Träum weiter von JinShin ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Kennt ihr WEISS?!“ fragt Crawford, indem er die Tür aufreißt. In diesem Moment taucht auch schon das Bild der Ü-Kamera auf Nagis Bildschirm auf – und mein Herz bleibt beinah stehen! Da bist du wieder, das Katana noch in der Hand, den Kopf gesenkt, blutbesudelt. Komisch, immer ist irgendwo Blut an dir, dabei warst du bis vor kurzem noch ein ganz normaler Junge… Schon als ich dich das erste Mal sah, inmitten der Trümmer, die einmal das Geschäft deines Vaters gewesen waren. So viel Tod um dich herum, und du versuchtest verzweifelt, deine Schwester unter dem Betonstück hervor zu zerren. Aus einer Schramme an deiner Wange lief Blut über dein Gesicht wie eine rote Tränenspur. Deine Verzweiflung war so echt. Wie hätte ich dich töten können? Crawford reißt mich aus meinen Gedanken. „Ist das nicht Fujimiya? Na, die Sache hast du mal wirklich verbockt.“ Damit meint er mich. Genauso gut hätte er erwähnen können, dass das Haus, welches Nagi diesem Kiryu besorgt hatte, nicht so sicher war, wie es sein sollte. Sonst würden wir Kiryu jetzt nicht mit aufgeschlitztem Körper auf dem Boden neben seinem Mörder liegen sehen. Nagi hat mal wieder Glück. Denn Kiryu wird sich bestimmt nicht mehr beschweren. Ist mir auch egal, und Kiryu konnte ich sowieso nicht leiden. Nicht, dass ich Mitleid mit den Frauen gehabt hätte. Seine Art zu töten fand ich einfach unästhetisch. Meine Augen haften an Fujimiya. Seine Hände zittern. Du bist es nicht gewöhnt, zu töten. Wie gern wäre ich jetzt bei dir, deine Gefühle in mich aufzusaugen, deinen süßen Schmerz, die Verzweiflung und auch die Genugtuung der vollzogenen Rache. Doch das bleibt mir versagt, schwarzer Prinz, aber nachher, wenn du schläfst… dann gehörst du mir! Crawford redet irgendwas, und nur langsam sickert die Bedeutung seiner Worte in mein Bewusstsein. Ich soll Farfarello frei lassen, Sachen packen, wir fliegen nach Tokyo. Tokyo? Das heißt, ich werde dich wieder sehen, mein Traum wird wahr! Am liebsten würde ich vor Freude in die Luft hüpfen und Crawford drücken, doch nein, das tu ich natürlich nicht! „Du träumst ja schon wieder von deiner Schwester. Wird dir das nicht langweilig?“ Wie üblich stehe ich plötzlich hinter dir, beuge mich vor, hauche die Worte in dein Ohr. Du kennst das auch schon, zuckst nicht mehr zusammen. Schade. Doch daran, wie dein Körper sich versteift, merke ich doch meine Wirkung. Zu blöd, dass ich im Traum nicht deine Gedanken lesen kann, denn ich bin ja schon in deinen Gedanken. Wir sind in einem Raum, er sitzt auf dem Boden vor einem dieser niedrigen japanischen Tische, und wir sind nicht allein. Außer seiner Schwester sitzt noch ein Mann mit am Tisch, und eine Frau kommt gerade aus dem Nichts und verteilt kleine, dampfende Schüsseln. Es riecht nach Reis. Aha, das Haus deiner Eltern, Familienidylle. Die anderen beachten mich zum Glück nicht. „Uuh, ist ja gruselig hier mit diesen Geistern. Leichenschmaus sozusagen.“ Seine Hände verkrampfen sich, das war’s. Hm, wird immer schwieriger, ihn aus der Reserve zu locken. Also weiter: „Hast du ihnen schon erzählt, was du heute getan hast?“ Ich lege ihm von hinten den Arm um die Schultern, spüre unter meiner Hand seinen Herzschlag. Ah, es ist herrlich real! Selbst sein Haar kitzelt mich an der Nase, als ich mich zu ihm beuge. „Dein wievielter Mord war das eigentlich? Wenn du so weiter machst, hast du mich ja bald eingeholt. Kompliment. Hätte ich dir gar nicht…“ „Wag es nicht, mich mit dir zu vergleichen“, unterbricht er mich tonlos. „Wann gibst du es denn endlich zu?“ lache ich. Damit kriege ich ihn immer. In einer einzigen fließenden Bewegung schüttelt er mich ab und springt auf. Leider heult er nicht mehr so oft, das finde ich schade, denn seine Augen sehen dann so weich und verletzlich aus. Wie an dem Tag, als wir uns das erste Mal begegneten. Das mag ich. Das ist eine Seite, die er vor allen anderen verbirgt, alle sehen nur seine ausdruckslose Maske, in die er sein Gesicht verwandelt hat. Deine Tränen gehören mir allein. Jetzt steht er vor mir in seinem wallenden schwarzen Assassinermantel, im Traum geht das ohne sich umzuziehen. Das Katana blitzt in seinen Händen, und seine Augen funkeln mich an. Naja, ich gebe zu, das gefällt mir auch. „Ich bin nicht wie du“, knurrt er böse. Ich grinse ihn nur an. Die Diskussion hatten wir schon zu oft. „Warum verfolgst du mich? Was willst du von mir? Warum träume ich so oft von dir? Wenn ich dich jemals wirklich sehe… wenn ich dich finde…“ Sein Ton ist drohend. Ich unterbreche ihn. „Oh, den Wunsch kann ich dir erfüllen. Ich bin gerade unterwegs nach Tokyo“, schnurre ich, und seine Augen mustern mich aus wütenden Schlitzen. „Dann bring ich dich endlich um! So, wie du sie umgebracht hast! Ich bring dich um, deine Eltern und alle, mit denen du zu tun hast, alle, die du liebst…“ „Tja, das sind nicht viele. Ich liebe niemanden…“ Mit einem dumpfen Geräusch bohrt sich die Klinge zwischen meine Rippen, und mir bleibt die Luft weg. Scheiße, dabei war ich noch gar nicht fertig. Alles wird schwarz um mich und dreht sich. „…niemanden – außer dir…“ Der dunkle Strudel zieht mich fort. Das nächste, was ich sehe, ist Farfs Auge direkt vor mir, als er sich über mich beugt. „Schlecht geträumt?“ Ich kann mir denken, dass diese Frage nicht mitfühlend, sondern voyeuristisch gemeint ist. Da kommt es auch schon: „Hast du geblutet?“ „Hmpf“, mache ich und drehe mich auf diesem verdammt unbequemen und engen Flugzeutsitz zur Seite, Müdigkeit vortäuschend. Nichts gegen Farf, aber er ist bestimmt der letzte, mit dem ich über meine Gefühlslage sprechen möchte. Beim Umdrehen fange ich noch einen Blick von Crawford auf, diese undurchdringlichen Augen. Okay, Farf ist der zweitletzte… Ach, lasst mich doch alle in Ruhe! Ich schließe die Augen, vielleicht kann ich Fujimiya noch mal sehen… Nein, er scheint auch aufgewacht zu sein. Hm! Das letzte halbe Jahr hat dich verändert. Keine Tränen mehr. Gut. Aber jetzt das! Er hat mich einfach abgestochen, wie irgendeine seiner Zielpersonen! Bin ich gar nichts Besonderes für dich? Du würdest mich töten, ohne zu zögern? Ohne Reue…? Natürlich würdest du das. Würdest bis nach Deutschland zu mir kommen, wenn du in Japan mit deiner Rache-Aktion fertig wärst? Mein Herz klopft bei dem Gedanken. Es wäre interessant, das herauszufinden. Aber jetzt komme ich dir entgegen… Die Frage ist eigentlich: Warum lässt du mich nicht los? Was zieht mich in deine Träume? Warum bist du mir nicht egal? Ich wurde ausgesandt, dich zu vernichten. Doch ich konnte es nicht. Warum nur? Dieses Gefühl kenne ich von mir nicht. Du bist der erste Fehler, der mir passiert. Ich habe dich unterschätzt. Aber hey, wer hätte geahnt, dass du so abgehst! Alle zu töten, die am Mord deiner Eltern beteiligt waren, wie bist du nur auf diese absurde Idee gekommen? Ein Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. Ob du’s nun zugibst oder nicht – du bist doch wie ich. Ich muss dich sehen. Dringend. Von Angesicht zu Angesicht. In der realen Welt. Von deinen Träumen habe ich genug. Ich wende mich an Nagi: „Du kennst dich doch in Tokyo aus. Wo ist denn da ein geeigneter Ort für ein romantisches Treffen?“ „Ein… WAS?“ „Vergiss es.“ Crawfords Blick ist finster auf mich gerichtet. „Lass es lieber bleiben.“ „Hattest du eine Vision? Weißt du, was passieren wird?“ frage ich begierig. „Dazu brauche ich keine Vision. Du wirst eine Dummheit begehen.“ „Du weißt gar nicht, um was es geht.“ Sein Gesichtsausdruck wird milder, nachdenklich. „Schon möglich. Aber wenn es um Fujimiya geht… setzt dein Verstand aus. Halt dich von ihm fern. Auch ohne deine Spielchen werden wir genug Probleme haben.“ Spielchen? Ist es nur das? Der nächste Traum ist nicht in so gemütlicher Atmosphäre. Sieht aus wie ein Schulhof. Es regnet. Du stehst vor einem hohen Gebäude. Ich hasse Regen, muss das sein? Fujimiya ist schon völlig durchnässt, Strähnen seines roten Haares kleben in seinem Gesicht, und er blickt zu einem der Fenster hoch, ohne mich zu bemerken. Lass mich raten: Das Klassenzimmer von Aya, deiner Schwester? Kannst du nicht mal an was anderes denken als an deine scheintote Schwester? Der Regen rinnt durch dein Gesicht wie Tränen… so gern würde ich dich jetzt anfassen, den Regen mit meinen Lippen ganz langsam, ganz sachte von deiner Haut küssen… Na, das sind ja Gedanken! „Hey“, sage ich leise, nicht in der Stimmung heute, ihn zu erschrecken. Keine Reaktion. Ich hasse dich. „Das war aber gestern nicht sehr nett von dir, mich einfach so hinzurichten.“ Mein Sarkasmus rettet mich. „Tse, ich rette dir das Leben, und was machst du? Immerhin, ist das…“ „Du machst WAS?“ Jetzt sehen wir uns an. Ich rede unbeirrt weiter: „…das erste Mal, dass mir so etwas passiert. Und das will schon was heißen, glaub mir. Wenn ich wollte…“ „Rettest MIR das Leben??“ „…könnte ich dich so leicht weg pusten.“ Ich schnippe mit den Fingern und grinse ihn an. „Aber…“ „Was redest du da für einen Scheiß?“ „…seltsam, nicht? Ich will das gar nicht. Dieses Gefühl…“ „Du tötest mich nicht, und das nennst du ‚leben retten’?!“ „…passt gar nicht zu mir…“ „Ich werde meine Familie rächen, und ich werde dir dein unverschämtes Grinsen austreiben!“ Er steht jetzt vor mir, wieder mit gezücktem Schwert, wieder in diesem schwarzen Mantel, und seine Augen schießen Blitze. Kannst du nicht mal einen anderen Film einlegen? Mein Grinsen wird breiter. „Willst du jetzt jedes Gespräch so beenden? Wie unhöflich. Ach, und übrigens: Davon werden sie auch nicht wieder lebendig…“ Ich kann kaum aussprechen, denn das Katana schießt wie ein Lichtstrahl auf mich zu. Ich weiche aus, doch er korrigiert in letzter Sekunde, und die Klinge bohrt sich tief in meine Schulter. Ich schreie auf und finde mich plötzlich auf dem Boden wieder. Dabei habe ich es nur gut gemeint, ehrlich! Hölle, tut das weh! Und zu allem Überfluss liege ich mitten in einer Pfütze. Scheißtraum, wirklich. Er setzt mir das Katana an die Kehle. Wäre dies jetzt mein Traum, würden deine Hände anfangen zu zittern, das Schwert würde klirrend zu Boden fallen. „Ich kann es nicht“, würdest du sagen. Es ist eindeutig nicht mein Traum. „Das geht dich überhaupt nichts an“, sagst du. Und deine Hände zittern gar nicht, als du zustößt. -Ende- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)