Im Regen von CAMIR ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Straßenbahn ist wie immer überfüllt, aber daran habe ich mich bereits gewöhnt. Ich fahre diese Strecke inzwischen jeden Tag, genau wie viele Leute mit mir – der berühmte Berufsverkehr eben. Manchmal kommt mir das Gedränge anheimelnd vor und ich fühle mich geborgen, meistens jedoch ist es genau anders herum. Dann habe ich das Gefühl zu ersticken und laut zu schreien, schrecke im letzten Moment jedoch noch einmal zurück. Heute ist wieder so ein Tag und das, obwohl ich noch einen Sitzplatz ergattern konnte – einen der letzten. Es ist ein regnerischer Tag und trotz der Kälte durchdringt die Feuchtigkeit Mark und Bein und ist durch die Kleider und Schirme meiner Mitpassagiere auch bis in den Waggon gedrungen. Ich schlinge die Arme um meinen durchnässten Körper und bibbere. So erschöpft war ich selten nach einem Arbeitstag und ich wundere mich über mich selbst. Energisch schiebe ich eine durchweichte Haarsträhne zurück an ihren Platz und versuche mich ein wenig aus meiner verkrampften Sitzhaltung zu lösen. Die Woche hatte so ausnehmend gut angefangen und nun habe ich das Gefühl, mein gesamtes Leben liegt in Trümmern vor mir. Und dabei war ich wirklich erfolgreich gewesen! Eine richtige „Karrierefrau“, wie es heute so gerne heißt. Von vielen belächelt und von genauso vielen bewundert. Aber war das alles wirklich genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte? Ich bin nicht mehr ganz jung und rückblickend muss ich feststellen, öfter verletzt worden zu sein, als ich es mir jemals träumen ließ. Nach einem abgeschlossenen Hochschulstudium habe ich schließlich mit einem guten Abschluss promovieren können. Es gelang mir, mich an der Universität zu etablieren und eine feste Anstellung als Professorin zu ergattern. Ich war fortan in der Forschung und der Lehre tätig und das wohl nicht zu knapp. Diese Tatsache war oft genug Grund, mich zu freuen, denn ich ging in meinem Beruf auf. Ich hatte nie übermäßig viel Geld gehabt, das meiste was ich erreicht hatte, verdanke ich großzügigen Menschen und jeder Menge Stipendien. Kaum hatte ich mit der Arbeit begonnen, verstarb meine Mutter und kurz darauf, wohl aus Kummer mein Vater. Das meiste, was sie mir allerdings hinterließen, waren Schulden – Schulden an denen ich heute noch zu zahlen habe und das acht Jahre später. Auch wenn es mich einiges an Kraft kostete, mich um die ganze Angelegenheit zu kümmern, fand ich immer noch Halt in meiner Arbeit, die mir je mehr Probleme ich hatte, doch immer als eine geeignete Flucht vor der Realität schien. Ich machte sie ja gerne. Ich ertappte mich dabei, in meinem Büro über einem Stapel dicker Wälzer einzuschlafen, anstatt nach Hause in meine Wohnung zu gehen und am nächsten Tag gespenstisch und übernächtigt durch die Flure der Institute zu geistern und sowohl Studenten als auch Kollegen mit meinen Augenringen und zerzausten Haaren in Angst und Schrecken zu versetzen. Nicht lange darauf hatte ich den Spitznamen „Nachteule“ inne, was ich teils mit Wut und teils mit Belustigung zur Kenntnis nahm. Mit diesem Spitznamen kam auch mein Ruf als wunderliche Frau, die zwar jede Menge Ahnung auf ihrem Wissensgebiet hatte, jedoch von den Dingen der Welt nicht viel verstand. Das weibliche Pendant zu dem berühmten „zerstreuten Professor“. Nicht, dass dem so gewesen wäre, aber das Aussehen prägt bekanntlich die Eindrücke, die die Umwelt von einem hat. Ich scherte mich nicht darum und bis auf gelegentliche Auswüchse von Nostalgie störte mich meine Lebensweise auch nicht. Ich hatte das Gefühl es gäbe so viel Neues zu entdecken, dass mir ein potentieller Partner niemals, oder zumindest kaum in den Sinn kam. Bis auf einige, jedoch in den letzten Jahren immer seltenere Barbekanntschaften, blieb ich alleine, zahlte meine Schulden und forschte. Dann trat er in mein Leben. Er war Gastdozent einer anderen Uni und verstand noch mehr von meinem Fach, als ich mir das jemals hätte träumen lassen, was vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass er zwanzig Jahre älter war als. Natürlich ging er genauso schnell wieder, wie er gekommen war, zurück zu seiner Frau und seinen zwei Kindern. Er ließ mich gleichermaßen alleine zurück, wie ich vor seiner Ankunft gewesen war, nur mit dem Unterschied, dass ich nun eine Leere spürte, die vorher nicht da gewesen war. Ein Wort hatte das andere gegeben und ich wusste, ich hatte nie die Chance gehabt, ihn zu halten. Wir hatten uns leidenschaftlich geliebt und erst dann hatte ich bemerkt, wie sehr ich doch all die Jahre nach Liebe gehungert hatte. Liebe die er nie bereit gewesen war, mir zu geben. Das war vor eineinhalb Monaten gewesen. Die Woche hatte so gut angefangen – ich war gerade dabei ihn zu vergessen, doch ich fürchte nun wird es mir nie wieder gelingen. Ich trage sein Kind und tief in mir drinnen weiß ich, ich muss es behalten. Die kauzige Nachteule wird wohl in den nächsten Monaten für einige Überraschungen sorgen, aber wohl ist mir bei dem Gedanken noch immer nicht. Ich seufze und lehne mich zurück... Die Straßenbahn rattert weiter ihrem Ziel entgegen und ich betrachte die Regentropfen, die an den Fenstern ihre Spuren ziehen... Ich werde es ihm nicht sagen. FINIS Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)