Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 35: Köder ----------------- Köder Gute fünfzehn Minuten waren seit Kojiros überhastetem Aufbruch vergangen. Taro hatte sich in die Küche zurückgezogen und versuchte, die ihm aufgetragenen Anrufe zu erledigen, was sich aber als nicht so einfach herausstellte. Mal abgesehen davon, dass er Ryo und Izawa gleich mehrfach anrufen musste, weil sie bei den ersten Versuchen nicht ans Handy gingen, erwies es sich als recht schwierig, ihre Aufregung und ihre Fragen soweit wieder einzudämmen, dass sie sich ohne weitere Diskussionen auf den Weg zum neuen Fußballplatz machten. Als er endlich wieder ins Wohnzimmer kam, fühlte er sich auf eine seltsame Art erschlagen, mal ganz abgesehen von dem mulmigen Gefühl, ob Kojiros Plan wirklich so eine gute Idee gewesen war. Tsubasa saß nach wie vor auf dem Sofa – er hatte ja keine andere Wahl – und ein kurzer Blick auf ihn genügte, um deutlich zu machen, dass seine Wut sich keinesfalls verflüchtigt hatte. „Kojiro hat es nur gut gemeint.“, meinte Taro zum wiederholten Male, während er sich setzte. „Darum geht es nicht! Er hat kein Recht, dass alleine zu entscheiden.“ Das war dieselbe Antwort wie die Male zuvor. Taro seufzte und sagte nichts mehr, an Tsubasas Stelle ginge es ihm vermutlich auch nicht anders. Genau genommen, ging es ihm auch jetzt nicht wirklich anders. Wahrscheinlich fiel es ihm deswegen auch so schwer, Argumente für Kojiros Handeln zu finden – abgesehen von „Er hat es nur gut gemeint“. Immerhin war er genauso überrumpelt worden wie Tsubasa. Sein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch und er runzelte leicht die Stirn. Auf der Tischplatte lag ein leeres Tablettenröhrchen, das vorher definitiv noch nicht dagewesen war. „Hast du Schmerzmittel genommen? Hast du Probleme mit deinem Bein?“ „Ja und nein. Rein vorbeugend – ich will mich wenigstens halbwegs bewegen können. Dank Kojiro würde ich das ohne Betäubung im Moment kaum schaffen, und der Gedanke, hier festzusitzen, ist auch so schon schlimm genug.“ Das beruhigte Taro natürlich keineswegs. „Okay…. Aber ich hoffe, du planst keine Dummheiten?“ Tsubasa lächelte bitter. „Was denn? So was wie „im Alleingang zum Fußballplatz gehen“, oder wie? Keine Sorge, das schaffe ich auch mit den Schmerzmitteln nicht. Und du wirst mir wohl kaum helfen, oder? Ist ja gegen Kojiros Anordnung.“ „Jetzt wirst du unfair. Ich kann nichts dafür, dass er so überstürzt aufgebrochen ist und uns hier sitzen gelassen hat, und selbst wenn ich wollte, könnte ich uns nicht zum Fußballplatz bringen, ich habe kein Auto und kann so schnell auch keins organisieren.“ Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann seufzte Tsubasa und fuhr sich kurz mit den Händen über das Gesicht. „Ich weiß. Tut mir leid.“ „Schon gut.“ Taro schwieg kurz, dann redete er weiter. „Mach dir um Daichi keine Sorgen, die Anderen tun sicher nichts, was ihn gefährdet. Und Kojiro hat immerhin insofern recht, dass es viel zu gefährlich ist, wenn du den Anweisungen von diesem Irren folgst, wer weiß, was er plant.“ Er zögerte. „Wir könnten höchstens wirklich versuchen, die Polizei hinterherzuschicken oder wenigstens deine Eltern doch noch anzurufen….“ Tsubasa schüttelte den Kopf. „Dazu ist es jetzt auch schon zu spät. Meine Eltern würden wahnsinnig werden vor Sorge, und machen können sie auch nichts…. Außer eben die Polizei holen, und das ist für Daichi viel zu gefährlich….“ „Sie könnten auch hinfahren….“ „Und was dann? Noch mehr Leute, die da eigentlich nicht sein sollten, und nur ich, der eigentlich da sein sollte, bin nicht da, und meine Eltern werden auch sicher den Teufel tun und das ändern.“ Taro seufzte wieder und schwieg. Es war sinnlos, mit dieser Diskussion drehten sie sich nur im Kreis. Schließlich deutete er auf das Tablettenröhrchen. „Wie viele?“ „Drei.“ Auf Taros leicht geschockten Gesichtsausdruck hin lächelte Tsubasa schwach. „Keine Sorge, bis zu drei sind erlaubt. Und mittlerweile vertrage ich sie auch ganz gut.“ Das stimmte nicht ganz. Bis zu drei Tabletten waren zwar erlaubt, allerdings pro Tag. Tsubasa wusste nicht, ob drei auf einmal schädlich sein konnten oder nicht, Dr. Sudo hatte in der Hinsicht nichts erwähnt, aber vermutlich war er auch nicht auf die Idee gekommen, dass Tsubasa drei auf einmal brauchte. Im Moment war ihm das aber auch herzlich egal. Was zählte, war, dass er sich im Notfall zumindest halbwegs auf den Beinen halten konnte. Auf der Couch rumsitzen zu müssen und sich gar nicht großartig rühren zu können, gefiel ihm absolut nicht. Taro runzelte leicht die Stirn und Tsubasa hatte den Verdacht, dass das Thema noch nicht erledigt war, aber genau in diesem Moment klirrte es wieder laut und vernehmlich. Dieses Mal kam es aus dem zweiten Stock. „Was?“ Taro blickte leicht verunsichert nach oben zur Decke, und Tsubasa folgte seinem Beispiel. Stille senkte sich über das Wohnzimmer, keiner der beiden sagte etwas. Auch oben blieb es ruhig. „Ich….glaube, das kam aus deinem Zimmer, oder?“, fragte Taro schließlich leise, und Tsubasa nickte. „Ja, möglich….“ Genau genommen, wahrscheinlich…. Taro räusperte sich kurz und stand auf. „Ich glaube, ich sollte nachsehen, oder?“ Seinem Tonfall zu urteilen gefiel ihm das nicht. Und Tsubasa genauso wenig, aus irgendeinem Grund behagte es ihm nicht, seinen Freund allein nach oben gehen zu lassen, aber es half nichts…. Wieder kroch Wut auf Kojiro in ihm hoch. Wenn er wenigstens seine Krücken hätte… Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten, aber er zwang sich, sie sofort wieder zu entspannen. Wahrscheinlich reagierten sie jetzt eh beide über. Das einzige, was Taro vorfinden würde, war ein Stein auf dem Teppichboden, genau wie immer. Aber trotzdem…. „Sei vorsichtig, in Ordnung?“ „Klar.“ Taro zwang sich zu einem Lächeln und nahm sein Handy vom Tisch. „Ich bin in einer Minute wieder da.“ Damit verließ er das Wohnzimmer und Tsubasa konnte hören, dass er die Treppe nach oben stieg. Auch nach den Jahren in Sao Paolo war er immer noch der Lage, anhand der leisen Schritte von oben, Taros Weg einigermaßen nachzuverfolgen. Offenbar ging Taro langsam, bemüht, kein Geräusch zu machen. Tsubasas Zimmer lag am Ende des Ganges… Die Schritte verstummten, es wurde für kurze Zeit still – dann gab es einen dumpfen Knall, gefolgt von einem heftigen Aufschlag. Tsubasa zuckte zusammen und starrte nach oben, die nächsten Sekunden zogen sich in der nun wieder folgenden Stille beinahe endlos hin. Schließlich tastete Tsubasa nach seinem eigenen Handy auf dem Tisch – zu seiner eigenen Überraschung zitterten seine Hände so sehr, dass er es im ersten Moment kaum zu fassen bekam. War das ein Schuss gewesen? Klangen so Schusswaffen? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er am Strand einen Schuss gehört hatte, ob der Klang Ähnlichkeit hatte zu dem Geräusch vor wenigen Sekunden, aber es gelang ihm nicht…. Nur das Gewitter war in seinem Gedächtnis hängen geblieben… Mittlerweile hatte er es geschafft, Taros Nummer zu wählen, das Freizeichen ertönte…und wurde im nächsten Moment abrupt beendet und vom Besetztzeichen abgelöst. Tsubasa legte auf, versuchte es erneut – Mailbox. Jemand hatte Taros Handy ausgeschaltet… Tsubasa schloss für eine Sekunde die Augen und zwang sich zum Durchatmen. Jetzt keine Panik…damit war niemandem geholfen, ihm nicht und Daichi und Taro genauso wenig. Vielleicht gab es ja auch eine absolut harmlose Erklärung. Taros Handy war aus, weil der Akku leer war. Das Poltern war ein umgefallener Bücherstapel gewesen, oder ein Regal…. oder ein Menschenkörper…. Unwillkürlich schob sich wieder ein anderes Bild vor seine Augen, Sanae in ihrem eigenen Blut auf der Straße. Taro, der ihn an beiden Armen gepackt hielt und ihn beinahe mit roher Gewalt von ihrer leblosen Gestalt wegzerrte, dabei auf ihn einredete, ohne dass Tsubasa hörte, was er sagte. Taro blutend auf dem Teppichboden in seinem Zimmer oben, mit starren Augen.…. Daichis regloser Körper…. Mittlerweile hatte sich Tsubasas Hand krampfhaft um das Telefon geschlossen, so fest, dass seine Finger zu schmerzen begannen und sich das Plastik in seine Handfläche bohrte. Er wusste nicht, wie lange er so da saß, aber gerade als sich in seinem Verstand wieder etwas zu regen begann und er zu dem Schluss kam, dass er jetzt keine andere Wahl mehr hatte, als die Polizei zu rufen – vibrierte das Handy in seiner Hand. Vor Schreck ließ er es beinahe fallen. Wieder eine SMS…. „10 minutes or you will miss them both. You know where.” Fassungslos starrte er den kurzen Text an. Was sollte das heißen? Zehn Minuten? Wie sollte er es in zehn Minuten zum Fußballplatz schaffen, das war sogar mit zwei gesunden Beinen unmöglich. Seine Gedanken überschlugen sich, und Tsubasa zwang sich erneut zur Ruhe und einigermaßen logisch über die Sache nachzudenken. Punkt 1: Taro war am Leben, das war zumindest wahrscheinlich. Punkt 2: Der Typ war hier. Entweder das, oder es waren zwei, aber aus irgendeinem Grund glaubte Tsubasa nicht daran. Punkt 3: Wenn er hier war, konnte er nicht auf dem Fußballplatz sein. Das bedeutete, Daichi war auch nicht auf dem Fußballplatz. Damit war die erste SMS falsch und das erklärte die zehn Minuten. Punkt 4: Wenn der Typ hier war, wusste er, dass Tsubasa hier war. Es gab keinen anderen Grund, Taro anzugreifen… Der Stein oder was auch immer war vermutlich wieder ein Ablenkungsmanöver gewesen, um seinen Freund nach oben zu locken. Punkt 5: Der Typ wollte Tsubasa hier im Haus haben. Allein. Um… ja, um was? Mit einem Mal kam ihm ein äußerst beunruhigender Gedanke, unwillkürlich wandte er den Kopf und blickte zu der Tür hinüber, die in die Küche führte. Dann sah er auf die Uhr. Drei Minuten von den zehn waren um. Sieben blieben ihm noch. You know where. Er wusste nicht, ob er für seine Vorahnung, die ihn veranlasst hatte, die Tabletten zu schlucken, dankbar sein sollte. Sein Bein war zumindest in ruhiger Haltung angenehm taub, das Mittel wirkte. Blieb nur zu hoffen, dass die Nebenwirkungen ausblieben. Und dass er sich nicht irrte. Wobei, wenn er sich irrte, würde er es niemals schaffen, in zehn Minuten dort zu sein, wo der Typ ihn haben wollte. Schon allein deswegen, weil er dann keine Ahnung hatte, wo der Typ ihn haben wollte. Die Aussicht, sich nicht zu irren, war jedoch mindestens genauso schlimm. Er packte die Lehne der Couch und zwang sich langsam und mühsam nach oben. Sein verletztes Bein protestierte wie erwartet schon bei der Bewegung mit einem dumpfen Pochen, aber die Tabletten hielten die Schmerzen in Grenzen. Trotzdem versuchte er, es so wenig wie möglich zu belasten, stützte sich so weit es ging an Möbeln und der Wand ab, während er sich langsam in Richtung Küche vorarbeitete. Wieder verfluchte er Kojiro innerlich für seinen überhasteten Aufbruch und den Diebstahl der Krücken. Der Weg schien endlos, und als er die Tür endlich erreichte und sich zumindest für ein paar Augenblicke am Türrahmen festhalten konnte, um dem verletzten Muskel wenigstens eine kurze Ruhepause zu gönnen, fühlte er bereits kalten Schweiß auf seiner Haut. Er achtete nicht darauf, sondern warf statt dessen einen Blick auf die große Küchenuhr an der Wand. Noch vier Minuten. Sein Blick glitt an der Uhr vorbei in Richtung Kellertür. Sie stand offen. Heute Nachmittag war sie nicht offen gewesen, Tsubasa war sich sicher. Seine Mutter ließ die Tür niemals grundlos offen stehen. Meistens war sie sogar abgeschlossen. Aber jetzt stand sie offen, weit und einladend. Den Raum unten am Fuß der Treppe konnte er von seiner Position aus nicht sehen, nur so weit, dass auch die zweite Tür geöffnet und der Raum dahinter dunkel war. Tsubasa schloss wieder für ein paar Sekunden die Augen. Er fror mit einem Male, und das hatte sicher nichts mit seiner Verletzung oder mit den Tabletten zu tun, genauso wenig wie das Zittern seiner Hände, die sich immer noch fest an das Holz des Türrahmens klammerten. Er zwang sich, an Taro und Daichi zu denken, dann humpelte er die letzten paar Meter bis zur Kellertreppe hinüber, wieder jede Möglichkeit nutzend, um sich abzustützen. Noch drei Minuten….. An der ersten Stufe blieb er wieder kurz stehen und starrte ihn die gähnende Öffnung unter ihm, dann machte er sich an den langsamen, mühsamen Abstieg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)