Schreibübungen von ChasingCars ================================================================================ Wenn ihr geht ------------- Schreibübung 6 - Abschied für immer „Sie werden die Geräte ausschalten, nachdem ihr gegangen seid.“ Schockiertes Schweigen. Als ob den Anwesenden auf einen Schlag alle Luft entweichen würde. Verstörte Blicke. Sie wollten es nicht hören, nicht verstehen, nicht wahrhaben. „Was?“ „Du hast schon verstanden“, sagte die alte Frau sanft und strich ihrer Enkelin liebevoll durch das dunkle Haar. Sie hatte es von ihrer Großmutter geerbt. Doch nun war deren Haar grau und ihr Gesicht wirkte müde und eingefallen. Die langen grauen Strähnen umspielten nicht wie sonst ihr Gesicht, sondern hingen schlaff auf ihre Schultern hinab. Nichts war von der starken, fröhlichen Oma geblieben, die immer einen pfiffigen Spruch auf den Lippen gehabt hatte. Ihre Enkel hatten sie vergöttert für ihre herzensgute, sorglose Art, doch nun lag sie dort schlaff und kraftlos auf dem Krankenhausbett. „Früher oder später werde ich an der Krankheit sterben“, fuhr sie fort. „Und ich möchte nicht weiter leiden, ich will euch keine Last sein.“ „Du bist uns doch keine Last!“, erwiderte ihre Tochter erschrocken. „Ganz im Gegenteil!“ „Ich weiß genau, dass ich sehr wohl eine bin. Sogar für mich selbst.“ Die alte Frau ließ den Blick durch den Raum schweifen. Doch überall schaute sie bloß in geschockte, verständnislose Gesichter. „Bitte versteht mich! Ich möchte nicht mein ganzes Leben an diesen Geräten hängen. Entweder ganz oder gar nicht.“ „Was redest du da bloß, Mutter?“ Die Hände ihrer Tochter zitterten. „Du hast also einfach entschieden, dass du sterben willst? Ohne auch mal zu fragen, wie es uns dabei geht?“ „So eine Entscheidung trifft man nur mit sich selbst, mein Schatz.“ Die Augen, mit der sie ihre Tochter anblickte, hatten ihren Glanz verloren. Sie wirkten verschlossen und undurchdringbar, fast sogar kühl. Dann eine Männerstimme von der anderen Seite des Raums. „Und … du hast dir das wirklich gut überlegt?“ Die alte Frau nickte entschlossen. „Ich habe schon darüber nachgedacht, als die Krankheit festgestellt wurde. Glaubt mir, körperlich bin ich am Ende meiner Zeit, doch meinem Geist geht es prächtig.“ Eine Träne rollte über das Gesicht ihrer Enkelin. „Ich will das aber nicht.“ Ihre Großmutter schloss sie tröstend in die Arme. Ein Teil von ihr mochte gegangen sein, doch eigentlich war sie immer noch die gute, alte Oma, die ihren Enkeln bei jeder Gelegenheit ein Stück Schokolade zusteckte. „Nicht weinen, mein Schatz. Weißt du, der Tod gehört zum Leben dazu. Und es ist nichts an ihm, wovor man sich fürchten muss. Du brauchst also keine Angst zu haben. Deine Oma ist immer bei dir.“ Die Kleine schüttelte vehement mit dem Kopf. „Nein, Omi, dann bist du nicht mehr bei mir, dann bist du ganz weit weg. Und dann kann ich dich nie mehr umarmen.“ „Oh, Schatz…“ Der alten Frau fehlten die Worte. Doch sie konnte jetzt nicht mehr zurück – Sie hatte sich entschieden. Sie wollte nicht von irgendwelchen piepsenden Geräten am Leben gehalten werden. Nein, das war kein Leben. Und sie konnte es ihrer Familie nicht antun, sie immerzu so kraftlos zu sehen. Es war keine Heilung in Sicht, sie würde allen nur Schmerz und Leid zufügen, wenn sie noch länger wartete. „Geht jetzt bitte.“ Nur ein rauhes Flüstern, so müde wie sie selbst. „Aber dann stirbst du, Oma!“ Ihre Enkelin packte ihre Hand nun noch fester. „Ich weiß, mein Engel.“ „Dann bleibe ich hier!“, rief das kleine Mädchen fest entschlossen. „Ich bleibe hier bis ich tot bin!“ „Mach es nicht noch schwerer, Schatz!“, sagte ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme. „Oh mein Gott, ich ertrage das nicht!“ Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Sofort eilte ihr Ehemann zu ihr und schloss seine Arme um sie. „Schatz, komm!“ Er machte eine unmissverständliche Geste, dass das kleine Mädchen jetzt mit hinauskommen sollte. Ihrer Großmutter standen die Tränen in den Augen, doch sie hatte sich vorgenommen, stark zu sein. „Ich will nicht!“, schrie die Kleine so laut sie konnte. „Oma darf nicht sterben!“ „Aber Oma muss“, flüsterte die alte Frau und drückte ihre Enkelin so fest, als wolle sie sie nie mehr loslassen. Doch sie ließ sie los und schubste sie sanft vom Krankenbett. „Es ist Zeit zu gehen“, sagte sie mit einem hauchdünnen Lächeln. „Für uns alle.“ Dann schaute sie zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Sie breitete die Arme zu einer Umarmung aus. Doch ihre Tochter schüttelte nur mit dem Kopf, während sie sich die Tränen mit einem Taschentuch abwischte. „Ich kann das nicht, verzeih mir.“ „Ich verstehe dich. Geht lieber. Ich liebe euch.“ Ihre Stimme klang verloren in dem sterilen Raum. Ebenso verloren wie sie in dem großen Krankenbett aussah. „Wir lieben dich auch!“ Sie brachte es kaum heraus unter all den Tränen der Verzweiflung, der Trauer, der Angst. Das kleine Mädchen rannte aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihr her. Und ihre Eltern verließen es nur widerstrebend mit einem Gefühl, das niemand auf der Welt je beschreiben könnte. Dann schlossen sie die Tür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)