Verismus von SchoKoMuff (Von hungrigen Herzen und Schlittenfahrten ohne Schnee) ================================================================================ Kapitel 4: Jonas - Von verregneten Westernszenen ------------------------------------------------ IV. Jonas – Von verregneten Westernszenen Einen Augenblick nur stutze Jonas. Die großen hellbraunen Augen des Jungen vor ihm erinnerten ihn auf schmerzhafte Weise an ein verschrecktes Reh. Geblendet von den heranrasenden Scheinwerfern… Dann war der Moment vorbei, sein Mitschüler riss sich los und ein indifferenter Gesichtsausdruck trat auf sein Gesicht. Jonas erkannte ihn als jenen, den Mio, wenn er denn so hieß, für gewöhnlich immer zur Schau trug. Ob er wohl auch außerhalb der Schule so griesgrämig war? Wobei ‚griesgrämig’ es nicht einmal traf. Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers hatte etwas Unbeteiligtes, vielleicht Kaltes, aber so oder so einfach Undefinierbares. Eigentlich hätte er eine Reaktion auf seine Frage erwartet, doch Mio schien definitiv nicht gewillt, sich zu ein paar Worten herabzulassen. Ein paar Sekunden lang starrten sie sich an und fast rechnete Jonas mit einem Steppenläufer [1], der sich ganz westernlike seinen Weg durch die noch leere Pausenhalle fegte. Dann brach der Blickkontakt, Mio griff nach seinem Rucksack und strebte die Treppen an. Was war das denn jetzt gewesen? Sich verwirrt am Kopf kratzend, sah Jonas dem anderen nach. Wie eigenartig. Ob er etwas Falsches gesagt hatte? Und sein Matheheft hatte er auch liegen gelassen. Jonas beugte sich über den Tisch und versuchte sich am Entziffern. Der Knirps hatte die reinste Sauklaue – dass ein Lehrer dergleichen überhaupt lesen konnte, grenzte an Dechiffrieren. Ein amüsiertes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Heft einsteckte. Damit würde er sich in der Mittagspause beschäftigen – ja, man könnte sagen, sein Interesse sei geweckt worden. Es mochte ja nicht seiner Art entsprechen, sich großartig für seine Mitmenschen zu interessieren, aber die Dekodierung eines fremden Matheheftes übte einen gewissen Reiz auf ihn aus. Zumindest war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Gekrakel um Zahlen handelte. „Und denken Sie an die Lektüre!“ Sein Deutschlehrer lehnte sich im Stuhl zurück. „Falls einer von Ihnen Montag noch einmal die 8€ für den Theaterbesuch vergisst, kann er sich das Stück aus dem Orchestergraben ansehen. Wir sehen uns Montag.“ Damit war der Unterricht beendet. 8€ Theatergeld, zehn für die Deutschlektüre, noch mal acht für die in Englisch - eigentlich hatte Jonas heute Lebensmittel einkaufen gehen wollen. Seufzend packte er seine Sachen zusammen und verließ mit einem Gruß an seinen Lehrer den Raum. Im Flur schlug ihm kalte, muffige Luft entgegen. Er würde wohl oder übel seinen Chef um eine Zusatzschicht im Lager bitten müssen, obwohl er sich ernsthaft fragte, wo er die noch unterbringen sollte. Nun ja, erstmal war es jetzt Zeit für ein verfrühtes Abendbrot, der Nachmittagsunterricht machte ihn immer so verflucht hungrig! Und abgesehen davon, brannte ihm ein gewisses Heft mittlerweile Löcher in die Tasche. Er war während der Mittagspause natürlich nicht dazu gekommen, sich Mios Notizen einmal genauer anzusehen. Nein, er hatte die kostbaren Freiminuten damit verbracht, einem geringfügig schwerfälligen Kurskameraden etwas so Simples wie das Aufstellen einer Redoxgleichung zu erklären. Der Regen hatte nachgelassen. Alles, was von dem ‚Beinaheorkan’ am Morgen noch übrig war, war ein dunstiger Sprühregen, der sich klebrig auf seine Haut legte. Wenn man das noch Winter nennen konnte, fragte Jonas sich ernsthaft, wie die Menschen hier wohl auf weiße Weihnacht reagieren würden. Vermutlich würden sie Vorratseinkäufe tätigen und sich in ihren Häusern verschanzen. Da lohnte es sich ja nicht einmal, den Mantel anzuziehen – geschweige denn, den Regenschirm aufzuspannen. Gelächter ließ Jonas den Kopf heben. Etwas daran hatte ihn aufhorchen lassen, etwas daran hatte nicht nach harmlosem Lachen unter Freunden geklungen. Suchend ließ er seinen Blick über den halb abgesoffenen Schulhof wandern und tatsächlich, eine Gruppe Schüler vermutlich seines Jahrganges wirkte irgendwie verdächtig. Sie standen in einiger Entfernung und hatten sich größtenteils einander zugewandt. Plötzlich kam Bewegung in die Ansammlung. Als Jonas die Augen zusammenkniff, um durch den diesigen Regenschleier genaueres zu erkennen, machte er eine Gestalt aus, die eindeutig nicht Teil der Gruppe war. Schmal und kleiner als die meisten in seiner Umgebung, stach ein Junge mit wuscheligem braunem Haar aus der Menge hervor. Nicht zuletzt, weil er in diesem Moment zwischen den größeren Gestalten brutal hin und her geschubst wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis… und da war es passiert. Der Junge stolperte und landete auf eine Art in einer der tiefen Pfützen, die ziemlich schmerzhaft aussah. Das war zuviel. „Hey!“ Jonas hatte gar nicht mitbekommen, dass er längst auf halbem Weg zu seinen Mitschülern war. „Habt ihr nichts Besseres zu tun?!“, brüllte er über den Platz. Es war am sichersten, wenn er möglichst viele Menschen in ihrer Umgebung auf das Geschehen aufmerksam machte. Er hatte sie fast erreicht und irgendwie überraschte es ihn nicht, dass er die meisten der Gesichter, die sich jetzt ihm zuwandten, nicht erkannte. Bis auf eines. t.b.c. [1] "Der Steppenläufer (Salsola tragus), auch bekannt als Steppenhexe oder Tumbleweed, ist ein ursprünglich aus Russland stammender(...) Busch." – die Dinger eben, die im typischen Western durch die Gegend kullern. Vorzugsweise an Highnoon, wenn sich zwei möchtegern Revolverhelden auf einer staubigen Straße gegenüber stehen… X3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)