Verismus von SchoKoMuff (Von hungrigen Herzen und Schlittenfahrten ohne Schnee) ================================================================================ Kapitel 3: Mio - Von Polka tanzenden Zahlen ------------------------------------------- III. Mio – Von Polka tanzenden Zahlen Natürlich kam er zu spät. Wie immer, das ließ sich gar nicht vermeiden. Denn erstens verbrachte er den frühen Morgen damit, sich um Mia-Clara zu kümmern und zweitens – nun ja, die Toilettengeschichte. Trotzdem war er hier, auch wie immer. Er sah es als seine Pflicht an, das Einzige, was er tun konnte, um ihnen aus ihrer momentanen Lage herauszuhelfen. Irgendwie. Irgendwann. Er ging zur Schule so oft er konnte und er machte seine Hausaufgaben so gut er eben konnte. Trotzdem hinkte er hinterher, denn wie sollte er zehn verschiedenen, fachspezifischen Themen folgen, wenn er doch nur an drei von fünf Tagen überhaupt anwesend war? Oder auch weniger. „Sie sind zu spät.“ Seine Englischlehrerin klang resigniert. „Ist es zuviel verlangt, zumindest zu den Klausuren pünktlich zu erscheinen?“ Ohoh. Das hatte er vergessen. Richtig, heute war ja Donnerstag. Sie schrieben heute eine der letzten Klausuren, vierstündig. Ein Kichern machte die Runde. Ja, so war es immer. Eigentlich hinterfragte kaum mehr jemand, warum er es nicht schaffte, auch nur ein einziges Mal pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Oder warum er weit mehr fehlte, als er sich leisten konnte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ein Typ wie er – knapp 1,70m, dauerblass und mit ständig mottenzerfressenen Klamotten – das perfekte Mobbingopfer war. Er hatte sich daran gewöhnt. Es scherte ihn einen Dreck, was diese verwöhnten Gören von ihm dachten oder wie sie sich ihm gegenüber verhielten. Jedenfalls war es das, was er vorgab und das funktionierte gar nicht so schlecht. Zumindest bei den meisten. Also beließ er es bei einem unbestimmten „Hm.“ und machte sich auf den Weg zu seinem Platz. Er sah die Gesichter kaum. Sie waren nicht mehr als eine verschwommene Masse, ihre einzelnen Bestandteile genauso wenig von Interesse wie das, was sie sagten oder dachten. Solange er nur durchhielt, konnte er es schaffen. Draußen regnete es immer noch. Hey, war das mal motivierend. Mio hielt einer höflich ausgedrückt erstaunten Lehrerin seinen Aufsatz unter die Nase und machte einen auf lässigen Abgang. Bloß weg. Zwar zu spät zur Stunde erschienen, gab er trotzdem als Erster ab. Und er wusste, dass es keine schlechte Klausur werden würde – Englisch lag ihm. Das war das Praktische an Fremdsprachen in der Oberstufe, man konnte so oft fehlen wie man wollte, man verpasste nichts. Denn zumindest was Vokabular und Grammatik anging, kam nicht viel Neues dazu. Und die Thematik konnte man sich ebenso gut selbst anlesen. Möglich, dass das eine arrogante Sicht der Dinge war, aber hey, besser so als sein Versagen in Mathe. Zahlen lagen ihm nicht. Er fand sie eher abartig. Und wozu brauchte man diese ganze gehobene Rechnerei überhaupt? Die Gänge waren noch leer, er hatte während der dritten Stunde abgegeben. Und er wusste, dass keiner seiner Kursmitstreiter so bald den Klassenraum verlassen würde. Leere Schulen mochten ja auf andere unheimlich wirken – Mio genoss sie. Es war niemand hier, die Pausenhalle war leer. Und so herrlich still. Er liebte die Stille. Trotz allem würde er keine Ruhe finden, nicht hier. Er hasste diesen Ort, er hasste seine Mitschüler und er hasste seine Lehrer. Aber vor allem hasste er wohl diese ganze scheiß Situation, die Tatsache, dass es keinen Ausweg gab – noch nicht. Und genau das war wohl seine einzige Hoffnung, das Noch. Müde ließ er sich an einer der siffigen Tischgruppen nieder und schlug resigniert sein Matheheft auf. Er war letzte Nacht nicht dazu gekommen, seine Hausaufgaben zu machen und er wusste nur allzu gut, dass sein Mathelehrer keine Gelegenheit auslassen würde, ihn vorzuführen. Noch so ein Arschloch, eines mehr. Die Zahlen ergaben keinen Sinn, tanzten Polka in seinem Kopf und hätten genauso gut auf dem Kopf stehen können – er hätte trotzdem nicht begriffen, was sie ihm sagen sollten. Er wusste ganz genau, dass ihr neues Thema in eben jener Nachmittagsstunde erklärt worden war, in der er einmal mehr seine kleine Schwester vom Kindergarten abgeholt hatte, anstatt die Schule mit seiner Anwesenheit zu beehren. Mia-Clara konnte nichts dafür, sie war immerhin erst drei. Wer etwas dafür konnte, war eigentlich mal die Frage, die er sich hätte stellen sollen. Was er nicht tat. Wozu auch, er hatte seinen Sündenbock schon vor langer Zeit gefunden, um genau zu sein, vor eben jenen drei Jahren, die Mia nun schon auf der Welt war. Ihren Vater. Ihr gemeinsamer Vater, der seit dem Tod ihrer Mutter einer Welt hinterher rannte, zu der er nicht mehr gehörte. Einer Welt, in der alles korrekt sein musste, in der Söhne gute Noten mit nach Hause brachten, das Haus tadellos sauber und aufgeräumt war und Kleinkinder zwar zu sehen aber nicht zu hören waren. Und wenn etwas nicht genau so verlief, wie in jener Scheinwelt, war es sicher nicht seine Schuld. Schuld konnte natürlich nur sein missratener Sohn sein, der es nicht einmal schaffte, ordentlich auszusehen… KRACKS. Der Stift in Mios Hand zerbrach und die Miene bröselte auf die immer noch wartenden Hausaufgaben. Verdammt! Wie spät war es? Hastig sah er sich nach der großen Uhr in der Pausenhalle um – die vierte Stunde würde gleich vorbei sein, Schülermassen würden aus den Klassenräumen strömen und der Matheunterricht rückte jede Sekunde näher. Und Zahlen schienen plötzlich nicht nur Polka zu lieben. Okay, ganz ruhig. Was konnte er tun? Fehlen kam nicht infrage, seine Defizite waren sowieso schon verheerend. Wenn er so weitermachte, würde er noch einen Unterkurs kassieren. Einen zuviel, um das Schuljahr zu bestehen. Das konnte doch nicht wahr sein, es musste doch irgendeine Möglichkeit geben! Keine Situation ist völlig aussichtslos, sagte er sich in Gedanken. Denk nach, Mio… „Hey“, eine große Hand senkte sich auf seine Schulter und er fuhr erschrocken auf. „Alles klar bei dir? Mio, richtig?“ Grüne Augen lachten ihn von oben herab an. t.b.c. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)