Was würdest du tun... von JuliObscure (...wenn du morgen sterben würdest?) ================================================================================ Kapitel 3: Plastikstiefmütterchen --------------------------------- Mike blieb noch über drei Wochen im Krankenhaus, doch seine Freunde schafften es immer irgendwie, dass er mit Gesellschaft aufwachte und mit Gesellschaft einschlief. Das war in der ganzen Zeit eigentlich auch seine Hauptbeschäftigung – schlafen, reden, essen und wieder schlafen. Mehr konnte er auch nicht wirklich machen, er fühlte sich total fertig wenn er nur aufstand um auf die Toilette zu gehen oder damit ihm nicht alles einschlief. Trotzdem redete er eigentlich nicht viel. Seit dem Unfall dachte er sehr viel nach über Dinge, die ihm sonst nie wirklich eingefallen wären. Er war ja schließlich eine ganze Zeit in einer Art Koma gewesen. Sollte man so etwas vielleicht eine Nahtoderfahrung nennen? Doch Woche für Woche ging es ihm besser. Er konnte wieder herumhumpeln, mit seinen Freunden Karten spielen und war nicht die ganze Zeit ans Bett gefesselt. Gott sei dank hatte er das Zimmer für sich gehabt. Trotzdem war er schon nach zwei Tagen die hässlichen Plastikstiefmütterchen überdrüssig und konnte sein komplettes Zimmer nicht mehr leiden. Und das die Fenster abgeschlossen waren machte ihn ziemlich wütend. Er war ja nicht irgendwie gestört und würde aus dem Fenster springen wollen. Heute brach sein letzter Tag mit den Plastikstiefmütterchen, gelben Tischdeckchen und quietschenden Schwesternschuhen an – und er würde sie so etwas von gar nicht vermissen. Besonders die Schwestern nicht. Manchmal fragte er sich wirklich wie man solche Frauen in so einen Beruf schicken konnte. Es gab zwei Sorten: Die „Dauergrinser“ und die „Lehrer“. Die „Dauergrinserinnen“ weckten ihn morgens um halb sechs mit einem Lächeln, dass wirkte als wäre es in ihrem Gesicht festgetackert worden. Sie sprachen sogar mit diesem Grinsen, was ihm ziemliche Angst einjagte. Sie waren noch schlimmer als die Lehrer, die mit ihren strengen Argusaugen jeden Schritt ihrer Kinderchen verfolgten, die Mundwinkel in einem 90° Winkel zum Boden, auf der Stirn bildeten sich bei dem kleinsten Widerspruchswort tiefe, harte Falten, die den meisten Patienten gehörige Angst einjagten. Doch eigentlich hatten sie wenigstens ein gutes Herz. Unter der Schale wollten sie doch nur, dass es ihren Kinderchen gut ging und sie sobald es ging wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Dafür missachteten sie manchmal auch eine wirsche Anweisung des Arztes. Im Gegensatz zu den „Dauergrinsern“ waren sie nämlich mit gesunder und grundsätzlichen Skepsis gegenüber allem gesegnet. Die Grinserinnen waren eher kleine lächelnde, blonde Wesen, die ihren Ärzten zu Füßen lagen, den neusten Klatsch und Tratsch verbreiteten und in der Mittagspause laute Lästereien über Kolleginnen verlauten ließen. Ihnen begegnete man am Besten mit einem genauso debilen Grinsen und einem unterwürfigen Kopfnicken, dann war die Sache gegessen. Diesmal war Emma bei ihm. Ihr Aussehen hatte sich wieder normalisiert, sie war wie immer gut angezogen, gepflegt und hatte gute Laune. Es hatte ihn wirklich geschockt wie mitgenommen alle ausgesehen hatten. Aber nachdem sie sich vergewissert hatten, dass es ihm gut ging und sie so oft wie möglich kommen konnten wurden sie wieder so, wie er sie kannte. Er rechnete ihnen es wirklich hoch an, dass sie immer für ihn da gewesen waren und schuldete jetzt definitiv jedem von ihnen etwas. „Und, bereit für die große Reise?“, fragte Emma ihn, die seinen Koffer gepackt hatte, während er mit seiner Hose kämpfe. Das Anziehen mit einem Gipsbein, einem geschienten Ellebogen und einem kaputten Brustbein musste er definitiv noch einmal üben. „Uhh...ja. Du weißt gar nicht wie ich mich freue hier endlich raus zu sein. Die gute Frau hatte ja eigentlich gesagt ‚ein paar Tage’, jetzt war ich drei verdammte Wochen hier. Ich frag mich ob meine Eltern zu Hause sind, wenn ich ankomme.“ „Achso, das soll ich dir noch sagen, deine Mutter ist gestern Abend dringend von ihrem Verlag nach Hamburg beordert worden und dein Vater ist auf Geschäftsreise. Sie grüßen dich aber ganz lieb und hoffen das es dir gut geht. Elena will sobald es geht wieder zu Haus sein, also vielleicht auch schon heute abend, aber sie weiß es nicht. Und es tut ihr schrecklich leid, dass sie nicht da sein kann.“ „Also alles wie immer eigentlich“, meinte er und schüttelte leicht den Kopf. Sein Grinsen war verflogen. Natürlich er wusste, dass seine Eltern viel unterwegs waren und sie sehr viel Arbeiten mussten, um sich so einen annehmlichen Lebensstandart leisten zu können, aber irgendwie enttäuschte es ihn trotzdem, dass sie noch nicht einmal da waren, wenn ihr Sohn nach dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam. Sie hatten auch nur dreimal Zeit gehabt ihn hier zu besuchen. Meistens herrschte eher angespannte Stille, die nach und nach mit dem aufregten Geplapper seiner Mutter gefüllt wurde, wobei sein Vater öfters einfach nur nickend daneben saß. Zweimal war er auch nach fünf Minuten herausgerannt weil er ein unglaublich wichtiges Gespräch führen musste. Was dann auch meistens das Ende des Besuchs war, da er sofort von einer Krankenschwester angeraunt oder lächelnd daraufhingewiesen wurde, dass man im Krankenhaus keine Handys benutzen durfte. Elena, seine Mutter war eine gutverdienende Autorin, die darauf gedrillt war einen Bestseller nach dem anderen zu produzieren. Mit ihr kam er eigentlich sehr gut klar, sie war unglaublich unorganisiert und liebenswürdig. Manchmal stand sie morgens um fünf in der Küche und meinte ein Pralinenrezept ausprobieren zu müssen, dass sie von einem französischen Koch bekommen hatte. Bei solchen Aktionen saute sie die komplette Küche ein, dafür waren ihre Kreationen meistens aber auch alles andere als ungenießbar. Man merke wirklich, dass sie noch ein Altzeithippie war, auch wenn man es ihr nicht wirklich ansah. Nur die wallende silberblonde Haarmähne verriet dies, wenn sie sich in ihre alten Blaumänner schmiss und ihren Garten verunstaltete. An diesen Tagen sah man sie nie ohne Erde im Gesicht und an den Händen und mit einem großen Lächeln im Gesicht. Doch trotzdem empfand sie die Gartenarbeit als durchaus ermüdend, weshalb sie es auch ganz schnell wieder Magdalena, der guten Seele ihres Hauses überließ. Ja, sie hatten wirklich viele Annehmlichkeiten, die man sich genehmigen konnte, wenn man ein großes Jahreseinkommen hatte. Sein Vater war Banker. Das sagte vermutlich schon alles. Er war nie da und wenn traf man ihnen morgens und halb sechs mit einem Handtuch um die Hüften und dem Blackberry in der Hand einen schwarzen Kaffee schlürfen. Da konnte man sich sicher sein, dass in der Nacht zuvor einen romantischen „Willkommen zurück“ - Abend gegeben hatte. Trotzdem kam er mit seinem Vater nicht wirklich klar, vielleicht war er ihm zu unähnlich. Stets aufgeräumt, rasiert und mit Krawatte rannte er hektisch in sein Handy brüllend durchs Haus und verschwand meistens Minuten später durch die Tür, um erst am nächsten Morgen vollkommen überarbeitend und müde nach Hause zu kommen. Er war der komplette Gegensatz zu seiner Frau, die manchmal wartend in der Küche saß, nur im dann schreiend durchs Haus zu rennen, da sie eine Idee bekommen hatte, die ihr auf keinen Fall verloren gehen durfte. Er saß, wenn er nicht an der Arbeit war an seinem Schreibtisch, und bereitete sich auf den nächsten Tag für, ordnete Akten oder schrieb irgendetwas auf. Er lebte praktisch auf seinem Schreibtisch unter dem sich ein Minikühlschrank befand, damit er ungestört an seinen Sachen arbeiten konnte. Trotzdem waren er und seine Frau unglaublich glücklich, was vielleicht auch daran liegen konnte, dass seine Mutter erstens 5 Jahre älter als sein Vater war und ihn immer wieder zu Vernunft rufen konnte oder zweitens sie noch sehr verliebt und sexuell aktiv waren. Mike war es schon ein bisschen peinlich, wenn seine Mutter ihrem Mann um dem Hals fiel als würden sie sich bald nie wieder sehen, wenn er auf Geschäftsreise ging und sie aufgrund dessen meistens noch mal im Schlafzimmer verschwanden. Da war er wirklich froh eine kleine eigene Wohnung in ihrem Haus zu haben. Er hatte aber nie viel mit seinem Vater zu reden, wenn sie zusammen in einem Raum waren blieb es meistens still, da sein Vater meistens beschäftigt war oder nicht wusste wie er mit seinem Sohn umgehen sollte. Mike seufzte. „Na ja, da kann man wohl nichts machen. Und ich hab ja auch noch euch.“, fügte er mit einem Lächeln hinzu. Gleich danach bereute er es schon wieder, da er, die jetzt glücklich quietschende, Emma an seiner Brust hängen hatte. „Emiii, die Ärztin hat dir doch gesagt keine spontanen „Ich hab dich so gern, dass ich dich gleich erdrücke“ – Anfälle bei dem armen kleinen Mike. Und was soll ich denn jetzt denken? Hast du ihn etwas mehr lieb, als deinen Freund?“, rief es von der Tür her. Ein breitgrinsender Nick kam durch die Tür, woraufhin er Emma gleich in seinem Arm hatte. „Na bitte, es geht doch.“ Er strich seiner Freundin, die gefühlten fünf Köpfe kleiner war als er über den Kopf, zog sie dann zu sich hoch um ihr einen leidenschaftlichen Kuss zu geben. Mike wand sich ab. Er fühlte sich immer noch wie ein Spanner, wenn er den beiden zusah. Oder als würde er sie irgendwie in ihrer trauten Zweisamkeit stören. „So Kleiner, fertig zum Abmarsch?“, fragte Nick der sich von seiner selig lächelnden Freundin löste und seinen Koffer nahm. „Jaah. Eigentlich wollte die gute Frau noch mal vorbeikommen – ah wenn man vom Teufel spricht.“ Die blonde Ärztin kam lächelnd herein. „Ah wie ich sehe sind Sie fertig. Na das freut mich doch. In drei Wochen kommen sie noch mal her, da machen wir den Gips ab. Ich gebe Ihnen auch noch mal Hansaplast für die Schiene mit, das können sie ruhig auswechseln. Wenn es sonst keine weiteren Fragen gibt – einen schönen Tag noch!“, sprachs und verschwand. „Wohl eine vielbeschäftigte Frau, hm?“, meinte Nick. „Jap“, antwortete Mike. Er sah sich noch einmal um ob er alles hatte, verabschiedete sich von den hässlichen Plastikstiefmütterchen und humpelte los. „Auf in die Freiheit.“ Sie lachten. Es war ein anstrengender Weg bis zu Nicks Auto. Sein alter VW Golf unterschied sich eindeutig von den großen Familienkarren oder silbernen BMWs um ihn rum. Nachdem sie den Koffer und Mike erfolgreich verfrachtet hatten stiegen auch Emma und Nick ein. Er stellte das Radio an und startete danach den röhrenden Motor. Mike sah noch einmal zum Krankenhaus hoch. Nein, er würde den großen grauen Zementblock definitiv nicht vermissen, weder ihn noch die Menschen darin. „So Kleiner, auf geht’s“, lachte Nick. Er war gut gelaunt und drehte das Radio lauter. Emma sang mit, irgendwann fielen auch Nick und er selbst ein. Sie sagen alle drei wirklich gern, hatten mal versucht zusammen eine kleine Band auf die Beine zu stellen, was sie aber nach ein paar Proben tunlichst gelassen hatten. Emma war inzwischen Sängerin einer lokal bekannten Band und Nick verdiente sich Geld dazu, indem er in einem Restaurant Klavier spielte. Gerade als sie in Mikes Straße einbogen klingelte Emmas Handy. Beinahe hätten sie es überhört. „Nick, stell mal das Radio leiser, ich muss ans Handy, Jo ist dran.“ Er nickte und stellte das Radio kurzerhand aus während sie ans Handy ging. „Ja Emma hier. Hi Jo...Was?!?...Wir kommen sofort!“, mit einem Mal ihre Fröhlichkeit weggeblasen, in ihren Augen spiegelte sich entsetzen. Nick, der mittlerweile bei Mike in der Auffahrt stand sah sie fragend an. „Was ist denn los? Du bist ganz blass“ „Helen....Sie hat versucht sich umzubringen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)