Die letzten Tage von Ryucama (Aus den Memoiren der Schüler Ansems des Weisen) ================================================================================ Kapitel 6: Schicksalhafte Entscheidung -------------------------------------- Als er erwachte, fühlte er nur eins: Leere. Sein Herz schwieg. Dort, wo es einst geschlagen hatte, klaffte nun finsterste Dunkelheit, ein Loch der Stille. Dilan stöhnte, zwang sich, die Augen zu öffnen. Als erstes sah er nur verschwommene Umrisse. Dann, langsam, erkannte er die Wand neben sich, blutbespritzt. Amelias Blut, erinnerte er sich. Seltsamerweise fühlte er nichts, obwohl die junge Frau auf schrecklichste Art und Weise zu Tode gekommen war. Seine Verlobte. Jemand ließ sich neben ihm nieder, legte ihm die Hand an die Schläfe. „Du also auch.“ Aeleus. Er seufzte. „Ruhig. Zu Beginn war er noch unerfahren, als er euch die Herzen raubte. Ienzo erwachte bereits nach wenigen Minuten wieder.“ Dilan stöhnte: „Was ist hier passiert?“ Aeleus schüttelte den Kopf. „Das wissen wir selbst auch nicht so genau. Ich nehme an, als Xehanort uns die Herzen stahl, passierte etwas Unvorhergesehenes. Irgendwie sind unsere Körper zurückgeblieben – leere Hüllen ohne Herz und Emotion.“ Even. Aber er klang irgendwie anders als sonst. „Er sagte, wir hätten sehr starke Herzen gehabt, die ideale Kraftquelle für einen Herzlosen.“ Auch Ienzo war hier? „Jedenfalls, wir sind noch – oder wieder – am Leben. Zwar nicht mehr in alter Form, aber immerhin sind wir in der Lage, unsere Forschung fortzuführen.“ „Aber wir... wir sind doch...“ „Ich weiß, Dilan. Wir sind nicht mehr, was wir waren.“ Even schüttelte den Kopf. Mittlerweile konnte Dilan Einzelheiten erkennen. Da meinte jemand außerhalb seines Gesichtsfeldes: „In jedem Fall sind wir jetzt in der Lage, Dinge zu tun, von denen wir nie zu träumen wagten. Ich schätze, diesmal täte sich ein Herzloser schwer mit uns – wenn es denn noch etwas gäbe, was ihn interessieren würde.“ „Xehanort!“ Dilan fuhr auf, wich zurück. Xehanort – oder das, was von ihm übrig war – lächelte bitter. „Sozusagen, ja, wenn du den Anderen Ansem nennen willst.“ Dilan begriff. Hier befand sich Xehanorts leere Hülle, nicht der Herzlose, der sie angegriffen hatte. Er schüttelte den Kopf, sah zur Seite und erkannte Braig bewusstlos neben sich. „Wir hielten es für besser, ihn herzubringen. Wir wollen warten, bis er aufwacht.“, meinte Ienzo leise. „Du fühlst auch nichts mehr, stimmts?“ Aeleus wies auf die Blutspritzer an der Wand. Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Nein...“ Sie saßen schon zwei Stunden im Gang, ohne zu sprechen. Dass Aeleus, ausgerechnet Aeleus, der sonst kaum etwas sagte, derjenige war, der das Schweigen brach, zeugte davon, dass er sich tiefergehende Gedanken gemacht hatte. „Irene ist wohl auch erwischt worden. Aber auch ich fühle nichts mehr. Ich frage mich, ob das nicht ein Vorteil ist, ein herbeige...“ Aeleus brach mitten im Wort ab. „Was ist hier los?“ Braigs Finger krallten sich in Aeleus' Arm. „Ah, also ist auch der letzte von uns wach.“, nickte Even. „Was macht der hier?“, Braig deutete mit einer Grimasse auf Xehanort. „Reicht ihm mein Herz etwa nicht?“ „Das ist nicht der Herzlose, sondern das, was übrig blieb. Wie du übrigens auch.“, bemerkte Even bissig. „Holla, langsam! Soll das heißen...“ Ienzo nickte. „Wir alle sind die „Reste“, wenn du so willst. Leere Hüllen.“ „Also rennt quasi mein Herzloser irgendwo frei herum, während mein Herz von... Xehanorts Herzlosem verdaut wird?“ Die anderen Fünf nickten. Braig seufzte. „Na wunderbar. Und was sind wir dann? Laut der These sollte doch nur ein Herzloser entstehen – oder erinnere ich mich da falsch?“ „Du liegst richtig. Würde man Herz und Herzlosen zusammenführen, wäre der Mensch wiederhergestellt. Wir jedoch sind...“ Xehanort seufzte. „...so gesehen nichts. Niemand.“ Even nickte. „Die Bezeichnung passt. Wir sind nicht nötig für die Wiederherstellung – und, wenn ich das bemerken darf, entsteht auch nicht bei jeder Umwandlung einer von uns. Würden wir sterben – wobei ich nicht weiß, was dann passiert – würden wir aufhören zu existieren, als hätte es uns nie gegeben.“ „Wenn wir jetzt aber ein Herz bekommen könnten...?“ Aeleus schüttelte den Kopf und Dilan sah ihn fragend an. „Würde wahrscheinlich nicht funktionieren – Stichwort Kompatibilität. Du als halber Feinmechaniker solltest das eigentlich wissen.“ „Was haltet ihr davon, wenn wir Ansems Bibliothek zu dem Thema Herzen durchwühlen? Selbst wir haben nicht bemerkt, was uns gegenüberstand – Ansem wird es erst recht nicht bemerken!“ Ienzo schaute nachdenklich den Gang hinunter. Xehanort nickte. „Gute Idee. Aber wir sollten im Gedächtnis behalten, dass das Licht eines Herzens uns verraten kann. Even? Du, Ienzo und Aeleus, ihr sucht nach einer Möglichkeit, ein Herz für unsereins zu finden. Braig, Dilan und ich suchen nach der Möglichkeit, geraubte Herzen zu verwenden. Gebt euer Bestes – es ist die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt.“ „...Und verhaltet euch in Gottes Namen unauffällig, einfach so wie früher. Wenn Ansem bemerkt, was passiert ist, lyncht er uns!“, merkte Even an. „Womit wir bei einem anderen Problem wären: der Herzlose.“ Ienzo schüttelte den Kopf. „Er ist weit weg, wohl in der Kristallschlucht, wenn mich mein Gefühl nicht trügt.“ Die anderen Schüler starrten ihn an, Dilan eingeschlossen. „D-du kannst ihn spüren?“ Der Jüngste nickte. „Deutlich. Es liegt vielleicht daran, dass wir jetzt... anders sind.“ „Ich spüre nichts. Ist vielleicht ein spezielles Talent.“, meinte Braig leise. Xehanort nickte. „Passt also auf, was ihr sagt und tut. Je länger wir die Illusion einer heilen Welt aufrechterhalten können, umso besser ist es für uns!“ Dann gingen sie alle sechs an die Arbeit. Die Recherchen gingen nur sehr mühsam voran. Dilan, Braig und Xehanort saßen nachts oft Stunden in der riesigen Bibliothek, blätterten durch Literaturkataloge oder durch dicke Wälzer. Bisher hatten sie noch keinen Erfolg gehabt. Gar keinen. Doch zumindest hatte Ansem der Weise bisher keinen Verdacht geschöpft. Es schien, als spielten sie alle ihre Rollen mit Bravour – keiner hatte sich bisher verraten. Und auch die Herzlosen hatten sich nicht mehr blicken lassen. Dilan sah auf, als Even zur Tür hereinkam, ein dickes Buch unter dem Arm. Aeleus und Ienzo folgten ihm, das war der Grund, weshalb auch Braig und Xehanort von ihrer Arbeit aufsahen. Even trat an den Tisch, schob ein Buch zur Seite und legte seines aufgeschlagen auf die jetzt freie Fläche. „Wir haben etwas entdeckt. Seht euch das an!“ Dilan sah flüchtig darauf, erkannte aber dadurch, dass ihm das Buch umgekehrt gegenüberlag, nur einen großen Mond in Herzform als Abbildung neben dem Text. Xehanort bedeutete Even zu sprechen. Der Blonde gehorchte nur allzu gerne. „Unsere Entdeckung beruht auf einer ganzen Welt – oder besser der Theorie davon – die Kingdom Hearts genannt wird. In diesem Buch wird es als einzige Möglichkeit genannt, ein Herz zu bekommen – diese Welt ist, wenn man so will, ein Quell der Herzen. Lest es euch durch!“ Nacheinander taten sie das. Als sich schlussendlich auch Dilan zurücklehnte, schwiegen sie alle nachdenklich. Dann meinte Ienzo langsam: „Die einzige Möglichkeit für uns besteht darin, das Königreich der Herzen zu kreieren. Auch wenn das bedeutet, dass wir selbst zu Verbrechern werden müssen.“ „Wir haben keine Emotionen mehr – was sollten uns Regeln und Menschenschicksale noch kümmern?“, konterte Xehanort bitter. „Es klingt nach einem Haufen Arbeit. Wir brauchen sicher nicht wenige Herzen dafür.“, kam es von Braig, doch Even fauchte: „Willst du so weiterleben? Blind und taub? Ohne Empfindungen? Na, ich jedenfalls nicht!“ Aeleus gab ihm Recht, doch Dilan schwieg. Dann würde er Schmerz über Amelias Tod empfinden. Er wusste nicht, ob er das wollte. Vorausgesetzt, dass diese ominöse Theorie der Wahrheit entsprach. Xehanort fragte: „Also... sollen wir versuchen, ein Herz für uns „Niemande“ zu bekommen? Auch wenn wir dafür durchs Feuer gehen müssen?“ Er sah in die Runde. Even nickte heftig, Braig faul, während Aeleus und Ienzo noch zögerten. Dann nickten beide kaum merklich. Dilan seufzte. „Ich schließe mich der Mehrheit an.“ Der Weißhaarige lächelte. „Ich mich ebenso. Also. Ich schlage vor, wir schotten uns ab jetzt etwas ab. Wir sind keine Menschen mehr. Wir sind nichts. Nichts weiter als eine Variable in einer mathematischen Gleichung zwischen Herz und Herzlosem, gegenüber dem ganzen Menschen. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir quasi ein neues Leben beginnen. Dem Kingdom Hearts nahe, als wahre Niemande, an unsere begründete Existenz glaubend. Und was wäre besser, als den Namen zu verändern?“ Alle Fünf nickten. Dilan schwieg. Xehanort dachte kurz nach. „Mein Name soll Xemnas sein – als Antwort auf die freche Aussage meines Herzlosen, der sich Ansem nennt, werde ich dessen Anagramm als Namen wählen – und das „X“ als Symbol des Niemands hinzufügen.“ Wieder nickten die Anderen eifrig. Xehanort bedeutete Braig, fortzufahren. „Dann wähle ich... uh...“ Dilan grinste, die Buchstabenkombination war unvorteilhaft für ein „X“. Schließlich entschloss sich Braig: „Klingt zwar etwas holprig, aber ich möchte von jetzt an Xigbar genannt werden.“ Er grinste und Even sah ihn mit gerunzelter Stirn an, ehe sein Blick zu Dilan wanderte, offensichtlich wartend, was der zweite Schwarzhaarige wählen würde. Dilan dachte ruhig nach, ehe er schlicht „Xaldin“ sagte. Der nächste in der Reihe hätte eigentlich Aeleus sein sollen, doch Even kam ihm zuvor: „Nicht, dass mir viele Möglichkeiten blieben... Vexen.“ Aeleus brauchte wieder etwas länger. „Lexaeus – ich wusste schon immer, dass mein Name kompliziert ist. Scheint, als würde sich das nicht so schnell ändern.“ Alle wandten sich zu Ienzo um. Der Jüngste zog nachdenklich die Brauen zusammen. „Zexion.“ Xehanort – nein, Xemnas – sah in die Runde. „...In der Reihenfolge, wie wir zu Niemanden wurden... lasst uns jetzt gehen. Für uns gibt es hier keinen Platz mehr.“ Die sechs Niemande begaben sich nach unten in den alten Gumi-Hangar, wo Ansem der Weise seine Gumi-Schiffe untergestellt hatte. „Wohin fliegen wir?“, wollte Vexen wissen. „Denk vorher nach, bevor du dummes Zeug redest. Wir suchen den Abgrund zur Finsternis. Dort wird sich das Kingdom Hearts finden.“, antwortete Xemnas knapp. Vexen zog den Kopf ein und folgte Zexion und Xigbar ins Innere eines Gumi-Schiffes. Ihr Lehrer hatte nur kleine Schiffe, insofern würden sie sich aufteilen müssen. Xemnas winkte Lexaeus und Xaldin zu einem zweiten, wesentlich dunkleren Schiff. „Glaubst du, wir schaffen das?“, fragte Xaldin leise. Xemnas antwortete: „Unser Wille ist alles, was wir noch haben. Wenn wir unserem Willen nicht mehr trauen, was sind wir dann noch, Xaldin?“ Der Angesprochene schwieg, senkte den Kopf und nahm schließlich auf einem der Sitze Platz. Als sich die beiden Schiffe, das grün-weiße und das grau-goldene, aus dem Hangar bewegten, seufzte Xaldin. Er war nicht überzeugt, dass das, was sie taten, richtig war. Aber es schien, als bliebe ihnen keine andere Wahl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)