Living In A Toy Box von cleo-- ================================================================================ Kapitel 3: Jazmin in Wonderland ------------------------------- Die bunten Blätter rieselten wie Konfetti von den alten Bäumen, wurden von der lauwarmen Luft angetrieben und tanzten so durch einen wunderschönen Nachmittag im Klinikpark, bis sie schließlich dem Erdboden entgegen flogen und dort liegen blieben, für immer, bis der Schnee kam und sie in ihren eisigen Sarg hüllte. Jazmin saß zusammen gekauert auf ihrem Bett und beobachtete den Lebenskreislauf der kleinen Birkenblätter. Ihr Beinchen baumelten von dem Krankenbett und ein kleines Püppchen, welches sie in einer Mülltonne fand, lag leblos auf ihrem Schoß. Ein weiterer Tag, der sich dem Ende näherte, ein weiterer, sinnloser Tag. Seit sie hier war, hat die Bedeutung ihres Lebens stetig abgenommen, aber die Psychologen schienen eine Lebensaufgabe darin zu sehen, ein mit Pulsadern aufgeschlitztes Mädchen, welches in einem Hinterhof gefunden wurde, wieder aufzupäppeln. Haben die sich eigentlich schon mal gefragt, ob die Patienten das selbe wollen wie die arbeitsgeilen Ärzte? Die mögen ja meinen, dass diese kleinen Sitzungen in der „Selbstmord- Selbsthilfegruppe“, wie sie gern zweideutig von den Patienten genannt wird, auch nur ein bisschen helfen? Wenn man sich entschlossen hat zum Mittag Spaghetti vom Italiener zu essen wird man wohl kaum kurzfristig zu Mac Donalds fahren. Es war doch mehr nur ein Hinhalten, ein Herauszögern, bis etwas Schlimmes passiert. Die Hälfte der hier Behandelten wird sich sowieso nach ihrem Entlassen die nächstbeste Brücke genauer anschauen und die Wassertemperatur testen. Sie hatte es satt. Ein Jahr saß sie hier nun, es war zwar besser, als irgendwo auf der Parkbank zu schlafen, aber es war doch nicht besser als ihr vorheriges Leben im blechernen Käfig. Sie war doch sowieso nur die „Kranke“. Das „arme, kranke Mädchen“, eine Tüte Mitleid bitte! Jazmin gehört zu den „Hoffnungslosen“. Allein in der Klinik hatte sie 14 Mal versucht sich selbst das Leben zu nehmen. Sie stand unter ständiger Beobachtung, sie durfte weder mit Metallbesteck essen, noch allein auf Toilette gehen, nicht einmal in einem normalen Zimmer durfte sie den Rest ihres Lebens verbringen. Sie fühlte sich wie ein Kleinkind, alles war abgepolstert, spitze, scharfe Hieb- und Stichgegenstände, sei es eine Nagelpfeile oder ein Bleistift, leben wurde ihr hier verwehrt, aber leben wollte sie ja auch nicht. Sie ließ sich von der Bettkante fallen und tappelte zur Tür. Behutsam ergriff sie die mit Schaumgummi abgepolsterte Klinke und zog die Tür vorsichtig auf. Nur ein kleines Stück. Sie steckte ihr Näschen durch den Schlitz und schaute sich suchend um. Keiner Da. Sie öffnete die Tür ganz und schlürfte in Socken hinaus. Eins. Zwei. Drei. Vier! Sie schaffte heute genau vier Schritte allein aus der Tür, bis Susan kam und sie sanft am Arm packte. Ein neuer Rekord. „Kleine Ausreißerin. Du sollst doch Bescheid sagen, wenn du raus gehen möchtest“ Susan ließ sie langsam los und lächelte sie an. „Wo magst du denn hin?“ Jazmin legte den Kopf schief, „Ich weiß nicht“. Ihr war es relativ egal, wo sie hingehen würden, was sie machen würden, doch das „Marshmallow“- Zimmer machte sie nur noch depressiver. „Heute proben sie für die Herbstaufführung. Wollen wir zuschauen?“, fragte Susan in gespielter Euphorie. Jazmin brachte nichts weiter als ein kaum erkennbares Nicken zum Ausdruck. Meinetwegen. Susan führte Jazmin durch den Gang, als wäre sie schwer behindert oder so schwach, als dass sie gleich umfiele. Sowieso behandelten sie alle, als wäre sie noch ein Kind, dabei war sie schon 21! Sie schienen sie aber vielleicht gerade einmal auf sechzehn zu schätzen. Aber woher sollten das die anderen auch wissen. Bei ihrer Ankunft sagte sie, sie könne sich an nichts erinnern, keine Vergangenheit, keine Kindheit, kein Alter, keinen Namen. Jazmin war lediglich die Erfindung der Ärzte, damit sie wenigstens irgendetwas in die Krankenakte schreiben konnten. Es schien zu der Zeit auch niemand vermisst zu werden, der auf die Beschreibung eines kleinen blonden Mädchens passte. Die Polizei war bei der Identifizierung machtlos. Niemand konnte sagen, wer das ungeliebte, verstoßene Püppchen war. Gemeinsam liefen sie zu der kleinen Aula im zweiten Stock. Es war der größte Raum im ganzen Gebäude. Einige Stuhlreihen waren fein geordnet vor einer kleinen Bühne aufgestellt. Das machten immer die Zwangsneurotiker, die Stühle standen alle fein säuberlich geordnet wie auf einem Schachbrett. Wenn sich jemand hinsetzte oder sie verrückte, bekamen die immer einen halben Nervenzusammenbruch. Das war witzig. Klaviermusik und stümperhafter Gesang schallten den beiden entgegen. Jazmin blieb in der geöffneten Flügeltür stehen und schaute den Laien dabei zu, wie sie zwanghaft versuchten, ihre Rollen einzuüben. Die „Alice“ hüpfte dabei vergnügt auf der Bühne herum und rempelte ein paar mal das Klavier an, welches dann unerträgliche Sprünge in der Melodie nahm. Jazmin verzog das Gesicht, es war wahrhaftig eine musikalische Vergewaltigung. Susan schien sie teilweise Belustigung und Entsetzen Jazmins zu bemerken. „Magst du nicht auch mitspielen? Vielleicht ist ja noch eine kleine Rolle für dich frei?“ Und sie hatte sie falsch gedeutet. Lieber würde Jazmin noch 100 Jahre leben, als dass sie an der Vernichtung eines wunderbaren Stückes teilnehmen würde. Lewis Caroll* würde sich im Grab umdrehen. „Nein, ich bin kein musikalisches Talent“, war wohl das einzige was Susan abwimmeln würde. Sie lehnte ihren Kopf an den Türrahmen und versuchte ein wenig zu lächeln. Aber nur ein wenig. Ihr Blick wurde wieder auf die Selbstmord gefährdete Alice gelenkt. Doch weniger wegen ihrer zweifelhaften Vorstellung, das Kostüm, das sie trug, weckte Jazmins Neugier. Alice hatte zwei übermäßig große rote Schleifen im Haar, außerdem hatte sei ein süßes rosa Röckchen an, welches den Übergang zu einem Korsett andeutete. Die Musik verstummte in Jazmins Ohren und sie sah nur noch Alice. Sie stellte sie sich in ihrem Wunderland vor, wie sie mit dem Hasen, der keine Zeit hatte und der Grinse Katze an einem Tisch in einem wunderschönen Wald saß und an der „Trink mich“- Flache nippte und von dem „Iss mich“- Kuchen aß. Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Susan sie aufforderte sich doch in die Aula zum zuschauen zu setzen. Jazmin winkte ab und drehte sich von der Tür weg. „Ich bin müde. Ich will wieder zurück.“ Nachdem Susan sie zu Bett gebracht hatte, das Licht aus und die Kameras angeschaltet hatte und die Tür endlich geschlossen wurde, klopfte sich Jazmin gedanklich auf die Schulter und gratulierte sich zu einem weiteren überlebten Tag, rein ironisch versteht sich. Sie zog die Decke bis an ihr Kinn und legte die Arme auf das Laken. Ihre Puppe lag seelenruhig auf ihrem Bauch und schaute aus ihren Glasaugen auf Jazmin hinab. Alice ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie musste an sie denken, an das Wunderland, da, wo alles auf so paradoxe, wunderliche Art vorzufinden war. Alles surreal, alles verrück, wie in ihrem Kopf. Es wäre der einzige Ort, an dem sie sich wohl fühlen würde. Sie seufze kurz und plötzlich fiel ihr etwas ein, an was sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte. Sie setzte sich auf und lehnte sich rüber zu ihrem kleinen Nachttisch. Mit ihren langen Puppenfingern öffnete sie die Holzschublade, räumte einige Bücher hinaus und tastete den Boden nach einem kleinen, flachen Gegenstand ab. Als ihre kühlen Fingerspitzen eine kleine Erhebung spürten, hob sie die Spielkarte an und schloss die Schublade. Jazmin legte sich wieder in ihr Kopfkissen und beäugte die Karte. Sie erinnerte sich nur zu gut, welches Ereignis sie mit dem Joker verband . Aber sie wusste nicht welches Gefühl es war, das bei dessen Anblick in ihr aufkam. Angst? Vor dem Clown? Vor dem Tod? Nein. Verwirrung? Ein wenig. Sehnsucht. Vielleicht. *Autor der „Alice in Wonderland“ Geschichte Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)