Aufzeichnungen eines Sterbenden von Zeyaana ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Meine Geschichte beginnt vor vielen Jahren - vor sechshundertdreiundfünfzig, um genau zu sein. Meine Heimat war Reilimee an der Küste des Windlandes, eine wunderschöne, kleine Stadt umgeben von einem mächtigen und magiedurchdrungenen Wald. Auch jetzt, nachdem ich alles, was sich in diesem Wald zutrug, augebreitet vor mir sehe, erscheint er mir trotzdem noch immer offen und freundlich. Was löst diese Gefühle wohl aus? Ich kann es nicht sagen. Ich war zu dieser Zeit ein blutjunger und unerfahrener Elf, gerade erst vom Jugendlichen zum Erwachsenen geworden, und hatte jede Menge Flausen im Kopf. Meine Lieblingsbeschäftigung war es, andere Elfen zur Weißglut zu bringen, weshalb meine Eltern auch recht früh entschieden, mich an eine Kampfakademie zu geben. Ganz verziehen habe ich ihnen das, glaube ich, nie... Ich versuchte natürlich, auch den Leiter dieser Akademie so mit Scherzen und Streichen zu ärgern, dass er mich wieder hinauswarf, doch er schien diese Taktik zu kennen und ich handelte mir laufend ein paar Extralaufrunden oder Extrakraftübungen ein, anstatt die Schule verlassen zu dürfen. Nachdem ich mich so zum Gespött der gesamten Akademie gemacht hatte, gab ich es auf und spielte das Spiel notgedrungen mit. Es folgte die wohl härteste, aber auch lehrreichste Phase meines Elfenlebens. Ich lernte nicht nur das Kämpfen, worin ich übrigens nie sonderlich gut war, sondern auch, Respekt gegenüber anderen Elfen und Lebewesen zu zeigen und immer mit Bedacht und unter Berücksichtigung alles möglichen Konsequenzen zu handeln. Wie heuchlerisch mir das jetzt alles vorkommt... Am Ende war ich der Einzige, der wirklichen Respekt zeigte - doch ich greife vor. Etwa zwei anstrengende Jahre vergingen ohne besonderen Vorkommnisse. Das Leben an der Schule hatte seine Höhen und Tiefen, und ich machte mir sowohl Freunde als auch Feinde gleichermaßen. Ich will nicht sagen, ich sei beliebt gewesen; dennoch kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich in das System der Schule integriert war und von allen akzeptiert wurde. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich über alle Jahrgänge und Gruppen erstreckte, hatte etwas magisches. Wir waren wie eine große, starke Familie - das dachte ich zumindest in meiner grenzenlosen, jugendlichen Naivität. Schon seit einigen Monaten hatten mein Jahrgang und somit auch ich damit angefangen, die Kunst des Bogenschießens zu erlernen. Jeden Tag wurden wir darin einige Stunden auf einem großen Übungsplatz unterrichtet und schossen auf große, runde Strohscheiben, während ein erfahrenerer Schütze neben uns stand und uns Anweisungen gab, was wir besser machen sollten. Es war die Aufgabe des ältesten Jahrgangs der Schule, die Jüngeren im Bogenschießen zu unterweisen, weshalb jeder seinen eigenen persönlichen Lehrer hatte. Der Elf, der neben mir stand, war ein ziemlich strenger und ungeduldiger Lehrer und gab mir immer mal wieder leichte Schläge auf den rechten Arm (der, mit dem ich die Sehne spannte), wenn ich zitterte oder zu hoch oder zu tief zielte. Er war der Sohn des Akademieleiters und hielt sich für den besten Schüler der gesamten Schule, war in Wahrheit jedoch nicht halb so gut wie er sich einschätzte. Immer, wenn ich genau die Mitte der Scheibe traf, zog er genervt die Augenbrauen zusammen, murmelte etwas von unverschämtem Anfängerglück und dass ich mir ja nichts darauf einbilden solle und gab mit beim nächsten Mal einen besonders fiesen Schlag auf den Oberarm, damit ich den nächsten Schuss verriss. Ja, man könnte durchaus sagen, dass ich diesem Angeber nicht sonderlich zugetan war... aber was wollte ich machen, ich hatte meine Lektion gelernt und akzeptierte ihn ohne Klagen als meinen "Vorgesetzten". Ich war nicht der einzige der gute Fortschritte machte. Das Bogenschießen lag mir um einiges mehr als der Kampf mit dem Schwert oder anderen Nahkampfwaffen, bei dem ich regelmäßig versagte, und schon bald war ich einer der Besten der Schule - was den Sohn des Schulleiters unsäglich ärgerte. Merkwürdigerweise kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern, aber das Grinsen das er auf dem Gesicht trug, nachdem er mich einmal zum Schwertduell aufgefordert und natürlich gewonnen hatte, sehe ich noch ganz genau vor mir. Nachdem wir fünf Monate lang mit dem Bogen geübt hatten, sollten wir in kleinen Gruppen zu unserer ersten Jagd ausrücken - immer ein Lehrer des ältesten Jahrgangs mit den Schülern, die er unterrichtet hatte. Zufälligerweise, ganz ohne einen besonderen Grund oder irgendeine dahintersteckende Absicht, musste der Sohn des Akademieleiters in diesem Jahr nur zwei anstatt der sonst üblichen vier Schüler unterweisen, und so zogen wir zu dritt, mit unseren Bögen und jeweils drei Pfeilen bewaffnet, aus in den großen Wald südlich Reilimees. Der andere Schüler meines Jahrgangs, der mein Schicksal mit dem arroganten Elfen teilen musste, war ein zurückhaltender, verschlossener junger Mann. Er redete nur äußerst selten und war sehr schüchtern, was ihn zu einem beliebten Ziel von Anfeindungen und Beleidigungen seitens unseren gemeinsamen Lehrers machte. Der arme Karl war sichtlich nervös, denn er wollte den anderen unbedingt zeigen, dass er zu etwas taugte und nicht nur daneben herlief, während der Sohn des Leiters und der begabteste Neuling die Jagd alleine durchzogen. Ich hatte während unseres Marsches durch das Unterholz bereits mehrere Hirsche, Rehe, Gelgeroks und Wildschweine ausgemacht, aber da unser Lehrer die Jagd anführte und ich mir nicht schon wieder Ärger einhandeln wollte, hielt ich brav den Mund und wartete, bis er schließlich auch endlich eine Beute ausmachte. Mit ungelenken Handzeichen bedeutete er uns beiden, uns vorsichtig anzupirschen und auf sein Kommando jeweils einen Schuss abzugeben. Ich musste mich beherrschen um nicht die Augen zu verdrehen, tat jedoch wie mir geheißen und verbarg mich mucksmäuschenstill in einem Gebüsch, hinter dem der erspähte Hirsch weidete. Der andere Schüler, dessen Name mir kurioserweise ebenfalls nicht mehr einfällt, befand sich ein Stück versetzt hinter mir. Ich spannte mit geübten Handgriffen meinen Bogen, zog lautlos einen Pfeil aus meinem Köcher und legte ihn locker an die Sehne. Ich weiß noch, dass ich Mitleid für den Hirsch empfand... ich fürchtete, dass wir ihn zwar treffen, aber nicht töten könnten und nahm mir vor, wenn nötig noch einen zweiten Pfeil abzuschießen - Befehl hin oder her. Ungeduldig starrte ich die Hand unseres Lehrmeisters an und wartete darauf, dass er sie fallen ließ. Weshalb zögerte er denn noch? So langsam ging mir dieser arrogante Schleimbeutel wirklich gehörig auf die Nerven mit seiner Art, mir bei jeder sich ergebenden Möglichkeit unter die Nase zu reiben, wer von uns beiden hier das Sagen hatte! Endlich senkte sich die Hand, und ich zog die Sehne meines Bogens bis weit hinter mein Ohr, um zu zielen. Das nächste, was ich spürte, war ein mörderischer Schlag in den Rücken. Sofort verließ mich jegliches Gefühl in meinen Beinen, und ich kippte zur Seite. Ich ließ meinen Bogen fallen, und mein Pfeil verschwand wirkungslos in den Baumkronen. Es dauerte ein wenig, bis ich wirklich realisierte, was gerade geschehen war. Hinter mir hörte ich einen entsetzten Schrei, und als ich fassungslos an mir herunterblickte, sah ich die Spitze eines Pfeiles, der genau mein Rückgrat durchschlagen hatte und nun auf Höhe meines Bauchnabes aus mir herausragte. Mit der Erkenntnis kam der Schmerz. Zuerst war es nur ein leichtes Brennen, das sich jedoch rasch und unbarmherzig zu einem scharfen und gnadenlosen Stechen entwickelte. Ich glaube, ich schrie gequält auf und versuchte, mich nicht zu bewegen, um den Schmerz nicht noch zu steigern. Über meine Beine hatte ich keine Gewalt mehr. Die anderen beiden kamen auf mich zugerannt. Der Junge aus meinem Jahrgang war vollkommen aufgelöst; er rief immer weider "Nein! Oh, nein!!" und schlug sich die Hände abwechselnd vor die Augen und vor den Mund. Der Sohn des Leiters stand nur da und starrte mit offenem Mund auf mich, der ich dort lag und mich vor Schmerz krümmte. Der andere Schüler verfiel in ein hysterisches Weinen und sackte auf den Boden. Nach ein paar Sekunden schien unser Lehrmeister zu erwachen. "Sei ruhig!", herrschte er den Jungen an, doch dieser schien nicht mehr bei Sinnen zu sein und weinte wie ein kleines Kind. "Halt endlich deine Klappe, du unfähiger Wurm!! Du bist doch selbst Schuld daran, Missgeburt!!" Eine laute Ohrfeige schallte durch den Wald, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Der Schüler war still und starrte apathisch in die Luft ein paar Zentimeter über meinem Kopf. Tränen rannen seine Wangen hinab. Währenddessen umrundete unser Lehrmeister mich einmal und betrachtete mich nachdenklich. Niemals werde ich den Blick vergessen, mit dem er mich bedachte - kalt, berechnend. Es war der Blick eines Raubtieres. “Tyah, Tyah… Du bereitest mir nichts als Probleme”, murmelte er leise, mehr zu sich selbst als zu mir. Dann schien er seinen Entschluss gefasst zu haben. Energisch trat er ein paar Schritte zurück, hob seinen eigenen Bogen mit einem Pfeil an der Sehne und legte damit auf mich an. “Nein! Warum tust du das?”, schrie ich ihn gequält an. Aber eigentlich wusste ich genau, was die Beweggründe für seine Tat waren. Er konnte nicht zulassen, dass die Wahrheit als Licht geriet - denn er war es gewesen, der dem schüchternen Jungen das Schießen beigebracht hatte und außerdem war es auch kein Geheimnis, dass seine Sticheleien der Grund für dessen Nervosität waren. Wollte er also seinen guten Ruf wahren und sein Gesicht nicht verlieren, musste er die Beweise des Versagens seines Schülers beseitigen. “Es ist besser so, glaube mir. An dieser Wunde würdest du sowieso verrecken”, log er mich kaltblütig an. Ich wusste genau, würde er mich zurück nach Reilimee bringen, hätte ich eine mehr als realistische Chance gehabt, zu überleben. Aber sein Ruf war ihm wichtiger. “Es war ein Unfall”, schärfte er dem anderen Jungen gerade mit drohendem Ton ein, der immer noch bewegungslos dasaß und ein Loch in die Luft starrte. “Er wollte einen Alleingang hinlegen und lief weit voraus, doch plötzlich brach der Boden unter ihm weg und er fiel in eine Erdspalte. Wir konnten nichts mehr tun. Hast du das verstanden?” Diese Geschichte war absolut lachhaft - wer hätte schon einmal von einem Elfen gehört, der starb weil er nicht aufpasste, wo er hintrat? Dennoch - ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können - nickte der Elf aus meinem Jahrgang einmal kurz mit immer noch absolut emotionslosem Gesicht. Ich wusste, damit hatte er meinen Tod besiegelt. Hilflos schloss ich die Augen. Ich hörte das leise Knarzen der Bogensehne, als dieser arrogante Mistkerl auf mich zielte. Plötzlich wurde alles um mich herum für einen Moment lang ganz klar. Ich konnte alle Geräusche des Waldes erkennen und voneinander unterscheiden, hörte die verschiedenen Vogelsorten heraus. Ich roch sogar die Wildblumen, die in geringer Entfernung wachsen mussten, und spürte den zarten Luftzug einer Biene, die hoch über meinem Kopf vorüber flog. Bilder aus meinem kurzen und relativ ereignislosen Leben flammten für den Bruchteil von Sekunden auf, und ich konnte jedes einzelne bis in die kleinsten Details erkennen. Die zu den Bildern passenden Gefühle, Gerüche und Geräusche fehlten ebenso wenig, und mich überkam eine tiefe und selbstverständliche Ruhe. Das alles hatte nicht länger als eine einzige Sekunde gedauert, dann war es auch schon wieder vorüber. Ich vernahm das unverwechselbare, unheilverkündende Sirren eines fliegenden Pfeils. Das Geschoss durchschlug meine Brust vollständig, da es aus sehr kurzer Entfernung abgeschossen worden war. Es fühlte sich an, als ob mich ein flammendes Messer durchdrungen hätte, und noch bevor ich einen Laut von mir geben konnte, legte sich eine gnädige Ohnmacht über mich. Doch ich starb nicht. Ich erinnere mich an nicht viel, was in den folgenden Stunden geschah. Als ich meine Augen wieder aufschlug, lag ich noch immer auf dem Waldboden; um mich herum hatte sich ein kleiner See aus Blut gebildet. Die beiden anderen Elfen waren fort… mein Lehrmeister musste mich wohl für tot gehalten haben. Welche Ironie! War es nicht Respekt vor dem Leben gewesen, das sie versuchten, mich als allererstes zu lehren? Und nun ließen sie mich hier allein zurück - blutend, leidend… sterbend. Doch ich wollte nicht sterben. So sammelte ich meinen gesamten Mut zusammen und packte mit beiden Händen den Pfeil, der mich in den Rücken getroffen hatte. Unter großer Anstrengung schaffte ich es, beide Enden, die noch immer aus mir herausragten, abzubrechen. Meine Schreie müssen über große Entfernungen hinweg hörbar gewesen sein. Dann versuchte ich, mich an einem neben mir hängenden Ast hochzuziehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Der Pfeil hatte die Verbindung zu meinem Gehirn zertrennt, als er mein Rückenmark durchschlug. Mein Atem ging immer schwerer, obwohl der Pfeil des ach so meisterlichen Meisterschützen nicht nur mein Herz, sondern auch meine Lunge verfehlt hatte. Betrachtete man die Tatsache, dass ich ein glatt durchgeschossenes Loch im Oberkörper hatte, war es erstaunlich, dass ich überhaupt noch in der Lage war, zu atmen. Ich weigerte mich, aufzugeben, aber das letzte bisschen Kraft verließ meinen geschundenen Körper und ich fiel wieder auf die Erde zurück. Ich fing an, die Sekunden zu zählen. Minuten zogen sich hin wie Stunden, und Stunden waren zäh wie Tage. Die Zeit verging langsam, aber sie verging; und ich fiel in einen halb wachen, halb ohnmächtigen Dämmerzustand. Wie lange genau ich dort lag, weiß ich nicht mehr und um ganz ehrlich zu sein bin ich darüber auch verdammt froh. Jedenfalls war ich immer mal wieder vollständig wach, und trotz der grauenhaften Schmerzen widerstand ich der Versuchung, mir mit Hilfe meines Jagddolches ein schnelleres Ende zu bereiten. Ich war eben dickköpfig - keine meiner besonders guten Eigenschaften, aber ich empfinde es noch immer als die absolut richtige Entscheidung. Es ging ganz klar auf ein Ende zu. Nach vielen Stunden, die sich wie eine ganze Lebzeit anfühlten, war ich fast nur noch weggetreten und verblutete langsam aus meinen kleinen Wunden. Doch dann kam er. Schon seine Stimme beruhigte mein viel zu schnell schlagendes Herz. Ich besaß noch die Kraft, um die Augen zu öffnen, und erkannte das wunderschöne Gesicht einer schmalen Gestalt, die neben mir kniete. “Nicht mehr lange, kleiner Elf”, sprach er mit seiner melodischen Stimme. Er schenkte mir ein warmes, freundliches Lächeln. Ich spürte, wie ich hochgehoben wurde. Er trug mich so sanft und schnell durch den Wald, dass ich das Gefühl hatte, wie ein Vogel zu fliegen. Das wunderbare Gefühl war viel zu schnell wieder vorbei, oder vielleicht bin ich auch zwischendurch wieder eingeschlafen - jedenfalls kam es mir wie ein sehr kurzer Zeitraum vor, als die Gestalt mich wieder auf dem Boden ablegte. Der Geruch nach Wildblumen hatte sich intensiviert, und als ich das weiche Gras unter mir spürte, wusste ich auch, weshalb: Er hatte mich zu einer großen, vollständig mit roten Blumen bewachsenen Waldlichtung gebracht. Die Sonne, die mir sanft ins Gesicht schien, schenkte mir Wärme und ich fand die Kraft, etwas zu sagen. “Wer bist du?”, flüsterte ich mit heiserer Kehle. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass seine Augen eine sehr ungewöhnliche Farbe hatten… sie schimmerten in einem dunklen, intensiven Rotton. Er lächelte mich erneut an. Ich wusste das Lächeln jedoch nicht zu deuten. Es wirkte beruhigend, aber auch ein wenig traurig. “Mein Name ist Danèl.“ Er tat irgendetwas außerhalb meines Gesichtsfeldes, dann berührte etwas Warmes meinen Bauch und meine Brust. Sofort verringerte sich der pochende Schmerz und es blieb nur ein leichtes, unangenehmes Druckgefühl zurück. Ich staunte. „Wie hast du das gemacht?“, wisperte ich. Das Sprechen fiel nun schon deutlich leichter. Im nächsten Moment hielt ich den Atem an, als er seine Hand, die auf meinem Oberkörper gelegen hatte, so hob, dass ich sie sehen konnte. Was ich daran zunächst für mein Blut gehalten hatte, war in Wirklichkeit sein Eigenes, das aus einem feinen Schnitt quer über alle vier Fingerkuppen quoll. Noch während ich seine Finger betrachtete und es zu verstehen versuchte, wuchs der lange Kratzer in Sekundenschnelle und vor meinen Augen wieder zusammen. Meine Eltern hatten mir als Kind nicht besonders viele Geschichten erzählt, aber die ein oder andere Sage und Legende war mir natürlich, wie jedem anderen Elfen auch, bekannt. Auch die Geschichten über die mystischen Lebewesen der Nacht, die sich angeblich vom Blut Unschuldiger ernährten und diese deswegen entführten und töteten, war mir geläufig. Eine der Eigenschaften dieser Monstren sollte angeblich die Fähigkeit sein, sich selbst ohne großen Aufwand oder den Einsatz von Magie heilen zu können. Außerdem seine ihre Augen so rot wie das Blut ihrer Opfer… Kniete vor mir also tatsächlich ein solches Monster? Nun, diese Theorie hatte durchaus ein paar Schönheitsfehler: Zum Einen war es helllichter Tag, und die Sonne schien fröhlich auf den Rücken meines Retters hinab ohne dass dieser sich im Geringsten daran zu stören schien. Des Weiteren war dieser bis jetzt äußerst nett zu mir gewesen, was man von einem Wesen, das Mordgedanken hegte, nicht unbedingt erwarten sollte. Und außerdem lächelte Danèl mich noch immer an. Er schien genau zu wissen, woran ich gerade dachte - das konnte ich deutlich in seinem Gesicht lesen. Doch was mich wirklich erschreckte war das, was er zu mir sagte. „Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Du wirst an deinen Verletzungen sterben… schon bald.“ Seine ruhige Stimme war voller Bedauern. „Doch vorher, sag mir noch: Weshalb hast du deinem Leiden kein Ende gesetzt? Du hattest die Möglichkeit dazu.“ Er hatte von einem Moment auf den Anderen meinen Jagddolch in der Hand und stieß ihn mit der Klinge ins Erdreich. Ich schloss die Augen. Das war eigentlich eine ziemlich gute Frage. Weshalb genau hatte ich eigentlich die Schmerzen dem Tod vorgezogen? Lag es tatsächlich nur an meinem Dickkopf, nur an meinem elenden Stolz, der sich nicht gebrochen sehen wollte? „Ich hatte noch Hoffnung“, erwiderte ich schließlich leise. „Ich konnte mein Leben einfach noch nicht aufgeben.“ Zu meiner Überraschung antwortete der Vampir - ich war mir mittlerweile sicher, dass er einer war - mit einem kurzen, ehrlichen Lachen. „Es ist immer gut, die Hoffnung nicht aufzugeben, kleiner Elf. Du bist tatsächlich ein ganz erstaunliches Wesen.“ Er strich mir, beinahe schon liebevoll, eine Strähne meines schwarzen Haares aus dem Gesicht. Dann sprach er mit nachdenklichem Gesichtsausdruck die Worte, deren Klang ich niemals in meinem ganzen Dasein vergessen habe. „Weißt du, ich kann dein Leben nicht retten. Dafür sind deine Verletzungen zu groß. Aber was ich tun kann, ist, dir ein neues Leben zu schenken.“ Seine roten Augen blickten ernst auf mich herab, während er mir in einer feierlichen Geste die Hand hinhielt. „Komm mit mir, mein kleiner Elf.“ Ich zögerte nur kurz, dann ergriff ich mit Mühe seine Hand. Er zog mich in einer fließenden Bewegung nach oben, und da ich noch immer keinerlei Gefühl in meinen Beinen hatte und er mich sicher festhielt fühlte es sich an, als sei ich plötzlich schwerelos geworden. Danèl umarmte mich. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und doch konnte ich mir dank der zahlreichen Legenden, die sich um diese Kreaturen rankten, durchaus vorstellen, was nun geschehen würde. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund vertraute ich dem fremden Wesen, das mir mit so viel Freundlichkeit und Respekt begegnet war, wie das selten jemand in meinem Leben getan hatte. Zunächst strich nur sein warmer Atem über die Haut an meinem Hals, dann spürte ich kurz etwas Hartes und Scharfes. Es tat entgegen meiner Befürchtungen überhaupt nicht weh, ganz im Gegenteil überkam mich vollkommen unerwartet ein erhebendes, wohltuendes Gefühl. Kurz darauf konnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören, und sogar mehr als das… wir schienen plötzlich geistig miteinander verbunden zu sein, dachten und fühlten auf der selben Ebene. Später sollte mir auch klar werden, dass das ekstatische Gefühl, das ich verspürte, in Wahrheit die Empfindung Danèls war als er mein Blut schmeckte, die dann auf mich überging. “Pass auf, mein kleiner Elf”, sagten seine Gedanken, “ich zeige dir etwas.” Und plötzlich sah ich vor mir eine gewaltige Landschaft aus riesenhaften Bäumen, die vor mir in den Himmel ragten und die Wolken zu durchbrechen schienen. Die Kronen der Bäume trugen Blätter in allen erdenklichen Farben, und ich konnte jedes einzelne von ihnen vom Boden aus erkennen, sogar die feinen Adern darin. Im nächsten Moment erbebte der Boden unter meinen Füßen unter dem tosenden Geräusch eines mächtigen Wasserfalls, neben dem ich stand. Weit unter mir befand sich ein kreisrunder, kristallklarer See, in dem sich das Wasser der Naturgewalt sammelte. Noch im selben Augenblick sprang ich ab und flog dem See entgegen, dabei immer noch mit dem Gefühl absoluter Schwerelosigkeit. Ich konnte den einzelnen Tropfen dabei zusehen, wie sie neben meinem Kopf herab fielen. Dann wechselte die Szenerie wieder und ich befand mich in einer imposanten, von jeglicher Zivilisation unberührten Felslandschaft. Danèl zeigte mir in diesem einen Augenblick sehr viele, allesamt wunderschöne Szenen seines Lebens, die mich davon ablenkten, dass ich gerade in seine Armen starb. Ich bin ihm noch bis heute sehr dankbar dafür. Nach ein paar Momenten löste er seine Umarmung und legte mich sehr sanft wieder in der weichen Blumenwiese ab. Die Farben des Himmels verschwammen vor meinen geöffneten Augen, und der Wald schien sich um uns zu drehen. “Der Wald tanzt…”, hörte ich mich selbst sagen, ohne Kontrolle über die Worte zu haben. “Dann schließt du am besten die Augen”, erwiderte Danèl fürsorglich und legte mir sogleich eine Hand auf die schweren Augenlider. Er hatte mir alles, was nun kommen würde, während unserer geistigen Verbindung geduldig erklärt, und so war ich nicht überrascht, etwas Warmes und Feuchtes auf meinen Lippen zu spüren. Wie selbstverständlich leckte ich meine Lippen ab, und Danèl nutzte das, um noch mehr von seinem Blut in meinen Mund rinnen zu lassen. Sobald der erste Tropfen seines Lebenssaftes meine Kehle hinabgeronnen war, fing mein Herz an, wild und heftig zu klopfen. Ein Schwindelgefühl breitete sich rasant in mir aus, und meine Muskeln begannen, sich zu verkrampfen. Er hielt mich am Boden fest, damit ich mir nicht selbst wehtat, und flüsterte mir beruhigende Worte zu, während mein Herz immer schneller und schneller raste. Es dauerte ein paar Minuten, dann hörte es ganz plötzlich auf zu schlagen. In diesem Moment bin ich gestorben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)