtsstoff mir gefallen hat.“ Stirnrunzelnd blickte ich sie an, doch sie wich meinen Augen aus. Ich wusste, dass ich jetzt keine Erklärung bekommen würde. Also stellte ich keine weiteren Fragen. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu unserem Fremdsprachenkurs. Die nächsten zwei Stunden verliefen ohne erwähnenswerte Zwischenfälle. In Spanisch machte sich unser Fernlehrgang bezahlt. Wir hatten keine Probleme, mit den anderen mitzuhalten. Sport bestand heute nur aus der Einweisung, der Belehrung und der Planung für das kommende Semester. Wir mussten noch nicht einmal die Kleidung wechseln. Während Coach Clapp seinen Vortrag hielt, blickte ich mich in der Halle um. Ich konnte Alice in einer Gruppe von Schülern erkennen, die am anderen Ende des Raumes um eine Lehrerin herumsaßen und ihr mehr oder weniger aufmerksam lauschten. Meine Schwester besuchte einen anderen Kurs als ich. Sie war zwar nicht ungelenk, aber Ballspiele jeglicher Art lagen ihr nicht besonders. Deshalb hatte sie sich für die leichte Variante entschieden – ebenso wie Isabella und Angela. In meiner Nähe konnte ich Jessica, ihre Freundin Lauren und diesen Mike erkennen. Sie hatten also mit mir Sport. Zum Glück waren die Blicke, die mir Jessica mittlerweile zuwarf, weniger schmachtend, sondern viel mehr verärgert. So ließ sich diese Unterrichtsstunde bis hin zur Mittagspause gut überstehen. Ich stand vor dem Biologiekabinett und wartete darauf, dass der verschlossene Raum geöffnet wurde. Nur ein paar andere Jugendliche waren ebenfalls schon da. Die meisten befanden sich noch in der Cafeteria, obwohl der Unterricht in wenigen Minuten beginnen sollte – die Mittagspause konnte eben nie lang genug sein. Kaum einer begeisterte sich für die Nachmittagskurse. Es war kein Geheimnis, dass die Konzentration nach einem reichlichen Mahl gegen null sank – Verdauung und Gehirnleistung vertrugen sich eben nicht besonders. Für mich war die letzte Stunde ebenfalls wie im Flug vergangen. Emmett, Alice und ich hatten uns diesmal allein an einen Tisch gesetzt, weit weg von den Cheerleadern. Jessica hatte hin und wieder in unsere Richtung geschielt, war unserem Platz aber ferngeblieben. Es hatte nicht lange gedauert und Mike war zu uns gekommen. Wie es sich herausgestellt hatte, waren er und Emmett schon im Laufe des Vormittages ins Gespräch gekommen und der Eintritt ins Footballteam war für meinen Bruder nur noch Formsache. Das Probetraining würde am Nachmittag stattfinden. Nach kurzer Zeit waren beide aufgestanden, um zum restlichen Team zu gehen. Alice und ich waren jedoch nicht lange allein geblieben. Jasper hatte sich zu uns gesellt. „Ist bei euch noch frei? Meine Verabredung fürs Mittagessen ist leider anderweitig beschäftigt.“ Er hatte Richtung Theke genickt. Dort in der Schlange hatten Angela und Ben gestanden. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass Jasper von dem Jungen gesprochen hatte, immerhin waren sie zusammen im Schwimmteam. Wir hatten über verschiedene Dinge gesprochen, wobei Alice den zuhörenden Part übernommen hatte. Nur hin und wieder hatte sie unseren Gast schüchtern angeblickt. Jasper hatte es interessiert, wie uns die ersten Stunden gefallen hatten und ob wir uns schon für eine AG entschieden hatten. Im Laufe des Gesprächs hatte ich erwähnt, dass ich ein relativ guter Ausdauerläufer war, auch wenn ich dies noch nie wettkampftechnisch erprobt hatte. Bevor ich mich versehen hatte, war ich von Jasper zu einem Probetraining in seinem Team eingeladen worden – immerhin hatte Schwimmen auch etwas mit Ausdauer zu tun. Er hatte sich auch nach meinem Auto erkundigt. Als er dies erwähnt hatte, war mein Blick noch einmal suchend durch den Raum gewandert – wieder erfolglos. Neben mir hatte ich Jaspers Stimme vernommen: „Falls du Bella suchst – die ist nicht da. Sie verbringt die Mittagspausen seltener in der Cafeteria. Meistens findest du sie um diese Zeit in der Bibliothek.“ Fragend hatte ich ihn angesehen und er hatte grinsend erwidert: „Dein Anliegen stand dir förmlich auf die Nasenspitze geschrieben.“ „Ich wollte eigentlich mit ihr reden und mich bei ihr entschuldigen. Doch sie geht mir schon den ganzen Tag aus dem Weg und ignoriert mich.“ Nun hatte er aufgelacht. „Dich entschuldigen? Na dann, viel Glück. Bei ihrem Dickkopf rennst du wahrscheinlich gegen eine Betonwand.“ Seine Worte hatten beinahe liebevoll geklungen. Die beiden standen sich wohl ziemlich nahe? Neugierig hatte ich nachgehakt: „Du klingst beinahe so, als wenn du von deiner kleinen Schwester sprechen würdest.“ „In gewisser Hinsicht ist sie das ja auch.“ Nun hatte auch Alice ihren Blick wieder in Jaspers Richtung gewandt. Dieser hatte unsere erstaunten Gesichter bemerkt und uns belustigt angesehen. „Sagt bloß, Jessica hat euch nicht alle Schlechtigkeiten des Hale – Swan – Clans haarklein offenbart?“ Sie waren miteinander verwandt? Diese Tatsache hatte mich überrascht. Weder der Sheriff noch seine Tochter hatten auf mich den Eindruck gemacht, als gehörten sie in die Welt von Jasper und Rosalie. Doch noch bevor ich etwas erwidern hatte können, hatte Alice das Wort ergriffen gehabt: „Sie hat so einiges erzählt – hauptsächlich gemeinen Klatsch und Tratsch. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass sie eine familiäre Verbindung erwähnt hätte.“ Schmunzelnd hatte Jasper den Kopf geschüttelt. „Ja, das sieht ihr ähnlich. Jessica Stanley würde so gern selbst zu unserer Sippe gehören, dass sie schnell verschweigt, dass Bella als meine Cousine dieses >Privileg< genießt. Es fällt ja auch nicht sofort auf, aber Chief Swan ist der jüngere Bruder meiner Mutter. Sie wurde in Forks geboren und ist auch hier aufgewachsen, bevor sie für ihr Studium in die große, weite Welt aufbrach. Und vor sechseinhalb Jahren sind wir aus New York wieder in ihre alte Heimat gezogen, haben sozusagen die Großstadt gegen ein kleines Kaff getauscht.“ Während seiner Ausführungen hatte Jasper meine Schwester lächelnd angesehen. Diese hatte ihren Blick schnell wieder Richtung Tischplatte gesenkt und war leicht rosa angelaufen – normalerweise bekam sie nicht so schnell Farbe im Gesicht. Im Gegenteil, sie wurde eher blass, wenn sie sich zu sehr bedrängt fühlte. Das Öffnen einer Tür riss mich aus meinen Erinnerungen. Mr. Banner, der Biolehrer, erschien im Flur und heftete einen Zettel an die Wand. Danach wandte er sich unsrer mittlerweile deutlich größer gewordenen Schülerschar zu: „Auf der Liste hinter mir könnt ihr nachsehen, wer euer Laborpartner ist und an welchem Tisch ihr das nächste halbe Jahr sitzen werdet. Ich werde meine Entscheidungen bezüglich der Paarungen nicht rückgängig machen – lange Diskussionen könnt ihr euch also sparen.“ Mr. Banner drehte sich wieder um und ging in das Zimmer zurück. Um mich herum begann ein heilloses Gedränge. Jeder wollte der Erste am Aushang sein – als wenn das am Inhalt des Geschriebenen etwas ändern würde. Die meisten schienen mit der Einteilung zufrieden zu sein – nur hin und wieder war ein unzufriedenes Murren zu vernehmen oder ein langes Gesicht zu sehen. Zu der enttäuschten Kategorie gehörten auch Mike und Jessica, die den fortgeschrittenen Biologiekurs ebenfalls gewählt hatten. Als die meisten das Kabinett bereits betreten hatten, suchte auch ich meinen Namen – und fand ihn direkt neben dem von Isabella Swan. Das Schicksal meinte es anscheinend gut mit mir. Wenn wir uns einen Labortisch teilen würden, konnte sie mich nicht länger ignorieren. Ich sollte es also doch noch schaffen, mich zu entschuldigen. Gut gelaunt ging ich zu meinem Platz und stellte fest, dass er leer war. Wenn ich genau darüber nachdachte, hatte ich Isabella auf dem Gang draußen auch nicht bemerkt. Sie war wohl noch unterwegs? Es konnte jede Sekunde zum Unterricht klingeln. Wenn sie jetzt nicht auftauchte, würde sie es nicht rechtzeitig schaffen. Es läutete - doch sie kam nicht. Auch als Mr. Banner mit zwei Minuten Verspätung den Raum betrat, war der Stuhl neben mir noch frei. Hatte sie etwa gelesen, dass wir Partner sein würden und dann entschieden, zu schwänzen oder den Kurs zu tauschen? Das wäre doch etwas zu viel, nur um mir aus dem Weg zu gehen. Es vergingen weitere fünf Minuten, bis sich endlich die Tür öffnete und Isabella herein kam. Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen ging sie zum Lehrerpult. Dort redete sie kurz mit Mr. Banner. Dieser nickte zustimmend, sagte etwas und wies dann mit der Hand auf die letzte Bankreihe – direkt in meine Richtung. Isabella folgte seiner Geste. Zu dritten Mal an diesem Tag erstarrten ihre Gesichtszüge bei meinen Anblick und ihre Augen bekamen einen eisigen Glanz. Für einen Moment blieb sie regungslos stehen, bevor ihre Beine die Arbeit wieder aufnahmen und sie nach hinten kam. Ohne mich noch einmal anzusehen, setzte sie sich hin. Sie packte nicht einmal ihre Sachen auf den Tisch. Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Kerzengerade und völlig bewegungslos saß sie auf ihrem Stuhl und starrte nach vorn zur Tafel. Anscheinend hoch konzentriert lauschte sie Mr. Banners Vortrag, obwohl dessen ausführliche Einweisung in den Lehrplan alles andere als interessant war. Ich hatte den Verdacht, dass sie kein Wort registrierte. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu übersehen. Es war beinahe witzig. Wenn ich mit meiner Entschuldigung nicht bald rausrückte, würde sie sich wahrscheinlich vor lauter Steifheit noch an der Wirbelsäule verletzen. Ich drehte mich zu ihr um, ignorierte ihr Seufzen und ihr Augenrollen und begann zu flüstern: „Hallo! Ich glaube, wir hatten gestern einen ziemlich schlechten Start. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leid … .“ Weiter kam ich nicht, denn sie bedeutete mir mit ihrem Finger, still zu sein. Ich war so verdutzt, dass ich tatsächlich verstummte. Sie blickte mich grimmig an, bevor sie ebenso leise, aber deutlich bestimmter auf meine Worte einging: „Okay, du hast Recht. Wir hatten einen schlechten Start. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es besser für unsere Gesundheit wäre, wir würden uns aus dem Weg gehen.“ Sie atmete tief durch und sprach weiter: „Nun ist es jedoch so, dass mir meine Noten wichtig sind und da du nur Fortgeschrittenenkurse belegt hast, nehme ich an, dass es dir genauso geht. Wir sollten also vergessen, was gestern passiert ist und versuchen, während dieser einen Stunde am Tag vernünftig zusammen zuarbeiten. Die restliche Zeit können wir uns ja mit ausgesuchter Höflichkeit ignorieren und es vermeiden, uns gegenseitig umzubringen.“ Ich wusste nicht, ob es die Worte allein waren oder ob ihr gereizter Tonfall den Ausschlag gab, doch als sie ihre Ausführung beendet hatte, verspürte ich nicht mehr die geringste Lust, mich zu entschuldigen. Sie wollte es ja sowieso nicht hören oder geschweige denn glauben. Wieso sollte ich Schuldgefühle wegen dem Geschehenen haben? Sie wäre vielleicht auch ohne meinen unangebrachten Wutausbruch nicht ins Krankenhaus gefahren – so verdammt stur, wie sie war. Jasper hatte vollkommen Recht gehabt – doch ich war nicht gewillt, gegen eine Betonwand zu rennen. Das letzte, was ich tun würde, wäre, mich einer solchen Erniedrigung auszusetzen. Dafür hatte ich viel zu viel Stolz. Also nickte ich nur zustimmend und blickte wieder geradeaus. Sie tat das gleiche. Zum zweiten Mal, seit ich sie kannte, breitete sich ein eigenartiges Gefühl der Enttäuschung und Frustration in mir aus. Ich sollte aufhören, mir ein Bild von ihr zu machen – sie würde es ja doch zum Gegenteil verkehren. Die restliche Stunde mussten wir nicht zusammen arbeiten und beachteten uns dementsprechend nicht. Ich sah, dass Mike verstohlen zu uns schielte – mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Da hatte wohl jemand Angst gehabt, ich könnte ihm die Tour vermiesen? Nur keine Angst, Mike. Selbst das Höllenfeuer könnte das Eis nicht auftauen, das sich zwischen Isabella und mir aufgebaut hatte. Wenig später stand ich neben Alice in dem Zimmer, in dem unser letzter Kurs stattfinden sollte. Wir hatten uns auf dem Weg hierher ein wenig zu viel Zeit gelassen und deshalb waren die meisten Plätze schon belegt. Auf einer Dreierbank in der zweiten Reihe saß Jessica und lächelte in unsere Richtung. Sie war schwer darauf bedacht, nur meine Schwester anzusehen. Anscheinend machte sie sich immer noch Hoffnungen, Alice zu den Cheerleadern locken zu können und wollte sich deshalb mit aller Macht mit ihr anfreunden, egal, was sie inzwischen von mir dachte. Meine Schwester jedoch schien das gar nicht zu bemerken. Ohne zu Zögern ging sie in die letzte Reihe zu einem Tisch, an dem ebenfalls noch zwei Plätze frei waren – neben Isabella Swan. Ich sah, wie die beiden miteinander sprachen. Isabella schaute auf und traf meinen Blick. Für einen kurzen Moment starrte sie mich an und ich konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Dann verzog sie missmutig den Mund und nickte zustimmend. Alice drehte sich strahlend zu mir um und bedeutete mir, mich neben sie zu setzten. Ich dachte gar nicht daran. Ich war nicht darauf angewiesen, von gewissen Damen in deren Nähe geduldet zu werden. Dass meine Schwester sich diesen Sitzplatz ausgesucht hatte, war verständlich. Sie hatte seit gestern noch nicht wieder mit Isabella zu tun gehabt und war sich deswegen sicher, dass der Platz neben ihr weitaus erträglicher wäre, als ein Semester am Tisch von Jessica verbringen zu müssen. Dies hieß aber nicht, dass ich ihr dorthin folgen musste. Ich fand die Idee mit dem gegenseitigen Ignorieren mittlerweile nämlich äußerst verlockend. Ich schüttelte meinen Kopf und suchte mir einen einzelnen Stuhl eine Reihe weiter vorn. Alice sah mich ungläubig an, machte aber keine Anstalten, mich zu überreden, doch noch nach hinten zu kommen. Die ganze Stunde über spürte ich ihre fragenden Blicke im Rücken, doch ich drehte mich nicht um. Ich hatte keine Lust, mein Verhalten zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Als es zum Stundenende klingelte, erhob ich mich und blickte das erste Mal nach hinten. Alice lächelte ihrer Banknachbarin zum Abschied zu und diese erwiderte die Geste mit einem freundlichen Nicken. Dann trat meine Schwester neben mich, immer noch einen fragenden Ausdruck in den Augen. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich jetzt nicht darüber reden wollte. Noch einmal musterte sie mich kurz, gab dann aber auf und wandte sich zum Gehen. Plötzlich trat Jessica ans Ende des Tisches, an dem ich gesessen hatte und versperrte uns den Ausgang. Deshalb wurden wir unfreiwillig Zeuge eines durchaus interessanten Gespräches. „Ich muss mit dir reden, Swan!“ Isabella war noch immer damit beschäftigt, ihre Sachen in ihre Tasche zu packen und sah nicht einmal hoch, als sie antwortete: „Falls es um Nachhilfe in europäische Geschichte geht, so lautet meine Antwort 'Nein'. Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als Kurse zu belegen, die über deinem Niveau liegen – nur, um gewissen Leuten hinterherzulaufen – dann ist das nicht mein Problem.“ Es bestand nicht der geringste Zweifel, wen sie mit „gewissen Leuten“ meinte. Jessica machte ein beleidigtes Gesicht und für einen Moment sah es aus, als wollte sie sich umdrehen und gehen. Doch anscheinend war ihr ihr Anliegen zu wichtig und so atmete sie durch und erwiderte: „Es geht nicht um Geschichte. Ich habe sowieso vor, den Kurs zu wechseln.“ Kurz funkelte sie böse in Alice´ und meine Richtung, bevor sie fort fuhr: „Ich möchte mit dir über den Cheerleader - Artikel in der Schülerzeitung sprechen.“ Isabella sah überrascht auf. „Kann es sein, dass ich etwas vergessen habe? Soweit ich mich erinnere, gab es nie einen Artikel über die Cheerleader in unserer Zeitung.“ Jessica nickte zustimmend. „Und genau das ist das Problem. Letztes Jahr habt ihr jede AG eingehend vorgestellt – nur meine nicht. Ich hatte angenommen, das wäre ein Versehen gewesen. Bis zum Jahresende haben wir auf eine Sonderausgabe gewartet und als diese nicht kam, dachte ich, wenigstens eine gute Erklärung während der AG-Vorstellungen gestern Nachmittag zu bekommen – aber nichts. Ich finde, das ist eine bodenlose Frechheit. Nur, weil du mich nicht leiden kannst, lässt du uns außen vor. Meinst du nicht, dass du dein Amt etwas ausnutzt?“ Jessica hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie war wahrscheinlich sehr stolz auf ihre Argumentation. Isabella hingegen musste sich ein Lachen verkneifen, bevor sie antwortete: „Wir haben euch nicht außen vor gelassen, Stanley. Wir haben nur deinen Wunsch berücksichtigt. Du wolltest nicht, dass wir über euch berichten und wir respektieren solche Bitten im Allgemeinen. Immerhin sind wir keine Paparazzi.“ Damit wollte sie gehen, doch Jessica stellte sich ihr in den Weg. Ihre Wangen glühten vor Zorn. „Meinen Wunsch? Ich habe nie gesagt, dass ich gegen einen Artikel über die Cheerleader bin.“ Isabella stöhnte geräuschvoll auf, ging auf das Geschrieene aber mit ruhiger Stimme ein: „Dann muss ich deinem Gedächtnis wohl auf die Sprünge helfen. Du meintest – entschuldige, wenn mir der genaue Wortlaut nicht mehr einfällt – dass 'die RainGazette ein einfallsloses, uninteressantes und völlig langweiliges Käseblatt wäre, mit einer Chefredakteurin, die eine gute Story nicht einmal erkennen würde, wenn man sie mit der Nase darauf stößt und dass nur ein vollkommen verblödeter Dorftrottel seinen Namen und eine Geschichte über sich in dieser Möchtegern-Zeitung lesen wolle'. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen.“ Jessica war schneeweiß geworden. Die Worte schienen ihr im Hals stecken geblieben zu sein. Isabella sah sie mitleidig an und sprach weiter: „Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass wir die erwähnte Unterhaltung geführt hatten, bevor du gewusst hast, dass es eine Jahresreihe über die Schul – AGs geben würde. Ich war mir aber sicher, dass du deine Meinung nicht geändert hast. Tut mir leid, da habe ich mich wohl geirrt! Vielleicht können wir ja in einer der nächsten Ausgaben eine kleine Randnotiz vermerken. Nicht, dass noch jemand denkt, die Forks High hat keine Cheerleader.“ Sie tätschelte Jessica leicht die Schulter, ging an ihr vorbei und verschwand nach draußen. Alice sah mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen an, sagte jedoch nichts. Ich für meinen Teil musste ein Grinsen unterdrücken. Es war sehr amüsant, Isabellas bissigen Kommentaren zu lauschen, wenn man selbst nicht der Sparringpartner war. Jessica erholte sich langsam aus ihrer Starre und blickte Alice beleidigt an: „Ich nehme an, du kommst nicht mit zum Treffen der Cheerleader?“ Meine Schwester schüttelte den Kopf. „Wie du willst! Noch einmal werde ich dich aber nicht fragen.“ „Gut. Dann wäre das Thema ja endlich vom Tisch“, antwortete Alice in einem erfreuten Ton. Jessica schnaubte brüskiert auf, dreht sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer. Nur einen Augenblick später erschien Jaspers Kopf im Türrahmen. Er sah mich fragend an. „Wo bleibst du denn, Edward? Das Probetraining fängt gleich an.“ Und schon war er wieder verschwunden. Ich blickte zu Alice. „Geh schon! Ich warte in der Schulbibliothek, bis Emmett und du fertig seid.“ Sie gab mir einen kleinen Knuff in den Rücken und ich verließ den Raum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)