Das Blut des Königs von CAMIR (Gibt es überhaupt Helden in Zeiten des Krieges?) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Teil I Krieg! Krieg ändert sich nie und wird sich niemals ändern. Die Gründe dafür sind meist scheinheilig und das Ergebnis vernichtend. Ganz gleich ob es um Eroberung, Kampf um Rohstoffe oder Verbreitung der eigenen Zivilisation geht, die Opfer die dafür gebracht werden, rechtfertigen niemals den ursprünglichen Grund, bis er schließlich ganz in den Hintergrund rückt und das sinnlose Schlachten alleine weitergeht. Gedankenverloren schritt König Aran VII seines Zeichens Regent des einstmals stolzen Anarea durch die Empfangshalle seines Palastes. Früher einmal, bevor der Krieg begonnen hatte, kam ihm dieser Raum immer am wärmsten und hellsten vor, gesäumt von vielen der königlichen Garde, nun war er schmutzig, kalt und leer. Die Gardisten an der Front eingesetzt und die menschlichen Ressourcen zu kostbar um sie mit dem Putzen von Prunk zu vergeuden. Wie hatte all das eigentlich begonnen? Und wieso dauerte es an? Es kam ihm so vor, als läge all dies in einem undurchdringlichen Nebel, als wollte die Vergangenheit nicht geweckt werden. Dies war einer der Momente in dem ihm erneut bewusst wurde, dass er langsam alt wurde. Er zählte inzwischen fünfundsechzig Sommer, war aber immer noch stattlich und stolz. Er war großgewachsen und hager und um das bartlose, kantige Gesicht fielen immer noch kräftige weiße Haare, die er mit einem goldenen Stirnreif zu bändigen suchte. Dieser Stirnreif war in jenen Zeiten auch das einzige Insignium seiner Macht. Er hatte fünf Söhne gezeugt und aufwachsen sehen, aber bis auf einen hatte er sie auch alle beerdigt, gefallen in sinnlosen Schlachten getrieben von dem Willen sich zu beweisen. Und diesen einen, Jorin, einen stillen Knaben von sechzehn Sommern, suchte er nach bestem Wissen zu schützen. Nicht nur, weil er nicht auch noch das letzte Kind das er liebte begraben wollte, sondern auch, weil er befürchtete dass auf den Schultern seines schmächtigen Sohnes die letzte Hoffnung für Anarea ruhen könnte. Noch war es nicht soweit, das wusste Aran zu verhindern, aber er war auch nicht mehr der jüngste und jedes Jahr, in dem der Krieg andauerte zehrte zusätzlich an seinen Kräften. Jemand betrat die Halle. Auf diesen Jemand hatte Aran gewartet und durch die Leere des Raumes wurde dessen Ankunft besonders hervorgehoben. Die Schritte hallten auf dem kalten Steinboden wider und wirbelten Staub auf, als er sich Aran näherte. Als er bei ihm angelangt war, kniete er vor seinem König nieder und senkte den Kopf. „Herr!“ „Du darfst dich erheben Athrin.“ Athrin Hohenfels, Kommandant der königlich anareanischen Truppen gehorchte. Er war ein Mann mittleren Alters, der schon viele Schlachten schlagen musste und sich von jeder einzelnen, so schien es, eine Narbe geholt hatte. Er war zäh und verbissen, aber desillusioniert und in seinen trüben Augen konnte man erkennen, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. „Herr, ich bringe Nachrichten von der Front!“ „Ich sehe Deinem Blick an, dass Du diese Nachrichten lieber nicht überbringen würdest, Athrin.“ Der Kommandant nickte und schluckte. „Thoris ist gefallen und Jefalla auch. Diese beiden Städte konnten die tamurischen Angreifer bisher aufhalten, wie Ihr wisst. Nun, da diese beiden Posten gefallen sind, gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was die Tamuraner als nächstes planen werden...“ „Sie kommen hierher, nicht wahr?“ „Korrekt, ihr nächstes Ziel lautet Anareana, Hauptstadt des Reiches. Noch genießen die tamurischen Generäle ihren Sieg, aber wenn sie ihn genug ausgekostet haben, werden sie weiter machen. Wir sind in ihren Augen geschwächt genug, sodass sie uns den finalen Schlag versetzen können.“ Der König zitterte. Es war nicht so, dass er all das nicht wusste. Nacht für Nacht konnte er sie sehen die Angreifer – Nacht für Nacht in seinen Träumen. Aber dass alles so schnell gehen würde, hätte er nicht geglaubt. „So schnell geben wir uns nicht geschlagen, Athrin. Anareana darf nicht fallen. Aber wir müssen realistisch sein und nichts überstürzen. Unsere Truppen sind geschwächt und müde und bei weitem nicht so gut gerüstet wie die Tamuraner. Aber wir haben noch immer Ressourcen, die es uns möglicherweise erlauben, alles noch einmal zum Guten zu wenden. Wir haben den Magierrat und die Macht der Alten.“ Nun war es Athrin der erzitterte. „Herr, wollt Ihr wirklich so weit gehen?“ „Wenn es mein Land schützt, so will ich es tun. Ich sehe es nun ganz klar vor mir. Ich hätte gar nicht erst so lange zögern dürfen...“ „Aber Herr, wir wissen nicht was passiert, wenn diese Macht entfesselt wird.“ „Nein das wissen wir nicht, aber schlimmer als dass, was uns momentan blüht, wird es kaum werden.“ Athrin schwieg bevor er zögernd nickte. „Vermutlich habt Ihr Recht.“ „Meine Befehle sind klar. Bringt Jorin in Sicherheit, ihm darf unter keinen Umständen etwas passieren und ruft den Magierrat zusammen. Ich brauche ihre Unterstützung.“ „Wie Ihr befehlt!“ Athrin verbeugte sich erneut und verließ dann die Halle, um die Befehle auszuführen. Aran blieb zurück, geschlagen und mutlos. Sie marschierten auf Anareana zu, damit hatte er nicht gerechnet. Zumindest nicht so schnell. Und ob sein Plan funktionieren würde, das wussten nur die Götter – und die hatten sich die letzten eineinhalb Jahre erstaunlich still verhalten... Schließlich wandte auch er sich um und verließ die kalte Halle, immerhin wollte er seinem Sohn noch auf Wiedersehen sagen – oder vielleicht sogar „Auf Nimmerwiedersehen.“ Auch wenn seine Truppen das anders sahen und damit recht hatten - die Schlacht um Anarea hatte gerade erst begonnen und wenn sie verloren würde, dann brach ein finsteres Zeitalter an. Magistratin Amaryll Gunnarsdottir war keine schöne Frau, zumindest wenn man schön im klassischen Sinne benutzte. Sie war großgewachsen und schlank, war aber dennoch robust und kräftig gebaut. Ihre Gesichtszüge waren kantig und wurden durch ihre hohen Wangenknochen noch einmal besonders betont. Die braunen Haare hingen ihr über den Rücken, lose durch ein Lederband in der Nähe der Haarspitzen zusammengehalten. Wenn man sie betrachtete war es schwer, ihre Herkunft zu ermitteln, denn auch wenn ihr zweiter Name anderes verriet, wirkte sie nicht auf den ersten Blick wie eine typische Nordländerin. Zumindest erging es Athrin Hohenfels so, als er sie zum ersten Mal erblickte. Es stimmte, ihre Statur deutete darauf hin, aber weder ihr Vorname, noch ihre braunen Haare bestätigten dies. Sie würde im kommenden Jahr siebenunddreißig Sommer zählen und die Reife hatte schon erste Spuren in ihrem sommersprossigen Gesicht hinterlassen. Dennoch vertrat sie ohne Zweifel die nördlichen Provinzen für den Magierrat, die, wie ihr Name unschwer erriet, den nördlichsten Teil von Anarea bildeten. Manchmal wurden sie auch „Drachenbund“ genannt, wobei der Name weniger auf echte Drachen zurückzuführen war, als auf die Stärke und den Zusammenhalt der Einwohner. Diesen wurde es keineswegs gerecht, sie auf Barbaren zu reduzieren, die zwar stark und zäh, aber primitiv waren. Die Städte innerhalb des Drachenbundes gehörten mit zu den florierendsten und mächtigsten in ganz Anarea, was durch ihre zentrale Lage direkt am Eismeer nur begünstigt wurde, welches ihnen die Möglichkeit ausgedehnten Handels gab. Natürlich war in diesen Zeiten nicht mehr allzu sehr an Handel zu denken, aber die Tatsache, direkt am Meer gebaut zu sein, gab ihnen immerhin einen taktischen Vorteil. Wie Amaryll nun vor Athrin Hohenfels stand, wirkte sie abgekämpft und zerzaust von einem anstrengenden Ritt, strahlte aber immer noch eine innere Würde aus, die ihn überraschte. Er wusste nicht viel über sie, nur dass sie die Leiterin einer der größten arkanen Akademien des Landes war und offensichtlich eine gute Lehrmeisterin. Man sagte ihr nach, die Kunst des Heilens wie keine zweite zu verstehen und obendrein gehörte sie zu denjenigen Gelehrten des Landes, die sich bisher am erfolgreichsten mit den Inschriften der Alten auseinandergesetzt hatten. Dennoch war sie nur eine der wenigen Frauen des Magierrates und vertrat ihre Position nun umso verbissener. Sie und Athrin standen in den Ställen des königlichen Palastes, wo er ihr Pferd hingeführt hatte, damit man sich seiner annahm. Die Knechte hatten das Tier nur allzu bereitwillig in Empfang genommen, waren momentan doch die meisten Boxen leer. Er bot ihr an, ihren Mantel zu nehmen, doch sie lehnte ab. Stattdessen sah sie ihn ernst, aber dennoch verständig an. „Die Nachrichten waren nicht gut.“ „Nein Herrin.“ „Als man mir Euren Brief brachte, machte ich mich sofort auf den Weg. Ich habe mein Pferd nicht geschont, obwohl Jagedal, wie ihr wisst, mehrere Tagesreisen von hier entfernt liegt.“ „Ihr seht, mit Verlaub, etwas erschöpft aus. Wenn es nichts mehr gibt, was Ihr dringend erledigen müsst, so würde ich Euch gerne die Kammer zeigen, die man Euch zugewiesen hat, solange die Ratssitzung dauert.“ „Ich danke Euch.“ So gingen sie schweigend nebeneinander her, zumindest für eine Weile, denn es gab eine Frage, die Athrin noch unter den Nägeln brannte. „Herrin, bitte verzeiht meine Impertinenz, aber wir leben in gefährlichen Zeiten. Wie habt Ihr es geschafft, den Ritt unbeschadet zu überstehen. Überfälle gehören inzwischen zur Tagesordnung und wenn man Eure Kleidung besieht, so seht Ihr gewiss nicht arm aus.“ Sie lächelte. „Ich reiste nicht alleine. Mein Gefährte und Beschützer Iain Thoransson begleitete mich. Er wird ebenfalls hier eintreffen, hatte aber in der Stadt noch einige Geschäfte zu erledigen.“ „Ich verstehe...“ Ihr Beschützer, natürlich. Jeder, der sich den arkanen Künsten intensiver widmete, bekam von der Magiergilde einen Beschützer zur Seite gestellt, in der Regel einen zähen, in der Kunst des Kämpfens bewanderten Krieger. Durch ihre Eide aneinander gebunden, geschah es nicht selten, dass Magier und Beschützer auch eine andere Partnerschaft miteinander eingingen, so wie es offensichtlich bei Amaryll und Iain geschehen war. Nun war es nicht so, dass nur Magier in der Lage gewesen wären, Zauber anzuwenden. Jeder Mensch verfügte über diese Anlagen, nur die wenigsten nahmen die Kraft und die Geduld auf sich, diese Kunst zu verfeinern. Den restlichen blieben begrenze Möglichkeiten, die sich meist in kleineren Heil- oder Feuerzaubern äußerten. Athrin wusste noch genau, wie es bei seiner Ausbildung gewesen war. Auch als Soldat des Königs wurde man im Arkanen unterwiesen, obwohl die meisten Ausbilder ihre Aufgabe nur lustlos wahrgenommen hatten. Immerhin war jetzt dankbar für das Wissen, das er sich erworben hatte. Es hatte sich schon das eine ums andere Mal als sehr nützlich herausgestellt. Er wandte sich erneut an Amaryll. „Man sagt, Ihr seid eine begnadete Heilerin und gebt dieses Wissen sorgfältig weiter...“ Ein Schatten legte sich über ihre Gesichtszüge. „Ich tue, was ich kann. Selbst wenn es bedeutet, bis zum Umfallen zu arbeiten. Aber seit Beginn dieses unsäglichen Krieges habe ich nicht selten dass Gefühl, dass alles, was ich tue irgendwie dennoch umsonst ist.“ „Dieses Gefühl hat jeder von uns. Und mit den tamurischen Truppen vor den Toren von Anareana ist es auch mehr als berechtigt. Ich weiß, dass König Aran wirklich alles versucht, aber ich frage mich, ob es genug sein wird...“ „Es kommt darauf an, was jeder Einzelne dazu beisteuert.“ Ihre Gesichtszüge erhärteten sich. „Ich ahne, weswegen er den Magierrat zusammenrufen lässt und bete, dass man seine Bitte erhört. Das Wichtigste aber ist, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn wir das tun, haben wir schon verloren.“ „Ihr müsst einräumen, dass die Lage mehr als ernst ist.“ „Es sieht zweifellos danach aus. Aber bislang haben wir noch nicht verloren. Ich bin kein erfahrener Soldat wie Ihr, weiß aber dass Ihr mir nun entgegenhalten wollt, wie abgekämpft unsere Truppen sind. Es ist auch richtig, dass es immer schwieriger wird, neue Soldaten zu rekrutieren und wie schmerzlich der Verlust eines jeden ist. Ich bin selbst Mutter zweier Söhne und hoffe jeden Tag, den Krieg beendet zu sehen, bevor sie alt genug sind um ebenfalls mitzukämpfen. Aber damit das nicht geschieht, werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, auch wenn es umsonst oder nicht ausreichend ist. Und wenn jeder das seinige tut, so denke ich, haben wir noch eine Chance. Versteht mich nicht falsch. In meinen Augen ist es Wahnsinn, das ganze Morden und Schlachten, aber wir befinden uns nun mal in düsteren Zeiten und haben den Krieg obendrein nicht vom Zaum gebrochen.“ Athrin nickte nachdenklich. „Ich wünschte, ich hätte Eure Zuversicht.“ „Nennt es Hoffnung...“ Er nickte und dachte über ihre Worte nach, bevor er sie in ihrem Quartier ablieferte. Dann ging er zurück zu den Stallungen, nachsehen ob weitere Mitglieder des Magierrates eingetroffen waren. Mit Amaryll waren bereits sechs hier – acht fehlten noch. Danach musste er Jorin auf seine Abreise vorbereiten und in Sicherheit bringen, eine Aufgabe, der er mit gemischten Gefühlen entgegensah. Kapitel 2: ----------- Als es an der schweren Holztür klopfte zuckte Jorin unwillkürlich zusammen. Es war ihm egal, dass er als letzter Sohn des Königs Würde zeigen sollte oder musste. Er hatte Angst. Er war schmächtig und klein gebaut, das strohblonde Haar hing ihm strähnig in das Gesicht. Seine Gesichtszüge strahlten zwar etwas von der königlichen Würde aus, wirkten aber im Großen und Ganzen sehr vergeistigt. Nicht nur, dass man vor ihm verheimlichte, wie es um Anarea stand, nein, nun musste er auch noch gehen. Man hatte ihm zwar gesagt, warum und wohin, aber Jorin hatte das unbestimmte Gefühl, dass er, wenn er erst einmal fort war, niemals wieder zurückkehren würde. Sein Vater hatte lange mit ihm gesprochen. Lange und beruhigend, aber was sollte das schon heißen? Jorin wollte nicht fortgehen. „Pass gut auf dich auf. Möglicherweise bist du unsere letzte Hoffnung.“ „Wie könnte ich die letzte Hoffnung des Landes sein, Vater? Sieh mich an, ich kann nicht regieren und das weißt du so gut wie ich. Ich war immer eine Enttäuschung für dich. Das sagst du nur, weil meine Brüder nicht mehr leben.“ „Jorin, ich liebe dich genauso, wie ich deine Brüder geliebt habe und es würde mir das Herz brechen, dich zu verlieren. Ich kann dir leider momentan noch nicht mehr sagen, aber ob du regieren kannst oder nicht hat überhaupt nichts damit zu tun, ob du das Land rettest oder nicht...“ „Findest du nicht, ich habe ein Anrecht darauf, zu erfahren, was passiert?“ Sein Vater hatte geseufzt und sich dann neben ihn gesetzt um es ihm zu erklären... Ja, Jorin hatte verstanden. Das, was er in sich trug war kostbarer als alles andere und musste unter allen Umständen beschützt werden, aber wohl war ihm bei der ganzen Sache nicht. Noch immer in Gedanken sah er, wie Athrin Hohenfels die Kammer betrat und sich verbeugte. „Es ist an der Zeit zu gehen, Herr.“ Der Soldat sah müde und abgekämpft aus, seine Rüstung, obwohl er sich größte Mühe mit ihrer Erhaltung gab, alt und verbeult. Jorin wusste wohl, dass Athrin einer der besten Kämpfer in den Diensten des Reiches war, aber insgeheim fürchtete er sich vor dem Mann. „Ich weiß,“ sagte er tonlos. „Wie lange wird die Reise dauern?“ „Wenn alles gut geht, vier oder fünf Tagesreisen und das ist auch gut so. Ich werde hier gebraucht. Aber auf der anderen Seite geht eure Sicherheit über alles.“ „Ja... Ja, natürlich...“ Unwillig griff Jorin sein Bündel und folgte Athrin auf den Flur hinaus. Im Gehen wandte er sich noch einmal zu seiner Kammer um. Er hatte zwar das nötigste eingepackt um sich auch im selbstauferlegten Exil über die Runden zu helfen, aber was er zurückließ waren Erinnerungen. Erinnerungen an eine weitestgehend unbeschwerte Kindheit, an seine Brüder und an seine Mutter – alles Menschen die nun nur noch in Gedanken bei ihm weilten. Schweigend liefen der Thronfolger und sein Beschützer den Korridor entlang in Richtung der Ställe, wo wohl schon alles reisefertig war. Um nicht aufzufallen, hatte er seine prunkvolleren Gewänder ablegen und sie mit einer einfachen Bauernkluft tauschen müssen. Es handelte sich um ein schlichtes Leinenhemd und eine dunkle Hose, durchweg bequeme und robuste Kleidung in der er sich dennoch unwohl fühlte. Vermutlich eine Frage der Gewöhnung. Er setzte gerade an, Athrin etwas zu fragen, als ihm eine Frau begegnete, die er noch nie zuvor im Palast gesehen hatte. Sie war zwar mit den Emblemen der Magiergilde behangen, hatte aber ihre Robe gegen eine Lederrüstung getauscht, die eindeutig auf einen weiblichen Körper zugeschnitten war. Er war sich nicht sicher, ob er sie schön finden sollte, aber zumindest besaß sie eine nicht zu leugnende Ausstrahlung von Würde. Er grüßte sie instinktiv, was sie ihm sofort dankte. Dann sah sie ihn für einen kurzen Moment mit ihren braunen Augen und Jorin hatte automatisch das Gefühl, sie blickte ihm in die Seele. Als der unheimliche Augenblick vorüber war, drehte er sich zu Athrin um. „Wer ist sie?“ „Ihr Name ist Amaryll Gunnarsdottir. Sie vertritt die nördlichen Provinzen in dem von Eurem Vater einberufenen Magierrat.“ „Sie wirkte nicht wie jemand, der Widerspruch duldet.“ „Sagen wir, sie wirkte auf mich, als hätte sie klare Ziele, die sie gerne verwirklicht sieht. Dafür schont sie sich aber auch selbst nicht. Ich denke, sie wäre eine gute Soldatin, wenn sie keine Frau wäre.“ „Ihr habt sie getroffen?“ „Ich bin ihr vor ein paar Minuten zum ersten Mal begegnet, aber sie wirkte auf mich, als würde ich sie schon mein ganzes Leben kennen.“ „Das Gefühl hatte ich auch. Wie macht sie das bloß?“ „Ich denke, sie kennt die Menschen.“ „Wird sie meinen Vater unterstützen?“ „Davon bin ich überzeugt.“ Jorin nickte und nachdem er die Fragen alle gestellt hatte, vergaß er die Begegnung mit Amaryll genauso schnell wieder, wie sie ihm in den Sinn gekommen war. Wie hätte er auch ahnen können, unter welchen Umständen er ihr wieder begegnen würde. Die Kammer, die man ihr zugewiesen hatte, war auch nach Amarylls Rückkehr eiskalt. Sie hatte sich erlaubt, ein Feuer anzuzünden und die Zeit mit einem kleinen Spaziergang totzuschlagen. Zum einen wartete sie noch auf Iains Ankunft, zum anderen darauf, dass sich die Steinmauern zumindest ein wenig erwärmten. Es war nicht so, dass sie als Nordländerin keine Kälte ertragen konnte, aber wenn es sich vermeiden ließ, so legte sie es nicht darauf an. Kalt genug wurde es meist von alleine. Auf ihren Wanderungen war ihr noch einmal der Befehlshaber der königlichen Truppen begegnet, der ihr jene Kammer zugewiesen hatte. In seiner Begleitung befand sich ein Knabe, der wirkte, als hätte er bisher noch nicht so viel vom Krieg bemerkt. Sie schlussfolgerte daher, dass es sich um den letzten überlebenden Königssohn handeln musste und trotz seiner Herkunft erinnerte er sie an ihre eigenen Söhne. Als er sie gegrüßt hatte, hatte sie automatisch den Gruß erwidert. Er wirkte so unschuldig und sie hoffte inständig, dass er diese Unschuld noch eine Weile behalten durfte. Als er an ihr vorbeiging und ihr in die Augen sah, verspürte sie einen Hauch des Schicksals. Sie würde ihn also wiedersehen. Das Gefühl war schneller verflogen, als sie darüber nachdenken konnte und so war sie in ihre Kammer zurückgekehrt. Es war schon seltsam, wie sich die Ereignisse überschlagen hatten in den letzten Monaten. Zunächst hatte niemand die Angriffe der Tamuraner ernst genommen, bis klar wurde, dass sie ein System hatten und ehe man sich versah wurde man von den heranstürmenden Truppen überrumpelt. Und nun standen sie kurz vor den Toren der Hauptstadt. Auch wenn klar war, dass die Anareaner einiges versäumt hatten, so wollte Amaryll die Hoffnung noch nicht aufgeben. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum König Aran den Magierrat einberufen ließ, als den, dass er einen Plan verfolgte. Für sie war es das erste Mal, dass sie den königlichen Palast überhaupt betrat, denn normalerweise fanden die Treffen der Magier im Hauptquartier der Gilde statt. Anareana war daher keine unbekannte Stadt für sie, auch wenn diese Treffen nicht allzu häufig vorkamen. Den Großteil ihrer Arbeit versah sie an der Magierakademie von Ternheim, der Hauptstadt der nördlichen Provinzen. Wenn Amaryll ehrlich war, so fand sie den großen Verwaltungsaufwand, den die Gilde ihr bescherte lästig. Ihre wahre Bestimmung war das Lehren der Novizen und darin war sie eine der Besten. Dennoch hielt sie sich an ihre Pflichten und erfüllte die ihr aufgetragenen Aufgaben. Sonst wäre sie jetzt nicht hier. Als sie die Kammer betrat schüttelte sie den Kopf. Das Feuer war ausgegangen, kein Wunder, dass es nicht warm wurde. Es gab eben nicht mehr genügend Holz. Sie seufzte und kauerte vor dem Kamin nieder, um Wärme in die Steine zu leiten. Sie schloss die Augen und spürte wie die Energie aus ihren Handflächen in die Steine floss. Magie war allgegenwärtig aber nur wenige besaßen die Fähigkeit diese große Quelle der Macht adäquat anzuzapfen und große Dinge zu vollbringen. Für gewöhnlich reichten den meisten Menschen ein paar simple Heil- und vielleicht noch Feuerzauber. Die Handhabung mächtigerer Magie erforderte größere Willenskraft, Konzentration und Übung und einen guten Lehrmeister und war daher nicht jedem zugänglich, obwohl sie es durchaus hätte sein können. Vorausgesetzt man brachte die nötige Selbstdisziplin und Geduld mit. Amaryll wusste jedoch, dass dies den Meisten fehlte und da schloss sie auch sich selbst mit ein. Sie erinnerte sich zu gut an die Schwierigkeiten, die sie als Novizin gehabt hatte, gehörte aber im Endeffekt doch zu denjenigen die durchgehalten hatten. „Sie kann es nicht lassen!“ hörte sie eine Stimme hinter sich und drehte sich erschrocken um. „Iain!“ „Sei gegrüßt, Amaryll!“ „Ich habe dich gar nicht kommen sehen... Wann bist du hier eingetroffen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Kurz nach dir, vermute ich. Aber du hast mich offensichtlich nicht gesehen…“ „Nein…“ Sie eilte auf ihn zu und umarmte ihren Gefährten, der es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hatte. Seine Waffen hatte er abgelegt, aber er wirkte dennoch wie auf dem Sprung. Er war kräftig gebaut und überragte Amaryll um wenige Zentimeter. Auf seiner Haut waren schon erste Falten zu erkennen und in seinem langen blonden Haar erste graue Strähnen. Obwohl er noch immer kräftig wirkte, hatte das Alter erste Spuren hinterlassen. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“ „Die Reise war weniger gefährlich, als befürchtet. Ich denke, es wird dich beruhigen, dass die Kinder in Sicherheit sind.“ Sie setzte sich neben ihn und nickte. „Ja, das beruhigt mich. Trotzdem wäre mir wohler, wenn du bei ihnen wärst.“ „Du vergisst wohl etwas: Ich bin dein Beschützer, das allein ist meine Aufgabe. Und wenn ich ehrlich bin, ist mir unwohl bei der ganzen Sache mit dem Magierrat. Anarea hin oder her, du solltest nicht hier sein.“ „Nur hier sollte ich sein. Nur wenn alle zusammenarbeiten, ist noch etwas zu retten.“ Iain seufzte und küsste seine Gefährtin vorsichtig. „Amaryll, ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt noch etwas zu retten ist und ich will nicht, dass du dein Leben für eine sinnlose Sache opferst. Ich liebe dich und die Kinder und ich würde es nicht ertragen, wenn dir etwas passierte.“ „Was soll mir passieren?“ „Der Angriff auf die Stadt steht jederzeit bevor. Ich weiß nicht, was der König von euch allen will, aber ich bin mir nicht sicher, ob es noch möglich ist, Anareana zu verlassen, bevor es wirklich losgeht.“ „Wer sagt denn, dass ich das will?“ „Deine Vernunft. Amaryll, du willst doch nicht etwa bleiben?“ „Wenn es notwendig sein sollte, doch. Du kannst mir nicht raten zu fliehen, wenn meine Fähigkeiten gebraucht werden. Ich bin Heilerin und es ist meine Pflicht zu helfen.“ „Deine Pflicht besteht einzig und alleine gegenüber deiner Familie. Ich kann es nicht verantworten, dass du dich für eine abstrakte Idee in Gefahr begibst. Die Schlacht ist bereits verloren. Du musst nicht noch ein Opfer davon werden.“ „Dann… sieh… nicht… zu…“ „Wie bitte?“ „Wenn du es nicht ertragen kannst, dann sieh nicht zu. Ich entbinde dich von deiner Pflicht, mein Beschützer zu sein. Geh! Kümmere dich um die Kinder!“ Entgeistert starrte Iain sie an. „Das ist nicht dein Ernst, Amaryll. Wie kannst du so etwas sagen?“ Ihre Stimme zitterte. „Ich habe ebenfalls lange über all das nachgedacht und meine Entscheidung getroffen. Ich bleibe. Ich kann nicht vor den Pflichten weglaufen, die ich angenommen habe, auch wenn es schmerzt. Und wer weiß, vielleicht haben wir Glück. Ich kann nicht einfach aufgeben und von dir als erfahrenem Kämpfer hätte ich etwas mehr Mut erwartet.“ „Mut hat nichts damit zu tun. Du weißt genau, worum es geht. Aber offensichtlich rede ich gegen eine Wand. Ich habe dir vorerst nichts mehr zu sagen.“ Iains Stimme klang tonlos. Er stand auf und ging zur Tür. Einen Moment lang überlegte Amaryll, ihm hinterherzurufen, er solle warten, aber sie blieb stumm. Als er gegangen war, sank sie weinend auf dem Bett zusammen. Kapitel 3: ----------- Iain hatte Recht. Und Amaryll wusste es – genau das war ihr Problem. Dass er sosehr darauf insistierte, sie in Sicherheit zu bringen, hatte einen guten Grund: es würde gefährlich werden, sehr gefährlich. Als sie ihre Entscheidung gefällt hatte, zu bleiben, so geschah dies in der Tat nur halbherzig, denn die Möglichkeit, dass sie sterben konnte, war nicht von der Hand zu weisen. Bis jetzt hatte sie immer noch damit gehadert und ein Argument dagegen waren und blieben ihre beiden Söhne. Sie mochten in Sicherheit sein, aber konnte sie es verantworten ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen um einer möglicherweise verlorenen Sache zu dienen? Die andere Seite der Medaille trug denselben Namen: Verantwortung. Die Verantwortung die sie gegenüber ihrer Familie hatte, hatte sie in gewisser Weise auch gegenüber Anarea. Sie war eine der besten Heilerinnen des Landes und dazu noch eines der mächtigeren Mitglieder des Magierrates. Wenn sie ihre Fähigkeiten nicht zur Verfügung stellte, beging sie dann nicht Verrat? Möglicherweise bildeten gerade ihre Kräfte das berühmte Zünglein an der Waage, ganz zu schweigen was eine Niederlage für sie bedeuten konnte. Sie wollte gar nicht erst wissen, was geschah, sollte Anareana fallen. Damit wäre die tamurische Invasion zu einem siegreichen Ende gekommen, was zweifellos zu einer Annexion von Anarea führen würde. Unter der Herrschaft des Feindes zu leben stellte keine allzu rosige Aussicht dar, ganz besonders für jemanden wie Amaryll, wenn man bedachte, wie die Tamuraner Magie gegenüber eingestellt waren. Vielleicht war dies ihr wahrer Kampf? Was auch immer es war, Iains Worte hatten sie erst recht zögern lassen und damit er sie nicht umstimmte, hatte sie ihn mit harten Worten vertrieben und ihre Gefühle für ihn verdrängt. Was sie unter keinen Umständen wollte, war sein Schutz. Natürlich war er ihr Beschützer, aber er war eben auch der Vater ihrer Kinder. Wenn sie schon fallen sollte, so musste zumindest irgendjemand übrig bleiben. Kriegsbedingte Vollwaisen sollten ihre Söhne nicht werden. Vernachlässigte sie damit ihre Mutterpflichten? War sie egoistisch? Wollte sie ihren Kindern damit lediglich Schlimmeres ersparen? Oder war das, was sie für das ‚Schlimmere’ hielt eine Projektion dessen, was es für sie selbst bedeuten konnte, ganz unabhängig von den Folgen für ihre Söhne? Sie wusste es nicht und genau das ließ sie verzweifeln. Man hielt sie meist für stark und unnahbar, aber in jenem Moment war sie verletzlich und schwach. Und das Allerschlimmste war, dass es niemanden gab, der ihr bei ihrer Entscheidung helfen konnte. Wut! Wut und Unverständnis waren die Emotionen die in Iains Kopf um die Vorherrschaft kämpften, als er Amarylls Kammer verlassen hatte. Unruhig wanderte er den steinernen Korridor hinunter in Richtung Ställe oder Garten. Es war ihm relativ egal, Hauptsache ins Freie. Es begegneten ihm wohl einige Menschen, vielleicht sogar einige von Amarylls Magierkollegen, aber er beachtete sie nicht: seine Gedanken kreisten nur um eine Person – die Frau, deren Schutz er geschworen hatte. Wie konnte sie das tun, nach all den Jahren, nach all den gemeinsamen Abenteuern? Er fragte sich, was sie zu dieser komplett unverständlichen Entscheidung getrieben hatte und ob sie sich dessen bewusst war, was sie ihm damit antat. Er war für ihre Sicherheit zuständig – und das hatte seinen Grund. Magiewirkende, die dabei waren einen Zauber auszuführen, waren verletzlich. Sie mussten sich für eine solche Aktion sosehr konzentrieren, dass es kaum Spielraum für anderes gab, sollte der Zauber gelingen. Damit sie im Kampf nicht gestört wurden, wurde ihnen ein Beschützer zur Seite gestellt, der sämtliche Angriffe abwehrte und sich für die Sicherheit des Magiewirkenden verbürgte. Normalerweise waren die Beschützer perfekt im Kampf und für die Schlacht ausgebildete Krieger, die aber wenig bis gar nichts über Magie wussten – dafür umso mehr über den Anwender. Beschützer und Magier wurden schon in frühen Jahren zusammengebracht – so um das vierzehnte Lebensjahr – damit sie lernten, sich blindlings aufeinander verlassen zu können, wenn es notwendig war. Natürlich war zu diesem Zeitpunkt die Ausbildung beider noch nicht abgeschlossen, aber sie lernten von nun an gemeinsam. Iain erinnerte sich noch gut an sein Zusammentreffen mit Amaryll. Er zählte zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Sommer, sie erst dreizehn. Sie war ein schüchternes, hageres Mädchen gewesen, das am liebsten den Blick senkte und nicht angesprochen werden wollte. Ihre langen braunen Locken hatte sie schon damals zusammengebunden, konnte aber nicht verhindern, dass sie ihr ins Gesicht fielen. Als man ihn zu ihr brachte, war er nervös. Im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte er sich gewünscht, einen männlichen Novizen zugeteilt zu bekommen, da er sich in der Gegenwart von Mädchen eher unwohl fühlte. Nun aber stand er genau einem solchen gegenüber. Sein Lehrer, der die ganze Zeit neben ihm hergegangen war, löste sich aus der Formation, ging auf das junge Mädchen zu, das ebenfalls von einem Lehrmeister begleitet wurde. Er ergriff ihre Hand und legte sie in Iains. „Das ist Amaryll Gunnarsdottir. Du wirst in Zukunft für ihre Sicherheit verantwortlich sein.“ Iain schluckte und zwang sich dann zu einem Lächeln. „Es freut mich, dich kennenzulernen. Man nennt mich Iain Thoransson.“ Zum ersten Mal blickte sie ihm direkt in die Augen. Er unterdrückte ein überraschtes Aufkeuchen. Ihre Augen wirkten so unergründlich und weise für ihr Alter. „Du bist auch ein Nordländer?“ „Ich… ja das bin ich wohl… Aber du, du siehst gar nicht aus…“ Nun lächelte sie. „Meine Mutter kommt aus den südlichen Provinzen, aber ich fühle mich dennoch eher dem Norden zugehörig.“ „Ich verstehe…“ Nach den anfänglichen Schwierigkeiten lernte Iain eines sehr schnell. Amaryll stellte sich als zuverlässige Gefährtin heraus. Sie war ruhig und besonnen und tat niemals etwas, von dem sie glaubte, es könnte übermäßig gefährlich werden. Sie nahm ihre Studien sehr ernst und es stellte sich bald heraus, dass sie über großes Talent verfügte. Natürlich gab es Rückschläge, aber ihre Disziplin ermöglichte ihr, das Gelernte schnell und sicher anzuwenden. In all dieser Zeit wurde aus dem hageren Kind eine junge Frau, auch wenn Iain zu den letzten gehörte, denen dies auffiel. Für ihn war sie zu einer Freundin geworden, zu einer Weggefährtin, für deren Schutz er zu sorgen hatte. Was sie vereinte war eine rituelle Verbindung, die es ihm ermöglichte zu spüren, ob sie in Gefahr war oder nicht und umgekehrt. Diese Verbindung riss normalerweise beim Tod eines der beiden Partner, gewährleistete es aber auch, genau zu wissen, wann sie ihn brauchte und er sie. Bis sie einander auch als Liebespartner erkannten, vergingen noch einige Jahre und wie es dazu kam, wusste Iain selbst nicht mehr. Es hatte sich einfach aus der ganzen Situation ergeben und war keine Seltenheit. Dass ihre Verbindung auch einen anderen Vorteil hatte, erkannte er, als sie sich das erste Mal leidenschaftlich liebten. Nach Amarylls Abschluss an der Akademie waren sie einige Jahre im Land umhergezogen, um die Menschen und die Städte zu entdecken und vielleicht beim Lösen von Problemen zu helfen. Erst als Amaryll ein Posten als Lehrmeisterin an ihrer alten Akademie in Ternheim angeboten wurde, wurden sie sesshaft. Im Laufe der Zeit übernahm sie sogar die Leitung und den damit verbundenen Posten im Magierrat, verlor aber nie ihr eigentliches Ziel aus den Augen: die Weitergabe das Wissens und dessen Anwendung. Sie war die gefragteste Heilerin der Stadt und kam dieser Aufgabe, so gut es ging, nach. Mitten in diese Zeit wurden ihre beiden Söhne Taran und Radic geboren. Dann kam der sinnlose Krieg. Zwar lebten sie nach wie vor im relativen Wohlstand und waren im Norden noch nicht allzu sehr davon betroffen, aber seine Auswirkungen erreichten sie nichtsdestotrotz. Plötzlich wurde an der Akademie wieder der Schwerpunkt auf Angriffszauber gelegt und viele junge Männer schlossen sich der Armee an. Er hörte Amaryll oft sagen, dass das Schlimmste noch bevorstand und natürlich wusste er, wie Recht sie hatte. Mit Kämpfen kannte er sich aus. Als Gegenreaktion, begann sie sich mehr um die Familie zu kümmern und ihren Schülern umso eindringlicher die Kunst des Heilens zu vermitteln – bis die Einladung es Königs kam. Er wusste nicht, warum sie ihre Entscheidung so getroffen hatte, aber es sah nicht nach der Amaryll aus, die er kannte und liebte. Was war nur mit ihr geschehen? Ohne dass er es bemerkt hatte, hatte Iain den Garten des Palastes erreicht. Es handelte sich um ein inzwischen verwildertes Areal, das aus mehreren Rasenflächen umsäumt von ehemaligen Blumenbeeten und Bäumen bestand und in dem mehrere Sitzbänke aufgestellt waren. Da der Palast die Stadt überragte, traf dies für den Garten ebenso zu. Weit unter sich konnte man die verwinkelten Straßen erkennen, auf denen trotz allem geschäftiges Treiben herrschte. Sie liefen auf die Stadttore zu, hinter denen sich erst einmal eine Ebene verbarg, die am Horizont irgendwann durch eine dunstige Bergkette unterbrochen wurde. Natürlich gab es auch in dieser Ebene kleinere Siedlungen und Gehöfte, doch diese waren aufgrund des drohenden Angriffes evakuiert worden. Wo die Bauern sich jetzt aufhielten, entzog sich Iains Kenntnis. Ganz in der Ferne vermochte er Feuer auszumachen – der Ansturm auf die Stadt war bereits im Gange. Morgen oder Übermorgen würden sie die Stadt erreicht haben. Ganz am Rande der Stadtmauer erblickte er auch das Hauptgebäude der Magiergilde, das er inzwischen sehr gut kannte. Dort waren er und Amaryll schon oft gewesen, im Palast noch nie. Auch dieses Gebäude war inzwischen geräumt worden. Alle wichtigen Gildenmitglieder waren inzwischen hier eingetroffen und die weniger wichtigen kümmerten sich um die Truppen. Langsam ging Iain auf eine der Bänke zu und ließ sich darauf nieder, sodass er die Aussicht genießen konnte. Man merkte, dass es Winter wurde, denn alles war von einer leichten Reifschicht bedeckt. Iain hüllte sich in seinen Umhang. Die Sonne versank langsam hinter den Bergen und tauchte alles in ein rötliches Licht. Obwohl der Garten wie ausgestorben war, fühlte sich Iain nicht alleine. Er hatte seine Gedanken... Lohnte es sich für all das kämpfen was er unter sich erkennen konnte? Amaryll sagte ja. Iains Augen formten sich zu Schlitzen. Er liebte sie, aber war deswegen sein Urteil getrübt? In seinen Augen war die Schlacht bereits verloren und das hatte er ihr auch gesagt. Er hielt es daher für besser, zu den Kindern zurückzukehren und zu warten, bis sich der Sturm gelegt hatte. Glücklicherweise musste er sich um deren Sicherheit keine Sorgen machen, sie waren in relativer Sicherheit in einer recht abgelegenen Festung untergebracht. Es war unwahrscheinlich, dass der Feind Ressourcen und Energie in deren Eroberung steckte, denn sie hatte keinen strategischen Wert und wirkte zudem verlassen. Das muntere Treiben weit unter ihm in der Stadt flachte mit der Dämmerung immer mehr ab und langsam gingen die ersten Lichter an. Konnte er Amaryll vorwerfen, dass sie so pflichtbewusst war? Ihre Fähigkeiten waren außergewöhnlich, aber würden sie ausschlaggebend sein? Die Vorstellung, dass ihr etwas passieren konnte zerfraß jegliche andere Form der Logik, aber andererseits befand man sich in einem Krieg, den man nicht begonnen hatte. War es wirklich besser unter Fremdherrschaft zu leben? Oder sollte man nicht zumindest sein Möglichstes tun, das zu verhindern? Er war immerhin Kämpfer, ausgebildet für die Verteidigung – aber er wusste auch, wann es besser war, aufzuhören. Momentan sah alles nach einer Niederlage aus, sicher sein konnte man sich jedoch niemals und sie hatten immerhin einen Vorteil auf ihrer Seite: sie waren die Verteidiger und was sie verteidigten war das letzte, was sie hatten... Als er wieder in Amarylls Kammer zurückkehrte, war sie bereits eingeschlafen. Ihr Haar reflektierte Kerzenlicht und schimmerte gelblich. Leise setzte er sich auf das von Fellen bedeckte Bett und zog die hinabgerutschte Decke über ihre freien Schultern. Dann strich er ihr über den Kopf. „Entschuldige meinen Ausbruch von vorhin,“ flüsterte er. „aber du bist das wertvollste, das ich habe...“ Sie drehte sich um und sah ihn mit verschlafenen Augen an. „Iain?“ „Ja?“ Sie setzte sich auf und küsste ihn liebevoll. „Das weiß ich doch...“ „Ich habe noch einmal nachgedacht. Vielleicht gibt es noch eine Chance, aber wenn, dann ist sie sehr gering. Wenn du bleiben willst, so werde ich dich nicht aufhalten, aber bitte nimm zur Kenntnis, dass mir nicht Wohl dabei ist.“ „Mir ist selbst nicht Wohl dabei, aber ich habe dir ja schon meine Gründe genannt. Dennoch möchte ich dich bitten, zu den Jungs zurückzukehren. Sie sollen nach Möglichkeit keine Vollwaisen werden.“ „Du hast deinen Tod schon eingeplant, nicht wahr?“ „Er ist eine Möglichkeit von vielen. Aber es vergeht kein Tag an dem wir ihm nicht ins Gesicht sehen... Auf der anderen Seite.. hatte ich vorhin ein seltsames Gefühl, als ich den Sohn des Königs erblickte...“ „Ein seltsames Gefühl?“ „In Ermangelung einer besseren Beschreibung, habe ich es Schicksalshauch genannt... Es war wie ein Kribbeln, wie als hätte ich all das schon einmal erlebt. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, ihn wiederzusehen. Wenn das wahr ist, werde ich vermutlich überleben...“ „Entschuldige, wenn ich sage, dass das sehr vage ist. Du könntest dich auch getäuscht haben und dann? Sich nur aufgrund eines solchen Gefühls in Sicherheit zu wiegen, halte ich für brandgefährlich.“ „Es ist vage. Die Magie macht manchmal solche Dinge aus ihren Anwendern. Die Kraft in die Zukunft zu sehen ist selten und ungenau, aber es passiert – Visionen hatte jeder Magier schon einmal. Manche schaffen es, sich darauf zu spezialisieren, andere nicht. Meine sind selten und kaum der Rede wert und natürlich zeigen sie nur eine Möglichkeit unter vielen. Aber es ist eine Möglichkeit.“ „Ja, es ist eine Möglichkeit. Einer, der ich nicht besonders vertaue.“ Amarylls Gesichtsausdruck wurde ernst. „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber ehrlich gesagt will ich jetzt nicht mehr davon sprechen. Wir haben nur noch wenig Zeit.“ „Ich habe Feuer gesehen, sie sind maximal noch eineinhalb Tagesreisen von hier entfernt.“ „Damit war zu rechnen... Bitte reite morgen gleich nach Anbruch der Dämmerung los.“ „Ich wünschte du würdest mitkommen...“ „Das wünschte ich mir auch... In einem anderen Leben vielleicht – oder in einer anderen Zeit.“ Iain setzte zur Erwiderung an, seufzte dann aber lediglich. Niemals war ihm seine Beschützerrolle schwerer gefallen. Bevor er noch weiter in Trübsal versinken konnte, hatte Amaryll ihn zu sich aufs Bett gezogen und bald ließ sie ihn alle Finsternis vergessen – zumindest für eine Nacht. Kapitel 4: ----------- König Aran stand am Fenster seines Schlafzimmers. Er konnte nicht schlafen, aber das war keine Seltenheit in den letzten Tagen. Das Fenster wies auf die Stadt hinaus, was bedeutete, er konnte sowohl die Gärten, als auch die Stadt, als auch die Ebene überblicken – die Richtung also, aus der sie kommen würden. Er wusste nicht, wie lange er dort schon gestanden hatte, aber zwischenzeitlich hatte er einen nachdenklichen Krieger durch die Gärten wandern sehen. Nach seiner Kleidung zur urteilen war er wohl der Beschützer einer der Magier und deshalb nicht bei den Truppen. Er sah aus wie ein Nordländer, zumindest aus der Ferne. Ein energisches Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Lethargie. „Herein!“ Die Tür öffnete sich einen Spalt und einer seiner Soldaten streckte seinen Kopf durch den Spalt. Sein Gesicht wurde von einem Kranz aus Licht umsäumt und war kaum zu erkennen – dennoch wusste Aran um wen es sich handelte: Sein Name war Hauptmann Tam Jardin und er war der Stellvertreter von Athrin Hohenfels. „Es tut mir leid, Euch so spät noch zu belästigen…“ Aran machte eine beschwichtigende Geste. „Ihr würdet mich nur bei etwas Dringendem benachrichtigen. Was gibt es?“ Tam trat ein und nickte. „Ich bringe Kunde von der Front. Der Feind hat sich schneller bewegt als vorhergesehen. Er ist nun keine Tagesreise mehr von der Hauptstadt entfernt.“ „Ich verstehe… Das ist schneller als ich erwartet habe. Zieht alle verfügbaren Männer von der Front ab. Anareana muss um jeden Preis verteidigt werden, alles andere ist nebensächlich. Und lasst sofort nach Sonnenaufgang den Magierrat zusammenrufen. Ihre Unterstützung ist notwendiger als ich gedacht habe. Hätte ich gewusst, dass es schon so schnell so weit kommt, hätte ich nicht gewartet…“ „Ich kümmere mich sofort darum.“ Tam wollte sich gerade abwenden und gehen, als ihm der König noch etwas hinterherrief. „Wartet – gibt es schon Neuigkeiten von Hauptmann Athrin und meinem Sohn?“ „Nein Herr, aber sie sind auch erst heute losgeritten. Ich veranlasse, dass man Euch sofort informiert, wenn Nachricht eintrifft.“ „Ich danke Euch…“ Aran kannte die Frage, die auf Tams Gesicht stand, aber er unterließ es, darauf zu antworten. Als der Hauptmann gegangen war, wandte er sich erneut ans Fenster. Es war riskant, seinen besten Mann aus dem Gefecht zu entfernen, aber Jorins Sicherheit ging über alles. Sie war noch wichtiger als die Sicherheit der Hauptstadt und das nicht nur für seine Gefühle als Vater. Selbst wenn Anareana fiel, vermochte Jorin vielleicht das Ruder herumzureißen. Athrin war in jeden Plan eingeweiht worden und wusste was er zu tun hatte. Dennoch hoffte Aran, dass es dazu nicht kommen musste. Der Magierrat vermochte ihm dabei behilflich sein. Sie würden die Truppen sicher im Kampf unterstützen – aber sie waren auch diejenigen die die Erlaubnis erteilen konnten, die Erlaubnis die Macht der Alten zu entfesseln. Immerhin waren sie bisher die Hüter darüber gewesen… Iain erwachte durch die Leere neben sich im Bett. Es dämmerte, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Verschlafen richtete er sich auf und erschrak. Amaryll war bereits aufgestanden und angezogen. Sie kniete vor dem Kamin und sah aus, als ob sie betete. Neben ihr lag ihr abgetrennter Haarschopf und sein Schwert. Nun waren ihre Haare kürzer als schulterlang und nur noch durch ein Stirnband im Zaum gehalten. Er konnte nicht sagen, dass es schlechter aussah als zuvor, nur ungewohnt. „Was hast du getan?“ Sie wandte sich um, wie als hätte sie jeden Augenblick mit dieser Frage gerechnet. „Welche Antwort ist dir lieber? Die, dass ich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen habe oder die, dass ich unnötigen Ballast abgeworfen habe?“ „Ich hasse sie beide.“ „Meine langen Haare hätten mich im Kampf behindert.“ „Ja, natürlich… Trotzdem werde ich sie vermissen…“ Er schälte sich aus der Felldecke und stand auf. Dann bückte er sich und hob die Haarbüschel auf. „Bitte erlaube, dass ich das für dich aufbewahre.“ Sie nickte und lächelte. „Gerne…“ Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und küsste ihn auf die Stirn. Dann blickten sie sich in die Augen, bis sich Amaryll schließlich abwandte. „Ich… ich muss jetzt gehen.“ „Ich weiß.“ Er lächelte wehmütig, denn er hasste lange Abschiede genauso sehr wie sie es tat. Sie sah ihn noch einmal an und schluckte, bevor sie sprach. „Auf Wiedersehen, Iain. Bitte pass auf dich auf.“ „Das kann ich nur zurückgeben. Ich werde jedenfalls auf dich warten.“ Sie nickte und ging dann zur Tür hinaus. Als sie fort war, konnte er nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen liefen, die er jedoch sofort unterdrückte. Stattdessen packte er und machte sich ebenfalls auf den Weg. Mochten die Götter Amaryll und Anareana bewahren! Der Ratssaal war bereits voll, als Amaryll eintraf. Sie konnte sich nicht erklären wie das zustande kam. Sie hatte seit ihrer Ankunft keinen ihrer Kollegen gesehen, aber auf der anderen Seite war sie anderweitig beschäftigt gewesen. Hinzu kam die Tatsache, dass der Palast, auch wenn er nun leerer war, immer noch recht groß war. Die Magier saßen um einen ovalen Tisch herum, hinter ihnen standen stoisch ihre Beschützer. Insgesamt bestand der Magierrat aus zwölf Mitgliedern, die alle aus unterschiedlichen Provinzen kamen. Jeder hatte eine leitende Position an der Akademie der jeweiligen Hauptstadt, denn so wurde gewährleistet, dass nur die Fähigsten einen Platz im Rat innehatten. Außer Amaryll gab es noch eine andere Frau. Sie war schon recht alt, wirkte aber immer noch stolz und kam als Vertreterin der südlichsten Provinz. Ihr Name war Rhiannon Weitblick und war für ihre Strenge bekannt. Amaryll gab einen knappen Gruß in die Runde und war dann auf dem Weg auf dem für sie vorgesehenen Stuhl platz zu nehmen. Alle Blicke folgten ihr und nach ein paar Sekunden Stille meldete sich Revan Tanarus zu Wort – Erzmagier und Leiter des Rates. „Amaryll Gunnarsdottir! Wie kannst du es wagen ohne deinen Beschützer hierher zu kommen?“ Sie wandte sich um. „Mein Beschützer wird nicht kommen. Er ist auf dem Weg zurück nach Jagedal. Ich verspreche jedoch, dass seine Abwesenheit mich in keinster Weise beeinträchtigen wird.“ „Es verstößt gegen den Kodex!“ „Wir leben nun wirklich nicht in einer Zeit, in der es Sinn macht, sich auf irgendwelche Regeln zu versteifen. Ich behaupte, die drohende Invasion ist ein größeres Problem als Iains Fehlen.“ „Gerade in Zeiten des Chaos ist es von größter Wichtigkeit, dass man die Regeln befolgt. Wir müssen weiterhin Geschlossenheit zeigen und dem Volk Mut machen.“ „Ich stimme zu, das Chaos nicht darf überhand nehmen. Aber ich habe diese Entscheidung gründlich durchdacht und bin bereit die Konsequenzen zu tragen. Wäre es nicht ein viel größeres Chaos, wenn Iain hier anwesend wäre, wir jedoch beide später im Kampf um Anareana gefallen wären und meine beiden Söhne zu Vollwaisen geworden wären.“ Ein älterer Magier, den Amaryll nur flüchtig kannte, warf ein: „Wer spricht denn von einem Kampf um Anareana? Soweit es mir bekannt ist, hat der Magierrat nicht zugestimmt…“ „Das genügt!“ Revans Stimme klang durchdringend und duldete keinen Widerspruch. Dann wandte er sich Amaryll zu. „Dein Handeln ist nachvollziehbar. Ich sehe du hast mit Voraussicht gehandelt, um das was kommen mag und die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Ich kann nur hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommt. Setz dich, meine Tochter.“ Sie nickte und tat wie ihr geheißen. Noch immer konnte sie die beißenden Blicke auf sich spüren, ignorierte sie aber. Sie hatte sich Revans Unterstützung versichert, was die anderen davon halten mochten, war irrelevant. Sie war es doch, die Iains Fehlen am schmerzlichsten erfuhr… also war es auch ihre Sache… Sie hatte kaum Zeit gehabt, diesen Gedanken zu Ende zu denken, als sich die große Tür erneut öffnete. Ein würdevoller, älterer Mann trat ein, gefolgt von zwei Soldaten des Reiches. Sie konnte zu Recht annehmen, dass es sich hierbei um König Aran VII. handelte. Amaryll war sich nicht sicher, wie sie seinen Auftritt bewerten sollte. Jeder im Lande hatte von König Aran gehört, dem weisen König, dem milden König, dem würdevollen König. All das mochte auch auf die Gestalt zutreffen, die nun dem Magierrat gegenüberstand, aber in ihren Augen war er nur eines: ein gebrochener Mann. Egal, was jetzt noch geschehen mochte, er konnte nur verlieren, oder anders gesagt, er hatte bereits so viel verloren, dass es keinen Unterschied mehr machte. Er nickte Revan und den anderen zu und nachdem sich das latente Gemurmel im Saal in Stille verwandelt hatte, erhob er die Stimme. „Erzmagier, liebe Ratsmitglieder… ich bin jedem von Euch zu immenser Dankbarkeit verpflichtet, dass Ihr trotz der widrigen Umstände heute hier zusammengekommen seid. Euch allen ist die Situation in der wir uns befinden, wohl bekannt, daher spare ich mir jedwede einleitenden Worte. Ich habe lange gezögert, den Magierrat zusammenzurufen und hoffe, es ist jetzt nicht zu spät, um noch etwas zu unternehmen. Eine Sache dürfte leicht zu erraten sein: Anareana wird angegriffen und wir sind um jede Unterstützung dankbar, die wir bekommen können. Alle hier Anwesenden verfügen über Fähigkeiten, die unserer Verteidigung zugute kommen können. Dennoch kann und will ich niemanden zwingen an einem Kampf teilzunehmen. Jeder sollte die Entscheidung für sich selbst fällen, ob er zur Unterstützung unserer Truppen etwas beitragen möchte, denn ich weiß, dass Magier in erster Linie Gelehrte sind und ihre Kräfte nur selten im Kampf einsetzen.“ Der Lautstärkepegel im Saal stieg, aber das war zu erwarten… Zwar waren die meisten insgeheim davon ausgegangen, dass es zu einer solchen Bitte kommen könnte, waren aber überrascht, als dieser Fall konkret eintrat. Kurze Zeit später brachen die Unterhaltungen ab und alle Augen richteten sich auf Revan. „Majestät, ich danke Euch für das Vertrauen, dass Ihr uns entgegenbringt. Auch wenn diese Bitte möglicherweise etwas kurzfristig kommt, so denke ich, dass fast einstimmig davon ausgegangen werden kann, dass wir unsere Truppen so gut unterstützen, wie es in unserer Macht steht.“ Viele nickten zustimmend, nur einige wenige starrten Revan mit blankem Entsetzen an. Amaryll konnte ihre Blauäugigkeit nicht verstehen. Sie hatten sich alle freiwillig in einen Hexenkessel begeben, den zu verlassen bereits in einigen Stunden mit eindeutigen Schwierigkeiten verbunden sein würde. Als sich die Unruhe wieder einigermaßen gelegt hatte, ergriff der König erneut das Wort. „Nein, ich habe zu danken. Aber genau genommen ist all dies nebensächlich… der eigentliche Grund, warum ich Euch alle kommen ließ ist von „größerer“ Natur. Es geht um die Macht der Alten…“ Entsetztes Aufkeuchen. „…Nur der Magierrat kann mir die Erlaubnis dafür geben. Und um jene ersuche ich Euch hiermit.“ Revan schluckte. Man konnte ihm seine Furcht direkt ansehen, etwas das nicht häufig geschah. „Niemand weiß genau, was passiert, wenn wir diese Macht befreien. Als unsere Vorfahren die Machtquelle damals versiegelten, schworen sie, sie solle niemals wieder geöffnet werden.“ „Und sie hatten recht damit. Große Macht führt über kurz oder lang zur Korrumpierung des Charakters und gerade die Tatsache, dass nur ein Mitglied der königlichen Familie dazu in der Lage ist, führte bereits einmal zum Größenwahn,“ mischte sich Rhiannon Weitblick ein. Aran nickte. „Ich bin mir der Risiken durchaus bewusst, fürchte jedoch, dass diese Macht, so gefährlich sie auch ist, auf lange Sicht unsere einzige Chance ist.“ „Seid Ihr da sicher? Niemand weiß mehr genau, was sie genau bewirkt, immerhin wurden die Aufzeichnungen darüber vernichtet, nachdem man alles versiegelt hatte. Möglicherweise schädigt sie nicht nur die Angreifer, sondern auch uns?“ „Die Möglichkeit besteht, aber auf der anderen Seite basiert alles, was wir wissen auf Legenden und den Inschriften der Alten, die aber bei weitem noch nicht alle entziffert wurden. Was wirklich passiert ist in der Tat ungewiss, aber vermutlich besser, als von den Tamuranern überrannt zu werden.“ Inzwischen schwieg der gesamte Saal. Niemand der Anwesenden war sich im Klaren darüber, was er von der Bitte des Königs halten sollte. Man sah die Logik dahinter, aber eben auch das Risiko. Es stimmte, man wusste nicht mehr viel über die Alten und was es war, bestand größtenteils aus Legenden. Was man wusste, war, dass das Siegel nach vollbrachter Tat in zwölf Teile zerbrochen wurde, von dem jedem Mitglied des Magierrates eines davon zur Verwahrung gegeben wurde. Jeder trug es in einer Kette um den Hals, was ihn als Ratsmitglied auswies. Diese Methode war fast so alt, wie die Menschheit selbst, aber sie garantierte am Zuverlässigsten, dass niemand auf dumme Gedanken kommen konnte. Nun also sollten die Teile nach so vielen Jahren wieder zusammengefügt werden. Revan wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein aufgebrachter Soldat in den Raum stürmte. „Herr, wir werden angegriffen!“ Was daraufhin geschah, daran konnte sich Amaryll später nur noch schemenhaft erinnern. Es ging alles so schnell und war so unwirklich. Ohne Zweifel war die Debatte um die Macht der Alten damit unweigerlich beendet und wurde, so wie es aussah, in naher Zukunft nicht mehr aufgegriffen. König Aran stürmte mit seinen Soldaten aus dem Raum, wohin er ging entzog sich Amarylls Kenntnis. Und auch was der Magierrat tat, war uneinheitlich. Einige stürmten ebenfalls hinaus, andere blieben verzweifelt sitzen, die Panik in ihrem Gesicht geschrieben – und daran konnten auch deren Beschützer nichts mehr ändern. Sie wunderte sich, wie man so kurzsichtig sein konnte. Jeder der hierher kam, hatte mit dem Angriff rechnen müssen, doch schienen es einige verdrängt zu haben. Sie selbst eilte in die Kammer zurück, die man ihr zugewiesen hatte. Als sie die Tür öffnete schien auf den ersten Blick alles so, wie sie es zurückgelassen hatte. Iain war fort, aber auf dem Tisch lagen ein Schwert und ein Brief. Sie nahm ihn hoch und überflog die Zeilen. „Du wirst es brauchen. Pass auf dich auf. Ich liebe dich. Iain.“ Schmerzerfüllt lächelnd legte sie den Brief zurück und schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Stattdessen hob sie das Schwert auf und schnallte es sich auf den Rücken. Sie war hier um ihre Pflicht zu tun, nicht in Sentimentalitäten zu versinken. Zwar waren ihre Kampfkünste nur begrenzt, aber möglicherweise konnte sie sich damit verteidigen – ihre Aufgabe war ja nicht der Angriff. Danach ging sie auf die Knie, kroch unter das Bett und holte von dort eine Ledertasche hervor, die sie vor Iain verborgen gehalten hatte – er hätte es nicht verstanden. Ja, er wusste nun, dass sie blieb, um die Stadt zu verteidigen, aber vermutlich hatte sie es schon länger gewusst. Sie war eine Heilerin, eine Wissenschaftlerin und ihre Kräfte waren das Einzige was sie zur Verteidigung beisteuern konnte. Wie bei jedem Magier, so gingen die Kräfte zur Neige, wenn die Konzentration erschöpft war, etwas das nach einigen Stunden bei jedem passierte. Der Trank den sie sich vorsorglich besorgt hatte und der nun in eben dieser Tasche ruhte, verhinderte genau das – natürlich hatte diese Wirkung ihren Preis, aber hatte nicht alles im Leben einen? Sie schulterte die Tasche, stand auf und rannte aus dem Raum. Kapitel 5: ----------- Perregrin der Jüngere blickte argwöhnisch von der Stadtmauer auf die Ebene. Der Hauptmann hatte im den Befehl gegeben, die Stellung zu halten und zwar um jeden Preis und genau das gedachte er zu tun. Die herannahenden Tamuraner versah er daher gehorsam mit den Bolzen seiner Armbrust, wenn sie der Mauer zu nahe kamen. Natürlich war dies nicht Perregrins erster Einsatz in der Miliz, aber der erste, bei dem so viel auf dem Spiel stand. Er und seine Kameraden taten ihr möglichstes, aber es erschien ihm, als würden für jeden erschossenen Tamuraner zwei folgen. Noch handelte es sich um einfaches Fußvolk, das sich mit Leitern und Enterhaken Zugriff zu verschaffen suchte, doch in der Ferne konnte er schon gewaltige Belagerungsmaschinerie auffahren sehen. Zwei Katapulte und einen Rammbock sah er mit Sicherheit, aber in der gewaltigen Menschenmasse, die sich der Stadt näherte, konnte sich ohne weiteres noch mehr verbergen. Der strahlende Sonnenschein dieses Tages schien sie alle zu verhöhnen – wenn der Abend dämmerte würden sie alle in Blut versinken. Zwei seiner Kameraden waren bereits feindlichen Pfeilen zum Opfer gefallen – er selbst dachte nicht daran, dass ihm das passieren könnte. Für ihn gab es nur seine Armbrust und den Gegner. Sosehr in Konzentration versunken bemerkte er nicht, wie die Zeit verstrich. Erst ein Beben des Bodens holte ihn in die Realität zurück – der Rammbock hatte die Stadttore erreicht! Die Verteidigung von Anareana bestand aus einer Stadtmauer mit dem Haupttor, das nun natürlich unter Hauptbeschuss stand. Danach folgten noch ein äußerer und ein innerer Ring, die noch einmal länger standhalten konnten. Inmitten alledem ruhte der Palast. So gesehen war es noch nicht der Untergang der Stadt, wenn sie die Stadttore einnahmen – es war aber eine eindrucksvolle Demonstration ihrer Macht. Überall schrieen seine Kameraden: „Die Tore!“ „Es sind zu viele!“ „Nehmt Flammenpfeile!“ und obwohl es Perregrin fern lag, sich von der Panik mitreißen zu lassen, so gelangen ihm doch weniger Treffer als zuvor. Unvermittelt berührte ihn eine Hand an der Schulter und überrascht drehte er sich um. Er blickte in die glasigen Augen einer Frau. Sie wirkte nicht wie eine Soldatin, obwohl sie ein Schwert auf dem Rücken trug und in eine Lederrüstung gekleidet war. Ein Blick auf die Tätowierung ihrer Hände wies sie als Magierin aus. Sie wirkte wie ihn Trance, weswegen er sich nicht getraute, sie anzusprechen. Was er aber spürte, war, wie in ihm die Lebensgeister erwachten und sein Mut zurückkehrte. Als dies geschehen war, ließ sie von ihm ab und wandte sich seinen Kameraden zu. „Danke,“ flüsterte er. Hätte er früher gewusst, dass auf die Mitglieder des Magierrats an ihrer Seite kämpften, so hätte er nicht so schnell resigniert. Zufrieden lud er seine Armbrust nach. Trotz ihrer Trance hatte Amaryll die Erschütterung gespürt. Das Stadttor war unter Beschuss. Natürlich passierte das früher oder später bei jeder Belagerung, dennoch hatte sie gehofft, dass es nicht so schnell geschah. Sie musste den Soldaten Zeit verschaffen, das war das Wichtigste, aber nicht bevor sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt hatte. In einem entlegenen Winkel ihres Bewusstseins spürte sie zwar, wie ihre Kräfte langsam und stetig nachließen, aber dafür hatte sie nun einfach keine Zeit. Sie war nicht hierher gekommen, um sich auszuruhen. Sie zog das Schwert aus der Scheide auf ihrem Rücken und rammte es mit aller Kraft in den Boden, dann konzentrierte sie sich auf das Metall in ihrer Hand – den Griff, die Klinge, die Steine. Die Energie kroch Platten entlang, bis sie jeden der Soldaten erreicht hatte. Heilung, Mut, Inspiration – diese Männer kämpften an der Front, sie durften nicht fallen. Amaryll wartete ab, bis sie wusste, dass jeder von ihrer Heilung profitiert hatte, dann unterbrach sie die Verbindung. Als sie das Schwert aus dem Boden zog, registrierte sie am Rande, dass sie schwankte. Ja, die Soldaten so zu heilen hatte sie mehr Kraft gekostet, als jeden einzelnen zu berühren, aber die Zeit lief ihr davon. Deswegen lief sie so schnell sie konnte zu den Toren. Sie nahm war, dass bereits zwei andere Mitglieder des Magierrates dort waren und das Tor mit ihren Kräfte verstärkten, also gesellte sie sich einfach dazu und lieh ihnen auch noch ihre Fähigkeiten. Sie war nicht in der Lage das Holz direkt zu berühren also ließ sie ihren Geist wandern, suchen, bis er das Tor gefunden hatte. Dann versuchte sie direkt in die Materie einzudringen, eins zu werden mit jeder Faser. Das bedeutete, jeder Muskel von ihr bekam die Erschütterung unmittelbar mit, aber es bedeutete ebenfalls, dass das Tor vorerst nicht zu zerbrechen war – zumindest in der nächsten Zeit, bis ihrer aller Kräfte nachließen. Tam Jardin runzelte die Stirn. Als stellvertretender Kommandant der königlichen Truppen trug er die Verantwortung für den Verlauf der Schlacht. Er war sich nicht sicher, ob er dem gewachsen war. Momentan hatte er ein temporäres Truppenquartier am Fuße des Palastes bezogen und saß an einem notdürftig zusammengezimmerten Tisch, auf dem eine rudimentäre Karte der Stadt ausgebreitet lag. Mit Figuren hatte er versucht, die Lage an der Front nachzustellen, um im Notfall reagieren zu können. Von Zeit zu Zeit kamen Soldaten hereingeeilt, um ihm die eine oder andere Veränderung im Geschehen mitzuteilen. Wie es aussah, versuchte der Feind immer noch das Stadttor zu zerstören und scheiterte nach wie vor am Widerstand der Magier. Zunächst war Jardin skeptisch gewesen, magisch Begabte an der Schlacht teilnehmen zu lassen. Novizen ermüdeten zu schnell und waren deshalb nur begrenzt einsatzfähig, Lehrlinge und Ausgebildete waren schon lange ein Teil der Truppen und wurden, je nach Schwerpunkt ihrer Kräfte zur Heilung, Attacke oder als Spähtrupps eingesetzt. Obwohl sie den anareanischen Truppen auf den ersten Blick einen Vorteil verschaffen sollten, hatte es in keiner der bisherigen Schlachten so funktioniert, wie geplant. Zumeist waren ihre Kräfte zu schnell aufgebraucht oder sie waren gar nicht erst in der Lage gewesen sich zu konzentrieren. Wie es mit den Mitgliedern des Rates aussah, wusste er hingegen nicht. Es war aber anzunehmen, dass sie stärker waren als gewöhnliche Gildenangehörige. Dass man sie erst jetzt einsetzte, war hingegen verständlich, immerhin gehörten sie zu den am meisten geachteten Persönlichkeiten des Landes und waren niemand, dem man einfach so befehlen konnte zu kämpfen. Wenn er richtig informiert war, so nahmen auch längst nicht alle zwölf Ratsmitglieder an der Schlacht teil, er hoffte nur, dass die, die es taten, in der Lage waren, den Spieß umzudrehen. Er riss sich aus seinen Gedanken los, stand auf und versuchte einen direkten Blick auf die Kampfhandlungen zu bekommen. Den Lärm konnte er hören, aber es gab kaum etwas zu sehen. Er seufzte, blieb dennoch stehen – und wartete. „Sie haben das Tor magisch verstärkt!“ Sairen Donnerbolzen, Kommandant der tamurischen Angriffstruppe an der Front, lächelte fast gelangweilt, als ihm ein panischer Soldat diese Neuigkeiten brachte. „Natürlich haben sie das. Sie sind verzweifelt. Wenn das Tor fällt, dann fallen auch sie.“ „Aber Sir, sie setzen Magie ein! Wir haben keine Magie.“ „Und warum haben wir keine Magie? Sie ist böse und lenkt von den eigentlichen Zielen ab. Sieh dir diese schwachen Anareaner an. In jedem Kampf haben sie Magie eingesetzt und hat es ihnen etwas gebracht? Nein. Letzten Endes haben sie alle vor uns zitternd im Staub gelegen. Was haben wir stattdessen? Unsere Köpfe, unsere Muskelkraft. Damit bringt es ein Mann viel weiter, anstatt sich auf irgendeinen Hokuspokus zu verlassen.“ „Ihr habt natürlich recht, Sir. Dennoch versuchen unsere Männer seit über zwei Stunden verzweifelt das Tor zu zerschlagen, ohne ihm einen Kratzer zugefügt zu haben, während sie von oben abgeschossen werden, wie die Ratten. Eine solche Situation gab es bislang nicht.“ „Es gehört zu einer guten Schlacht dazu, Herausforderungen gestellt zu bekommen. Ich sage es noch einmal, sie sind verzweifelt. Wer ihnen das Tor verstärkt, das dürften die besten Magier im ganzen Reich sein. Es gibt nicht allzu viele davon und irgendwann werden sie ermüden. Aber ihr habt Recht – unsere Männer müssen nicht unnötig sterben. Wenn sie es unbedingt wollen, müssen wir eben härtere Saiten aufziehen. Ist das Katapult einsatzbereit?“ „So gut wie, weswegen fragt ihr?“ „Weil es eine Möglichkeit ist, ihren Widerstand zu brechen.“ „Verzeiht, wenn ich nicht verstehe.“ Sairen seufzte. Er fühlte sich heute großzügig, deswegen ließ er sich dazu herab, dieser kleinen Kröte seinen Plan zu erklären. Wer wusste schon, was der Mann weitergab? Vielleicht hob es sogar die Moral der Männer. Außerdem gab es ihm die Möglichkeit seine intellektuelle Überlegenheit zu beweisen. „Wir könnten natürlich Munition über die Stadtmauern schießen und hoffen, ein paar der Magierlein zu treffen, aber das würde nicht funktionieren. Wir wissen nicht, so sie stehen. Deswegen werden wir sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Um das Tor zu verstärken, müssen sie eins mit der Materie werden, was bedeutet, alles was das Tor spürt, spüren auch sie. Ein paar Erschütterungen mit dem Rammbock halten sie locker aus, aber was wird wohl passieren, wenn wir dem Tor richtig Schmerzen zufügen?“ „Das ist brillant, Sir. Aber woher wisst Ihr soviel über ihre Techniken?“ „Man muss den Feind kennen. Aber genug davon. Gebt Befehl, das Katapult mit allerlei spitzen Gegenständen zu beladen und damit das Tor zu beschießen. Desweiteren sollen die Männer mit Flammenpfeilen arbeiten und zudem versuchen, die Mauern auch anderweitig einzunehmen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns auch dieser Sieg gehört!“ „Zu Befehl, Herr!“ Als der Soldat gegangen war, lächelte Sairen siegesgewiss. Sie würden fallen und wenn dieser Moment kam, würde er dabei sein! Kapitel 6: ----------- Und gerade war der nächste gefallen. Voller Sorge schüttelte Perregrin den Kopf. Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, seitdem er die Auffrischung erhalten hatte. Nachdem die Magier das Tor verstärkten, hatte er wirklich geglaubt, sie würden es schaffen. Nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Seine Bolzen und seine Kameraden wurden weniger und zwei der Magier waren bereits zusammengebrochen. Zwar wurden sie durch andere ersetzt, aber es war abzusehen, dass auch ihre Vertreter nicht ewig durchhalten konnten. Zumal keiner der Zusammengebrochenen bisher wieder aufgestanden war. Andere hingegen hielten sich standhaft. Dazu gehörte auch die Frau, die Perregrin geheilt hatte. Er fragte sich, ob es etwas mit dem Trank zu tun hatte, den sie von Zeit zu Zeit einnahm. Denn auch, wenn sie weiterhin stand, so wurde sie doch schwächer. Inzwischen war sie in die Knie gegangen, genau wie ihre Kollegen. Er konnte nur erahnen, welche Kämpfe diese Menschen ausfochten und er wollte sie so gut es ging unterstützen. Dann sah er das Katapult… Zunächst wunderte sich Perregrin über das Verhalten der Tamuraner. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie nun dazu übergingen, die Stadt wahllos zu bombardieren, Bauwerke zu zerstören oder gar Soldaten und andere zu treffen. Dann fiel ihm ein, dass man dafür normalerweise mehr als ein Katapult benutzte. Am Horizont zeichnete sich zwar bereits Verstärkung in Form von schneller näher kommenden Belagerungswaffen ab, aber damit wurde Perregrin klar, dass dieses Katapult eine andere Funktion hatte. Er hörte einen Befehlshaber brüllen: „Wenn ihr noch Feuerpfeile habt, beschießt das Katapult!“, aber da dies auf ihn nicht zutraf, versuchte er stattdessen die Menschen zu treffen, die das Gerät bedienten. Leider schoss er häufig daneben. Es stellte sich als unmöglich heraus, die Tamuraner davon abzuhalten, das Katapult in Gang zu setzen. In Windeseile jagte es Schwerter, Speere, Messer und andere Waffen mitten in das Holz des Stadttors. Bevor Perregrin aufgrund dieser unnützen Aktion laut auflachen konnte, sah er wie einer der Magier zusammenbrach. Darauf hatten sie es also abgesehen. Oh nein! Amaryll spürte, wie sich tausende kleiner Spitzen in ihr Bewusstsein bohrten. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Tamuraner die Schwachstelle des Tors entdeckt hatten, aber sie hatte gehofft, dass sie weniger brutal vorgingen. Viele ihrer Kollegen waren bereits in die Knie gegangen und sie wusste, sie würde ebenfalls nicht mehr lange durchhalten. Einen kurzen Augenblick überlegte sie, die Verstärkung des Tores sein zu lassen und sich besser anderen Dingen zuzuwenden. Dadurch ließ sie ihre Deckung für einen kurzen Moment fallen. Erst als sich der Schmerz in ihr Bewusstsein grub und von ihr Besitz ergriff, erkannte sie, dass ein Fehler gewesen war. Aber dann wurde auch schon alles schwarz um sie, als sie zusammenbrach. Ich habe versagt! Sairen beobachtete voller Genugtuung wie das Stadttor zerbarst! Nun dürfte es eine Kleinigkeit sein, die Stadt einzunehmen. Auch die Magier stellten keine Bedrohung mehr dar, die meisten von ihnen waren durch die Zerstörung des Tores ausgeschaltet. Es lief alles nach Plan. „Zum Angriff!“ brüllte er und genoss den Anblick seiner Männer, die die Stadt stürmten. „Das Stadttor ist gefallen!“ Der Soldat brachte Tam Jardin keine Neuigkeiten. Er hatte das berstende Holz bis hierher hören können. „Und die meisten Magier auch!“ „Ich wusste es! Wir hätten uns nicht auf sie verlassen dürfen!“ „Sie haben tapfer gekämpft, Herr – und uns wertvolle Zeit erkauft. Immerhin konnten bereits einige der Angreifer an der Stadtmauer ausgeschaltet werden.“ „Leider sind immer noch genügend übrig. Und nun werden sie in die Stadt einmarschieren. Gebt meinen Befehl weiter: Unsere Truppen sollen sich zurückziehen und versuchen den Boden, so gut es geht zu halten. Versucht nicht, verlorenes Land zurückzuerobern, sondern kümmert euch lieber darum, dass sie kein neues einnehmen!“ Der Mann nickte und eilte dann davon. Resigniert schob Tam die Figuren auf seiner Modellkarte um und schüttelte dann den Kopf. Der Soldat sah bereits so schmutzig und abgekämpft aus, dass es keine Hoffnung mehr gab. Er hoffte mit seinen Befehlen noch so viele Männer wie möglich zu retten, aber ein Sieg war nicht mehr einzuholen. „Neeeeeeeein!“ Perregrin war überrascht seine eigene Stimme zu hören. Das Holz war zerbrochen und nun schwärmten sie in die Stadt. Er lud seine Armbrust nach und versuchte so viele Angreifer wie möglich zu töten, doch dann gingen ihm seine Bolzen aus. Kurz darauf ertappte er sich dabei, zu den gefallenen Magiern zu laufen und das obwohl sein Kommandant brüllte, dass alle beisammenbleiben sollten. Es waren zwar schon Soldaten vor Ort, die versuchten die Bewusstlosen aus der Schusslinie zu befördern und möglicherweise wieder aufzuwecken, aber irgendwie fühlte sich Perregrin den Magiern zusehr verbunden, als dass er diese Aufgabe alleine den anderen überlassen wollte. Ohne groß darüber nachzudenken, ergriff er einen leblosen Körper, schulterte ihn und rannte damit die Stadtmauer entlang, so schnell er konnte. Er musste irgendwo einen sicheren Platz suchen. König Aran stand am Fenster seines Palastes und betrachtete das Treiben unter sich. Auch wenn er keine Referenz hatte, so erkannte er doch am Stand der Sonne, wie viel Zeit bereits verstrichen war. Als die Abenddämmerung einsetzte, wusste er, dass sein Schicksal unabwendbar war. Die Hälfte der Stadt brannte bereits, die Einwohner wurden auf die Straße getrieben und die Soldaten abgeschlachtet. Er konnte das Blut sogar von hier aus sehen und der Geruch von verbrannten Leichen stieg ihm ebenfalls in die Nase. Ja, der Magierrat war eine schöne Idee gewesen und auch die Macht der Alten. Aber nun war es zu spät. Anareana war gefallen. Perregrin zitterte noch immer. Es war zwar schon einige Stunden her, dass er Unterschlupf in einer alten Scheune gesucht hatte, aber was draußen vor sich ging, das hörte er sehr wohl. Auf der einen Seite fühlte er sich schuldig, sich aus dem Kampfgeschehen zurückgezogen zu haben, aber auf der anderen Seite galt seine gesamte Pflege der verletzten Person neben ihm. Er hatte erst, nachdem er die Scheune gefunden hatte, bemerkt, dass es sich hierbei um die Frau handelte, die ihm beigestanden hatte. Von Zeit zu Zeit strich er mit einem wassergetränkten Stofffetzen über ihr Gesicht, doch bisher hatte sie nicht die geringste Regung gezeigt, sah man von dem Nasenbluten ab, das er nur mühsam zum Stillstand gebracht hatte. Dennoch wusste er, sie war nicht tot und er wollte alles in seiner Macht stehende tun, um sie wieder aufzuwecken. Teils geschah dies aus Dankbarkeit für ihre Hilfe, aber ein kleiner Teil in ihm hoffte, die Magierin vermochte noch irgendetwas zu tun, um das Ruder herumzureißen. Vielleicht waren seine Erwartungen zu hoch gegriffen, aber er brauchte einen Hoffnungsschimmer, an den er sich klammern konnte. Vorsichtig schichtete er das um ihn herumliegende Stroh um, damit er bequemer saß, während er ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt hatte. Von Zeit zu Zeit wagte er einen Blick nach draußen, aber was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Brennende Häuser, schreiende Menschen, Leichen, Feuer, Gestank, Gewalt... Es wunderte ihn, dass man ihn bisher nicht entdeckt hatte, aber er war nicht undankbar darüber. Stattdessen trieb ihm das Gesehene Tränen in die Augen. Er hatte sich immer für stark und hart gehalten, doch nun musste er schmerzlich erkennen, all dies war nur jugendlicher Übermut gewesen. Er wusste nicht einmal, ob seine Familie noch am Leben war, geschweige denn seine Verlobte. Um diese Gedanken zu vertreiben, wandte er sich wieder der Bewusstlosen zu. Er überlegte, ob er noch genügend Wissen aus seiner Ausbildung zusammenkratzen konnte, um einen Heilzauber anzuwenden. Es war ihm immer schwergefallen, sich zu konzentrieren und die nötige Energie zu fassen zu bekommen, um den Zauber in die Wege zu leiten. Insgeheim hatte er immer gehofft, niemals darauf zurückgreifen zu müssen und nun war er genau in dieser Lage und es gab niemanden, der ihm helfen konnte. Er versuchte mehrmals, seinen Kopf freizubekommen, auf die Magie zugreifen zu können, aber es gelang ihm einfach nicht. Schließlich gab er resigniert auf und versuchte es mit konventionelleren Mitteln. „Wach auf, bitte wach auf!“ flüsterte er verzweifelt. Er wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, aber es war definitiv zu viel. Die Frau rührte sich nicht. Kapitel 7: ----------- Voller Genugtuung ebnete Sairen Donnerbolzen seinen Generälen den Weg zum Palast. Die Schlacht war härter gewesen, als die vorhergehenden, aber sie hatten so gut wie gewonnen und das war die Hauptsache. Immerhin hatten sie hier um die Hauptstadt gekämpft, es war nur natürlich gewesen, dass die Herausforderung größer war. Und Sairen liebte Herausforderungen. Als sie die königlichen Gemächer stürmten, war er ganz vorne mit dabei. Und sehr überrascht obendrein: er hatte sich einen starken König vorgestellt und alles, was er erblickte, war ein jämmerlicher Greis, der keinerlei Widerstand bot. Wie als hätte er mit all dem gerechnet, blieb er still stehen und ließ all den Spott der Tamuraner über sich ergehen. Er wusste wohl, dass er nicht mehr allzu lange leben würde... Inzwischen war es Nacht geworden. Zitternd kauerte sich Perregrin an den Körper neben sich. Er war warm und doch leblos. Einige Male hatte er schon überlegt, einfach fortzugehen und die Frau ihrem Schicksal zu überlassen und jedes Mal war er davor zurückgeschreckt. Inzwischen war klar, sie würde das Ruder nicht mehr herumreißen können, aber sie einfach liegen zu lassen wäre Mord. So saß er neben ihr und versuchte die Kühle der Nachtluft zu vertreiben. Der Mond warf ein fahles Licht durch das Fenster der Scheune, aber es reichte kaum für eine ausreichende Beleuchtung. Da er nichts weiter tun konnte als warten, presste er sich an die Frau, in der Hoffnung, ein wenig Wärme abzubekommen und schloss die Augen. Irgendwann verschwand auch der Lärm aus seinem Bewusstsein und er nickte ein. Schwere Schritte und sowohl der Geruch als auch der Lichtschein einer Fackel ließen ihn wieder aufschrecken. Der Mond schien nicht mehr durch das Fenster, also war wohl eine gewisse Zeit vergangen. Dennoch machte Perregrin keine Anstalten sich zu bewegen. Die Fremden sollten ruhig denken, er schlafe oder sei tot, vielleicht gingen sie dann wieder. Immerhin wiesen ihre Uniformen sie als Tamuraner aus und er hatte keine große Lust auf eine Begegnung mit ihnen. „Was haben wir denn hier?“ fragte einer von ihnen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ein kleines Liebesnest. Manche Menschen haben einfach keine Scham!“ „Sei kein Idiot, sie sind beide bekleidet und bewaffnet und wenn mich nicht alles täuscht, ist das Weib eine Magieanwenderin, siehst du nicht ihre Tätowierungen?“ „Du hast recht...“ In Perregrin krampfte sich alles zusammen. Warum verschwanden sie nicht einfach? „Sind sie tot?! „Sieht mir nicht danach aus...“ „Was machen sie dann hier?“ „Wahrscheinlich geflohen oder etwas ähnliches...“ „Und was sollen wir mit ihnen machen?“ „Töte sie. Vor allem das Weibsbild. Unsere Befehle lauten, alle Magier auszurotten!!“ Nun konnte sich Perregrin nicht weiter verstellen. Er öffnete die Augen erneut und sah sich drei kräftigen Männern gegenüber, denen er im Nahkampf nicht einmal ansatzweise gewachsen war. Dennoch sprang er auf und zog sein Schwert bevor er sich schützend vor die Magierin stellte. „Nur über meine Leiche!“ „Wie niedlich, er versucht sie zu schützen. Weißt du was, Kleiner? Wir kommen deinem Wunsch gerne nach!“ Wie auf Kommando zogen alle drei Männer gleichzeitig ihre Waffen und kamen auf Perregrin zu. Er fragte sich, wo die Fairness blieb. Jeder einzelne von ihnen war ihm überlegen und trotzdem griffen sie ihn zugleich an. Er versuchte dem Hieb des Ersten auszuweichen und diesem stattdessen selbst eine Verletzung zuzufügen. Überrascht stellte er fest, dass ihm das Manöver geglückt war, doch bevor er zu einem weiteren Schlag oder der Parade eines weiteren Angriffs ausholen konnte, traf ihn eines der feindlichen Schwerter an der linken Schulter. Sofort spürte er Blut aus der Wunde austreten, versuchte aber den Schmerz zu ignorieren und sich stattdessen auf die Angreifer zu konzentrieren. Er konnte nicht gewinnen und die Gründe für seinen Kampf waren ebenfalls zweifelhaft. Doch nun befand er sich einmal in dieser Situation und versuchte zumindest mit wehenden Fahnen unterzugehen. Einer der Männer packte ihn und stieß ihn zurück ins Heu. Perregrin entwich ein gedämpftes Stöhnen. Die Welt um ihn herum war plötzlich komplett verdreht und ehe er sich versah, sauste bereits eine Klinge auf ihn nieder. Im letzten Moment rollte er sich auf die Seite, berührte damit aber seine verletzte Schulter und stöhnte erneut auf. Der Schmerz trieb ihm Schweiß ins Gesicht. Verzweifelt versuchte er sich wieder aufzurichten, glitt aber immer wieder ab und verlor schließlich auch sein Schwert. Jetzt ist es aus! Er kniff die Augen zusammen. Was er hörte war das Klirren von Waffen und sich nähernde Schritte, dann ein Zischen und dann Stille. Er war noch nicht tot. Langsam öffnete er die Augen erneut und erblickte seinen Angreifer der überrascht auf die abgeschmorte Klinge seines Schwertes blickte. Perregrin drehte sich um und sah, dass die Frau aufgewacht war. Sie lag zwar immer noch im Heu, es war aber eindeutig, dass sie die Waffe zerstört hatte. „Verschwindet!“ zischte sie, „Oder ich zeige euch, wozu ich wirklich fähig bin!“ Einer der Männer machte mit seiner noch intakten Klinge einen waghalsigen Schritt auf sie zu. „Das wollen wir sehen!“ Aber derjenige, dessen Schwert nur noch aus einem verkohlten Rest bestand, hielt ihn zurück. „Lass es gut sein! Wir hätten sie töten sollen, als wir die Chance hatten. Verschwinden wir lieber!“ Mit offenem Mund sah Perregrin die Männer davonlaufen, dann sank er geschlagen ins Heu zurück. Es raschelte, dann stand die Magierin über ihm. Sie ging in die Knie und berührte seine Schulter. Wärme und eine greifbare Manifestation von Licht durchströmte ihn und nahm ihm den Schmerz. „Danke,“ stöhnte er und rieb sich instinktiv die Schulter. Die Frau senkte den Blick. „Ich habe zu danken. Ohne Euch, wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben.“ „Ohne Euch hätte ich nicht einmal ansatzweise so lange standgehalten. Es war furchtbar Euch fallen zu sehen.“ „Sie haben einen Weg durch unsere Verteidigung gefunden, sowohl physisch, wie auch mental. Wie steht es um die Stadt?“ Tränen stiegen Perregrin ins Gesicht. „Sie ist gefallen.“ „Der König?“ „Ich weiß es nicht.“ „Ich muss es wissen!“ Sie versuchte aufzustehen, aber selbst im Dunkeln bemerkte Perregrin, dass sie schwankte. „Ihr müsst Euch ausruhen. Seht Ihr nicht, wie ausgezehrt Ihr seid?“ „Nebensächlich!“ Sie tastete auf ihren Rücken und stellte befriedigt fest, dass ihr Schwert noch an seinem Platz war. „Wo ist meine Tasche?“ „Ich habe sie nicht mehr gesehen!“ Sie nickte. „Ich hätte es mir denken können. Aber es muss auch ohne gehen...“ Perregrin hielt sie fest. „Ihr seid zu geschwächt. Dort draußen herrscht noch immer Krieg. Außerdem wollen sie alle Magier töten. Ihr werdet nicht lange überleben!“ „Ich kann auf mich aufpassen. Ich muss wissen, was mit dem König passiert ist!“ „Erlaubt wenigstens, dass ich Euch begleite?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihr seid noch ein Kind. Flieht, solange Ihr noch könnt. Ich will nicht für Euren Tod verantwortlich sein!“ Perregrin seufzte. Einen Moment lang dachte er darüber nach, ihr zu widersprechen. Doch dann ließ er es bleiben. Sie war ein Ratsmitglied und wer war er, dass er ihr widersprach? „Darf ich wenigstens den Namen meiner Retterin erfahren?“ Sie zögerte einen Moment. „Im Verlauf der Geschichte wird mein Name Schall und Rauch sein, aber da er für Euch von Bedeutung ist, werde ich ihn Euch nennen. Ich bin Amaryll Gunnarsdottir.“ „Man nennt mich Perregrin den Jüngeren... Alle hatten gehofft, ich käme nach meinem älteren Bruder, aber leider ist dem nicht so.“ Sie lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ihr seid gut so, wie Ihr seid. Lasst Euch von niemandem etwas anderes einreden!“ Dann verschwand sie in die Dunkelheit. Perregrin blickte ihr nach. „Amaryll Gunnarsdottir...“ murmelte er. „Mögen die Götter Euch segnen...!“ Kapitel 8: ----------- Als sie außer Sichtweite des jungen Mannes war, lehnte sich Amaryll an einer Hauswand und sank zu Boden. Er hatte recht gehabt: sie war am Ende ihrer Kräfte und konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Aber sie wollte um keinen Preis, dass jemand anderes als Iain sie jemals in einem solchen Zustand sah. Noch immer taten ihr alle Gliedmaßen von dem Angriff aus das Tor weh. Es hatte sich angefühlt, als hätte man sie selbst in Stücke gerissen und umso überraschter war sie gewesen, dass sie in einem Stück aufgewacht war. Dennoch wirkten ihre Gliedmaßen noch immer nicht, als wären sie am richtigen Platz. Sie versuchte mit ihren Heilkräften etwas gegen das Gefühl zu unternehmen, stellte aber überrascht und ein wenig schockiert fest, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Es war alles aufgebraucht. Sie hatte die Tamuraner eiskalt angelogen – sie wäre zu nichts mehr fähig gewesen. Trotzdem hatte es sie überrascht, dass man ihr diese Lüge einfach abgenommen hatte. Von Nachteil war dies jedoch gewiss nicht. Sie wartete noch einige Momente, bis sie sich einigermaßen erholt hatte, um sich ein sicheres Nachtquartier zu suchen. Dann stand sie langsam auf und wanderte durch die dunklen Straßen. Sie war am Ende ihrer Kräfte und darum froh, dass niemand sie bemerkte oder gar aufhielt. Die auf der Straße liegenden Leichen und die aus der Ferne kommenden Geräusche erinnerten sie daran, dass längst nicht alles ausgestanden war. Ein verlassen aussehendes Haus am Ende der Straße erregte schließlich ihre Aufmerksamkeit. Nachdem sie feststellen konnte, dass sich tatsächlich niemand mehr darin aufhielt, entschied sie sich zu bleiben. Sie öffnete die Tür und betrat das Gebäude. Es wirkte recht hektisch verlassen und was mit seinen Bewohnern geschehen war, mochte sie sich gar nicht erst ausmalen. Dennoch war es momentan die angenehmste Bleibe, die ihr zur Verfügung stand. Nachdem sie das Schlafzimmer gefunden hatte, sank sie auf das Bett und wurde augenblicklich vom Schlaf übermannt. Ein Sonnenstrahl, der ihr ins Gesicht fiel, weckte sie erst Stunden später. Es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff, wo sie war und was geschehen war. Das taube Gefühl ließ langsam nach, aber ihre Kräfte hatten sich immer noch nicht regeneriert. Sie stand langsam auf und sah sich im Zimmer um. Es handelte sich um einen schlicht ausgestatteten Raum mit zweckmäßigen Möbeln. Neben dem Bett stand ein Krug mit Wasser, den sie benutzte, um ihren Durst zu löschen. Das war das einzige, was sie den unbekannten Besitzern wegnahm, auch wenn sie ein leichtes Hungergefühl verspürte. Stattdessen rückte sie ihre Rüstung zurecht und machte sich auf den Weg. Was war mit dem König geschehen? Und was mit seinem Plan? Vermutlich war inzwischen alles zu spät, aber sie wollte sehen, was sich machen ließ... Im Gegensatz zum Vorabend, waren die Straßen der Stadt wieder bevölkerter, was sie sofort bemerkte, als sie aus der Tür trat. Die Besitzer des Hauses waren immer noch nicht zurückgekehrt und vermutlich würde das auch so bleiben. Die meisten der Passanten waren tamuranische Soldaten, die versuchten, die eroberte Stadt unter Kontrolle zu bringen, aber es gab auch den einen oder anderen Zivilisten. Etwas gemeinsam hatten aber alle: die Leere im Blick und die Gehetztheit. Die Zivilisten wollten die Aufmerksamkeit der Tamuraner nicht auf sich ziehen, froh bis jetzt überlebt zu haben. Und wenn es Amaryll sich recht überlegte, dann wollte sie es ihnen gleich tun. Sie beeilte sich, in eine dunkle Seitenstraße zu kommen und sah dann an sich herab. So wie sie momentan gekleidet war, würde sie dies auf alle Fälle tun. Sie trug eine Rüstung, die eindeutig anareanisch war und hatte ein Schwert auf dem Rücken. So würde sie keine Stunde überleben, wenn man sie entdeckte. Einen Moment überlegte sie, wie sie dieses Problem lösen konnte, dann fielen ihr die Leichen ein. Mehrere davon hatten Umhänge getragen und die brauchten sie gewiss nicht mehr. Ein Umhang würde ihre Kleidung verdecken, denn die Rüstung wegzuwerfen und sich wie eine Zivilistin zu kleiden kam nicht in Frage. Sollte sie versuchen das Schicksal des Königs in Erfahrung zu bringen, schloss sie Kampfhandlungen nicht ganz aus. Auch wenn es sie im ersten Moment große Überwindung kostete, einem Toten, ein Kleidungsstück abzunehmen, so gelang es ihr doch, sich dazu durchzuringen. Sie hatte Glück, nicht dabei gesehen zu werden und noch mehr Glück, dass der Umhang groß genug war, ihr Aussehen zu verbergen. So getarnt stürzte sie sich in das größere Menschengewühl. Überall waren die Auswirkungen der Schlacht noch zu sehen, aber es war ebenso eindeutig, dass die Scharmützel vorüber waren. Die Tamuraner waren allgegenwärtig und bis auf den jungen Perregrin war ihr kein Angehöriger das anareanischen Militärs begegnet. Vermutlich waren die Soldaten bereits alle tot oder Gefangene, ein Schicksal, das die anderen Ratsmitglieder vermutlich teilten. Sie hatte wenig Hoffnung, dass noch einer von ihnen am Leben war, zumindest von denjenigen, die am Kampf teilgenommen und das Tor verstärkt hatten. Aber wie bei allem anderen, war auch ihr Schicksal ungewiss. Viele der Zivilisten versuchten zu retten, was von ihrer einstigen Heimat übrig war. So gut wie jeder von ihnen hatte entweder Hab und Gut oder Angehörige oder sogar beides verloren, doch sosehr es Amaryll schmerzte, diese Menschen leiden zu sehen, sie konnte es nicht verantworten, ihnen beizustehen. Entferntes Gemurmel und Geräusche die auf eine größere Menschenmenge hindeuteten, machten sie aufmerksam und sie eilte in Richtung des Lärms, der aus Richtung des Palastes kam. Tatsächlich begegneten ihr recht bald die ersten Ausläufer einer großen Versammlung. Empörung und Angst war den meisten Anwesenden anzumerken, aber genauso wenig traute sich jemand, zu protestieren. „Wie können sie es nur wagen...!“ „Die Demütigung...“ „Das hat er nicht verdient...“ „Unser armer König... wenn man nur etwas tun könnte...“ Der König! Natürlich! Es ergab alles Sinn. Warum sollten die Tamuraner König Aran in seinem Palast still hinmeucheln lassen, wenn sie ihn stattdessen öffentlich hinrichten und damit ein Exempel statuieren konnten? Kapitel 9: ----------- Der Richtplatz war König Aran immer zuwider gewesen und an jenem Tag, der vermutlich auch der letzte seines Lebens war, erkannte er endlich, warum er diese Stätte so hasste. Man hatte sie unterhalb des Palastes errichtet, damit Straftäter immer das Gefühl hatten, der König wache über sie. In Wahrheit hatte Aran die Todesstrafe nie befürwortet, seine Minister hingegen hatten darauf bestanden, dass das Volk etwas derartiges brauche. Er hatte nie widersprochen. Nun stand er selbst auf jenem Holzpodest, vor ihm der unvermeidliche Hackklotz. Und er konnte verstehen, wie sich die armen Verurteilten fühlen mussten. Sie boten einer ganzen Menge Belustigung, wurden vor ihrem Tode also öffentlich gedemütigt. Zwar fragte sich Aran, inwieweit seine Anwesenheit irgendjemanden außer den Tamuranern belustigte, aber er wusste ganz genau, welche Wirkung sie auf seine Untertanen haben würden. Sie wurden noch einmal besiegt, wenn sie ihr gekröntes Haupt fallen sahen. Nachdem die Tamuraner ihn in seinem eigenen Palast gefangen genommen hatten, hatten sie ihn die Nacht über eingesperrt und ihn verspottet. Nun wollten sie beenden, was sie angefangen hatten und das Blut, das sie dafür vergossen, war das seinige. Jorin war in Sicherheit und das alleine zählte. Aran selbst wollte dem Tod gefasst ins Auge sehen, auch wenn der vor ihm aufragende, blutgetränkte Holzklotz nicht dazu beitrug. Dennoch, diesen Gefallen wollte er den Tamuranern einfach nicht gewähren. Er würde die Augen schließen und alles war vorbei... Amaryll kämpfte sich durch die Menge. Warum? Sie wusste nicht warum, es war klar, dass sie keinerlei Chancen hatte, wenn man sich das Aufgebot an tamuranischen Soldaten besah. Und doch machte sie weiter, automatisch, ohne darüber nachzudenken. Wer wusste schon, was das Schicksal bereithielt? „Volk von Anareana! Es wird Zeit, dass ihr eure neuen Herren anerkennt...“ Natürlich mussten sie eine Rede halten. „Ihr habt gekämpft, ihr habt verloren. Ihr seid durch Magie verweichlicht und schwach geworden. Doch diese Tage sind vorbei. Jetzt beginnt eine Ära der Stärke, eine Ära unter unserer Herrschaft. Seht wie das letzte Symbol eurer Schwachheit fällt und lasst es euch eine Lehre sein. Jeder der sich gegen uns stellt wird vergehen...“ Sie war momentan die Letzte des Magierrates und konnte nicht tatenlos zusehen, wie man den König tötete. Gerade als der eigens dafür auserwählte Henker die Axt schwingen wollte, um den König zu enthaupten, erblickte Sairen die vermummte Gestalt die von der Menge auf das Podest trat. Sie wirkte gebeugt und schwach, doch als sie den Umhang zur Seite warf, erkannte er, dass dieser Eindruck nur deshalb entstanden war, weil es sich um eine Frau handelte. Sie war in eine anareanische Rüstung gekleidet und wirkte bis aufs Äußerste gespannt. Sairen lächelte. Entweder sie war mutig, oder sie war dumm... wie auch immer, sie würde keine fünf Minuten mehr leben. „Halt!“ rief sie und hatte damit die Aufmerksamkeit aller. Sairens Soldaten wollten sich unverzüglich auf sie stürzen, doch er hielt sie zurück. Stattdessen ließ er die Frau näher kommen. „Ihr mögt die Schlacht gewonnen haben, aber dass ihr König Aran hinrichtet, kann ich nicht zulassen.“ Sie schleuderte einen kleinen Feuerball in Richtung der Tamuraner, aber Sairen war vermutlich nicht der Einzige, der erkannte, wie sehr sie dieses kleine Manöver anstrengte. Sie mochte eine mächtige Magierin gewesen sein, aber sie war eindeutig am Ende ihrer Kräfte und damit kein ernstzunehmender Gegner. „Oh bitte! Sagt mir nicht, dass Ihr versucht, das im Alleingang durchzuziehen! Ihr seid am Ende und nichts hindert mich daran, diesen Männern hier zu befehlen, euren Körper mit Armbrustbolzen zu spicken. Aber ich will Euch etwas verraten: Im Geiste der Gerechtigkeit lasse ich es sein, stattdessen werde ich mich alleine um Euch kümmern.“ Ihre Gesichtszüge erhärteten sich. Sie sagte nichts, zog stattdessen ihr Schwert. Sairen wusste ganz genau: hätte sie auch nur noch einen kleinen Funken Kraft, so hätte sie vermutlich erneut einen Feuerball geschleudert oder etwas Ähnliches getan. Er lächelte und zog ebenfalls sein Schwert. Er liebte Überraschungen und diese Frau stellte nichts weiter als eine Verzögerung des Unvermeidlichen dar. Als ihre Klingen sich zum ersten Male kreuzten konnte Sairen sein Amüsement kaum noch zügeln. Sie konnte nicht einmal richtig mit dem Schwert umgehen. Amaryll konnte nicht mehr sagen, wie sie in diese Lage geraten war. Nun stand sie hier und konnte nicht anders. Ein großer Teil von ihr verfluchte sich dafür, dass sie nicht geflohen war, doch dafür war es jetzt zu spät. Der Tamuraner sah sie nicht als einen ernstzunehmenden Gegner an und damit hatte er nicht Unrecht. Die wenigen Schwertkampfkünste, über die sie verfügte, hatte ihr Iain beigebracht, aber überragend waren ihre Fähigkeiten nicht – sie reichten gerade für eine Verteidigung. Warum nur ließen sie ihre Kräfte jetzt im Stich? Sie versuchte seine Schläge zu parieren, aber nicht einmal gelang ihr ein Angriff. Stattdessen trieb er sie immer mehr in die Verteidigung. Sie wich zurück und weiter zurück, bis sie fast am Rande des Podestes stand. Ein Schritt weiter nach hinten hätte den Absturz bedeutet. Erneut wurde ihr ein kurzer Fehler in der Deckung zum Verhängnis. Während sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten und vom Abgrund wegzukommen, hatte der Tamuraner sie entwaffnet. Ihr Schwert fiel in die Menschenmenge. Er lachte, als er sie an der Rüstung packte und zu Boden schleuderte. „Es tut mir wirklich leid, aber Ihr habt verloren. Aber Ihr wisst, ich kann Euch nicht davonkommen lassen.“ Mit diesen Worten hob er sein Schwert und rammte es ihr in den Bauch. Augenblicklich spürte Amaryll das Blut aus der Wunde treten. Der Schmerz raubte ihr fast das Bewusstsein und ihre Erfahrung als Heilerin sagte ihr, dass sie diese Wunde nicht überleben konnte. In einem letzten Akt der Verzweiflung, versuchte sie, ihre Konzentration ein letztes Mal wiederzufinden und alles was sie erfassen konnte, in die Wunde zu leiten. Dann wurde alles schwarz... „Nein! Um alles in der Welt, nein!“ Ein plötzliches Gefühl des Verlustes durchflutete Iain und er sackte am Tisch des Wirtshauses, in dem er gerade eine Rast eingelegt hatte, zusammen. Sofort eilten Reisende und der Wirt herbei. „Was ist denn?“ „So sprich doch!“ „Kann man dir helfen?“ Tränen rannen seine Wangen hinunter. „Mir kann niemand mehr helfen. Das Wertvollste was ich jemals besaß ist tot.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)