Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 17: Schuld ------------------ Frau Ozora hatte keine genaue Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. Ihre Uhr hatte sie in der Hektik zu Hause vergessen, und in diesem Raum hier hatte sie zumindest noch keine entdeckt. Tsubasa sprach nach wie vor kein Wort. Seine Mutter hatte mehrmals versucht, ihn wenigstens dazu zu überreden, sich etwas hinzulegen, aber ohne Erfolg. Er blieb einfach still auf seinem Platz sitzen, nach wie vor mit der Decke über den Schultern. Frau Ozora hatte keine Ahnung, ob diese unheimliche Starre tatsächlich von dem Beruhigungsmittel herrührte oder von dem Schock, aber je länger sie andauerte, desto beunruhigter wurde sie. Der Arzt ließ sich vorerst nicht mehr blicken, genauso wenig wie eine Krankenschwester oder überhaupt irgendjemand, mit dem sie hätte sprechen können, und da sie es nicht wagte, ihren Sohn in diesem Zustand aus den Augen zu lassen, blieb ihr nicht anderes übrig, als neben Tsubasa sitzen zu bleiben und hin und wieder zu versuchen, zu ihm durchzudringen. Bis auf den kurzen Moment, als er direkt nach ihrer Ankunft auf sie reagiert hatte, blieb sie jedoch ohne Erfolg. Nach einer Ewigkeit, so schien es, klopfte es zaghaft an der Tür. Frau Ozora erhob sich automatisch, aber es war nur ihr Mann, der den Raum betrat. Er sah sehr ernst aus. „Wie sieht es hier aus?“, wollte er nach einem Blick auf seinen Sohn wissen. Frau Ozora zuckte hilflos mit den Schultern. „Gibt es etwas Neues von Sanae?“ Sie bemerkte am Rande, das Tsubasa beim Klang ihres Namens leicht zusammenzuckte, aber bevor sie darauf reagieren konnte, redete ihr Mann weiter. „Sie haben sie bis vor fünf Minuten operiert…“ „Und?“ „Nun ja….“ Herr Ozora wurde noch ernster. „Sie hat überlebt, vorerst…..anscheinend hat sie schwere Kopfverletzungen und Knochenbrüche, wegen der inneren Blutungen haben sie sie sofort notoperieren müssen. Im Moment liegt sie auf der Intensivstation im Koma, wir müssen abwarten…..“ Frau Ozora blickte ihn geschockt an. „So schlimm? Aber….“ Weiter kam sie nicht. Tsubasa war abrupt aufgestanden und verlor dabei die Decke. Ohne sich darum zu kümmern, wollte er an seinem Vater vorbei, wurde allerdings von ihm zurück gehalten. „Warte, Tsubasa!“ „Ich muss zu Sanae!“ „Ich weiß, aber das geht nicht! Erstens bist du selber nicht fit genug….“ „Mir geht’s gut!“ Herr Ozora überging den Einwand, von dem er genau wußte, dass es nicht stimmte – dazu genügt es nur, sich seinen Sohn anzusehen. „…und zweitens sind ihre Eltern gerade bei ihr, und der Arzt hat weiteren Besuch für heute streng verboten. Sie braucht absolute Ruhe….“ Tsubasa wollte sich aus dem Griff seines Vaters befreien, aber Herr Ozora hielt ihn unbarmherzig fest. „Bitte sei vernünftig!“, meinte er ernst. „Ich weiß, dass du unbedingt zu Sanae willst, aber im Moment schadest du euch beiden nur damit. Sieh zu, dass du bis morgen selber wieder richtig auf die Beine kommst, dann kannst du sie sicher auch besuchen! Bitte, Tsubasa!“ Frau Ozora bekam langsam einen Eindruck davon, was der Arzt vorhin angedeutet hatte. Obwohl die Wirkung des Beruhigungsmittels anscheinend noch nicht hundertprozentig nachgelassen hatte – das sah sie an Tsubasas noch recht mechanischen Bewegungen – kostete es ihren Mann alle Mühe, ihn festzuhalten. Seine Augen hatten diese unheimliche Leere verloren, dafür konnte man die Verzweiflung und die Angst um Sanae so deutlich ablesen wie an einer Tafel. Frau Ozora schluckte und kam ihrem Mann zu Hilfe. Dabei bemerkte sie die großen, dunklen Flecken auf seiner Kleidung, die bis jetzt von der Decke verborgen gewesen waren. Blut. Sanaes Blut…. „Lasst mich los! Ich will sie doch nur sehen….“ „Ich weiß, aber es geht nicht! Komm wieder zur Vernunft, bevor die Ärzte auf die Idee kommen, dir noch mal ein Beruhigungsmittel zu spritzen!“, meinte Herr Ozora energisch. „Du kannst heute nicht zu ihr! Wir fahren jetzt nach Hause, ich habe die Erlaubnis dafür bekommen. Dann legst du dich hin und morgen früh bringe ich dich persönlich hierher zurück, damit du sie sehen kannst. Und ich habe die Ärzte gebeten, uns sofort anzurufen, falls sich etwas verändert! Vertrau mir! Oder willst du, dass sie dir den Besuch vollständig verbieten, wenn du dich so benimmst?“ Das endlich schien zu wirken. Tsubasa hörte auf, sich zu wehren, seine plötzliche Energie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Er schien in sich zusammenzusinken, und Frau Ozora nahm ihn ohne nachzudenken wieder in den Arm. „Keine Sorge, alles wird wieder gut.“, meinte sie leise. „Sanae schafft es, das habe ich dir doch schon einmal gesagt…. Dass sie die OP überstanden hat, ist ein gutes Zeichen!“ Tsubasa antwortete nicht, aber sie konnte spüren, dass er unkontrolliert zitterte. Auch Herr Ozora hatte es bemerkt. „Ich hole noch schnell die Sporttasche, Taro hat sie in Verwahrung genommen. Er wird dann auch mit den Anderen nach Hause fahren, sie wollten nur noch wissen, ob es Tsubasa soweit gut geht. Aber ich denke, er sollte sie in dem Zustand nicht sehen….“ Frau Ozora nickte, ohne ihren Griff um ihren Sohn zu lockern. „Ich werde auch noch versuchen, ob ich den Arzt noch mal treffe, der hier nach ihm gesehen hat, bevor wir fahren.“, stellte Herr Ozora nach einem erneuten Blick auf Tsubasa fest. „Es wird hoffentlich nicht lange dauern….“ Seine Frau nickte erneut, und Herr Ozora verließ das Zimmer. *** Es dauerte in der Tat nicht lange. Keine Stunde später schloss Herr Ozora die Haustür auf. Der Arzt hatte Tsubasa erneut untersucht, aber gesundheitlich fehlte ihm nichts. Er hatte ihn angewiesen, sich die nächsten Stunden auszuruhen, und ihm noch Tabletten mitgegeben, damit er schlafen konnte. Dennoch ließ Frau Ozora ihren Sohn während der Heimfahrt nicht aus den Augen. Tsubasa hatte sich soweit wieder gefasst, er zitterte nicht mehr, war aber immer noch schweigsam und sehr bleich. Als sie das Haus betraten, stellte Herr Ozora die Sporttasche in der Diele auf den Boden und blickte dann seine Frau an. „Fährst du Daichi abholen oder soll ich?“ „Das mache ich, ich nehme das Rad – ein paar Minuten an der frischen Luft tun mir sicher gut….“ Herr Ozora nickte und blickte dann zu Tsubasa hinüber, der teilnahmslos neben seinen Eltern gestanden hatte. „Und du gehst hoch ins Bett und bleibst da, verstanden? Versuch ja nicht, alleine zum Krankenhaus abzuhauen…..“ Tsubasa wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging Richtung Treppe. Sein Vater blickte ihm kummervoll hinterher, dann ging er in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Nach dem ganzen Schrecken konnten sicher alle eine Stärkung vertragen… *** Als Tsubasa die Treppe nach oben stieg, kam ihm immer noch alles seltsam unwirklich vor. Heute morgen noch war er mit Sanae dieselbe Treppe nach unten gegangen, voll Vorfreude auf das Spiel in Toho und mit dem festen Entschluss, für ein paar Stunden den ganzen Ärger zu vergessen…. Und jetzt lag sie alleine auf der Intensivstation, sah nichts und hörte nichts…… Bei dem Bild, das sich in seinem Kopf formte, begannen seine Hände erneut zu zittern, und er ballte sie fest zu Fäusten. Warum ausgerechnet Sanae? Es hätte doch wenigstens ihn erwischen können…. Als er die Zimmertür öffnete, war er sich mehr denn je dem Blut auf seiner Kleidung bewusst. Er konnte sich an die Minuten nach dem Unfall nur verschwommen erinnern. Wenn Taro nicht da gewesen wäre….. Tsubasa wusste noch, dass sein Freund alles menschenmögliche unternommen hatte, um ihn von Sanae wegzuziehen und so zu verhindern, dass er ihre Verletzungen noch verschlimmerte. Taro war es auch gewesen, der den Krankenwagen gerufen hatte und die Polizei. Sie hatten ihm Fragen gestellt, aber Tsubasa hatte keine einzige davon beantworten können, also war auch hier Taro in die Bresche gesprungen, hatte so gut er konnte beschrieben was passiert war und eine notdürftige Beschreibung des Autos abgegeben. Andere Zeugen gab es nicht…. Tsubasa würde in ein paar Tagen ebenfalls zur Polizei gehen müssen. Und er schuldete Taro mehr als eine Entschuldigung, er hatte es ihm weiß Gott nicht leicht gemacht… Im Zimmer fiel sein Blick zuerst auf Sanaes Rucksack, der immer noch neben dem Bett stand. Sanae hatte ihn heute abend erst abholen wollen. Tsubasa ballte jetzt die Hände so fest zu Fäusten, dass sich seine Fingernägel tief in seine Handfläche gruben. Wie sollte er sich hier einfach so ausruhen, während sie….. Er wandte den Blick ab – und erstarrte. Jetzt erst bemerkte er das Fenster. Die reparierte Scheibe war erneut zersprungen, ein neuer Stein mitsamt Brief auf dem Teppichboden. Die Szenerie begann vor seinen Augen zu flimmern. Ohne nachzudenken, hob er den Stein auf und wickelte das Papier ab. Die Nachricht war wie alle anderen gestaltet. That was fun! In seinem Hinterkopf hatte es unangenehm zu pochen begonnen. Tsubasa starrte die Buchstaben mehrere Minuten lang an, ohne sich zu rühren. Dann ließ er es abrupt fallen, hastete zum Papierkorb hinüber und kippte ihn aus. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Der Brief war reichlich zerknittert, und er musste ihn mehrmals glatt streichen, bis er ihn lesen konnte. You will miss her! Das Pochen in seinem Hinterkopf steigerte sich zu einem Hämmern, das Blut rauschte in seinen Ohren. Wieder starrte er die Botschaft mehrere Minuten lang an, dann packte er den Stein und warf ihn mit einem wütenden Schrei von sich. Er traf den Schreibtisch. Der Blumentopf der Zimmerpflanze, die seine Mutter vor einiger Zeit dort abgestellt hatte, um „etwas Farbe in den Raum zu bringen“, wie sie es ausgedrückt hatte, zersprang unter lautem Klirren, gemeinsam mit einer Wasserflasche. Erde verteilte sich auf der Tischplatte und rieselte auf den Teppichboden, vermischte sich mit dem heruntertropfenden Wasser. Der Bücherstapel, der daneben gestanden hatte, kippte ebenfalls um und landete in der dreckigen Pfütze. Tsubasa blieb außer Atem stehen, wo er war, den Blick auf die Sauerei auf dem Teppichboden und auf der Delle in der Schreibtischplatte gerichtet. Der Stein blickte unschuldig zurück. Tsubasa ließ den Brief los und sank haltlos auf den Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Hastige Schritte ertönten auf der Treppe, in der nächsten Sekunde riss sein Vater die Tür auf und stürmte in das Zimmer. „Tsubasa! Was….?!“ Er brach ab und blickte fassungslos auf das Durcheinander, das sich ihm bot….die Scherben und die Erde, der ausgekippte Papierkorb, die zersprungene Fensterscheibe, und inmitten dieses Chaos Tsubasa auf dem Boden…… „Was…was ist hier passiert?“, wollte Herr Ozora misstrauisch und besorgt wissen. „Tsubasa ?“ Tsubasa schüttelte nur den Kopf, und sein Vater betrat das Zimmer ganz. „Was ist hier passiert?“, wiederholte er, während er sich erneut umsah. „Was war das für ein Lärm gerade eben, warum hast du geschrien? Und was ist mit dem Fenster passiert?“ „Es ist meine Schuld….“ „Was?“ Irritiert blickte Herr Ozora seinen Sohn an. „Was meinst du damit? Hast du das Fenster etwa eingeworfen?“ „Nein…“ Tsubasa schüttelte erneut den Kopf, ohne seinen Vater anzusehen. „Sanae wird sterben und es ist meine Schuld….“ Herr Ozora schwieg ein paar Sekunden, dann setzte er sich neben ihn auf den Fußboden. Mit so etwas hatte er bereits gerechnet. „Wie kommst du darauf? Natürlich ist es nicht deine Schuld! Keiner hätte in so einer Situation schnell genug reagieren können, du….“ Weiter kam er nicht. Tsubasa hob abrupt den Kopf, in seinen Augen standen Tränen. „Du hast doch keine Ahnung!! Es ist meine Schuld!! Sie wollte zur Polizei, sie hat mich immer wieder dazu gedrängt, und ich bin nicht hingegangen, und jetzt wird sie sterben!!“ Mittlerweile schrie er beinahe. Sein Vater sah ihn geschockt an. „Wovon redest du?“ „Davon!“ Tsubasa hielt ihm einen der Briefe vor die Nase. „Von diesen verdammten Briefen, die mir irgendein Irrer ständig durchs Fenster wirft oder vor die Tür legt! Seit ich hier bin geht das schon so, und ich wollte nicht zur Polizei….“ Seine Stimme versagte. Sein Vater nahm ihm den Zettel ab und überflog ihn. Dann sah er ihn ernst an. „Warum hast du uns nichts davon gesagt?“ „Was spielt das noch für eine Rolle?“, meinte Tsubasa bitter, ohne ihn anzusehen. „Sanae wird sterben….. wenn ich den Brief gestern wenigstens noch gelesen hätte, dann…..“ Er brach erneut ab und konnte nun endgültig nicht mehr verhindern, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Er registrierte es nicht mal….. Sein Vater faltete den Brief mit ernster Miene zusammen. „Ich will, dass du mir jetzt gut zuhörst.“, meinte er schließlich leise. „Sicher wäre es besser gewesen, wenn du zur Polizei gegangen wärst oder wenigstens mit uns geredet hättest, aber du hast keine Schuld an dem, was heute passiert ist. Schuld hat nur der, der das Auto gesteuert hat.“ Tsubasa schüttelte wieder nur den Kopf und wandte den Blick ab, aber sein Vater packte ihn an den Schultern und zwang ihn, ihn anzusehen. „Es ist wichtig, dass du das verstehst.“; meinte er eindringlich. „Du hast keine Schuld, und du hättest es auch nicht verhindern können, selbst wenn du zu ihr auf die Straße gerannt wärst. Damit hättest du nur erreicht, dass du neben ihr auf der Intensivstation liegen würdest. Also konzentrier deine Energie darauf, für sie da zu sein, und nicht, dich selbst mit Vorwürfen kaputt zu machen. Verstanden?“ Tsubasa reagierte nicht, und er fühlte sich nicht imstande, seinem Vater in die Augen zu sehen. In seinem Kopf hämmerte es immer noch unangenehm, nach wie vor rannen ihm Tränen die Wangen hinunter, und er wußte nicht, was schlimmer war – das taube Gefühl, dass in seinem restlichen Körper vorherrschte, die Leere und die Trauer, oder die rasende Wut…. Sein Vater schien seine Gedanken zu lesen. „Glaub mir, ich verstehe mehr als du denkst.“, meinte er ruhig. „Und darum solltest du endlich auf mich hören. Nimm ein oder zwei von den Tabletten und versuch zu schlafen, in dem Zustand bist du Sanae keine Hilfe. Morgen früh gehen wir zur Polizei, bevor ich dich wieder ins Krankenhaus fahre. Du gibst ihnen die Briefe und erzählst alles, was passiert ist, ohne Ausnahme. Danach geht es dir sicher besser. Und wer weiß, vielleicht ist Sanae morgen auch schon wieder wach.“ Tsubasa brachte ein leeres Lächeln zustande und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab, bevor er sich von seinem Vater auf die Beine ziehen ließ. Das klang alles zu schön, um wahr zu sein. Dennoch spürte er, dass Herr Ozora recht hatte. Er brauchte Schlaf, brauchte ein paar Stunden, ohne Sanae ständig vor sich liegen zu sehen……nur ein paar Stunden, in denen er sich einreden konnte, alles nur geträumt zu haben…. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)