The Sweetest Girl von fatua (Taito-Challenge) ================================================================================ Prolog: - überarbeitete Fassung - --------------------------------- The Sweetest Girl von Fatua Disclaimer Die Challenge-Vorgaben stammen von Shibui. Digimon und alle zugehörigen Charaktere gehören wem-auch-immer, jedenfalls nicht mir… Die Lyrics der „eingespielten“ Songs sind © der (meist im Text genannten) Künstler: “If I told you that” von Whitney Houston „Mädchen, lach doch mal“, von den Wise Guys Die restlichen Songtexte und –schnipsel (Get away, Sweetest girl, Do your Best, Lucky girl), die ich Yama oder Jamie P in den Mund gelegt habe, sind von mir. Und die Story in all ihrer Merkwürdigkeit gehört auch mir, juhuu ^__^ Ich benutze ab und an japanische Namensanhängsel, wenn es für mich sinnvoll klingt, bin aber diesbezüglich im Grunde ahnungslos und erhebe daher keinen Anspruch auf Richtigkeit… Außerdem habe ich die verschiedenen Namensversionen gemixt – Schande über mich und meine Kuh – aber ich habe wenigstens versucht, es personenbezogen und konsequent zu machen. ^^“ Mittwoch. Scheißtag. Ganze Nacht von ihm geträumt. Schlussfolgerungen: 1. Yama in Frauenkleidern ist noch heißer als ohnehin schon. 2. Mein Unterbewusstsein will mir etwas sagen – und es drückt sich auch ohne Freud’sche Analyse ziemlich deutlich aus. 3. Wenn Yama das rauskriegt, bin ich tot. Shit! Solche anregenden Träume sind gut für die Libido, aber schlecht für die Konzentration. Bin todmüde, kann meine eigene Schrift nicht mehr lesen und Yamura-sensei hat mich schon dreimal ermahnt, weil ich im Unterricht eingeschlafen bin… blöde Vertretung. Kaum älter als wir und bildet sich sonst was ein. Außerdem wirft sie Yama schon die ganze Zeit glühende Blicke zu, was ihm natürlich nicht auffällt. Aber verdammt, das ist mein Objekt der Begierde! Finger weg, Sensei! „Tai?“ Er sah immer noch total verpennt aus. „Hm?“ Yamatos Hand klopfte einen ungeduldigen Rhythmus auf sein Bein. „Die Stunde ist zu Ende. Mittagspause. Oder hast du keinen Hunger?“ „Oh.“ Tai blinzelte zu ihm hoch. „J-ja, doch, klar.“ Er beugte sich rasch zu seinem Rucksack hinunter, aber die Bewegung konnte sein plötzliches Erröten nicht verbergen. Tai war wirklich komisch in letzter Zeit… „Was ist los mit dir, Tai?“ „Nichts! Was soll schon sein?“ Umständlich und mit hochrotem Kopf packte er seine Hefte ein. Vergeblich suchte Yamato seinen Blick. Selbst als er eine Hand auf Tais Schulter legte und ihn mit sanfter Gewalt zu sich umdrehte, huschten die braunen Augen hilflos hin und her, ohne ihn anzusehen. „Du kannst mir vertrauen, Tai“, sagte Yamato leise, in einem Tonfall, von dem er hoffte, dass er beruhigend und verständnisvoll klang. Solange seine Stimme nur nicht seine eigene Unsicherheit verriet! „Bedrückt dich etwas? Hat es…“ Er stockte, aber er musste es wissen. „Hat es mit mir zu tun?“ Endlich sah Tai auf und die Verzweiflung in seinen weit aufgerissenen Augen versetzte Yamato einen Stich. „Du…“, begann er gequält. „Ich meine, ich…“ Unentschlossen biss er sich auf die Unterlippe. „Hier bist du, Matt! Du beschwerst dich doch sonst immer, dass wir nicht pünktlich genug anfangen!“ Kazu. Na toll. Der Gitarrist und Background-Sänger der Teenage Wolves besaß ein unglaubliches Talent, im falschen Augenblick aufzutauchen. „Ja, Mann! Gleich! – Tai…“ Yamatos Blick kehrte zu seinem Freund zurück, aber der hatte die Chance genutzt und sich aus seinem Griff befreit. Jetzt schlang er sich den Rucksack über die Schulter und lächelte schief – ein wenig traurig, aber vor allem erleichtert. „Schon gut, Yama. Es ist nicht wichtig.“ Aber der Blutstropfen, den er sich hastig von der Lippe leckte, sprach eine andere Sprache. „Ma~att… Wer zu spät kommt, gibt am Samstag einen aus!“ Doch Yamato stand da wie angewurzelt, überwältigt von seiner Verwirrung über Tais Verhalten und der neu hinzugekommenen Enttäuschung, die in seinem Herzen um die Herrschaft rangen. Wie kann es unwichtig sein, wenn du an nichts anderes denkst? „Es ist absolut unfair – diese blöde Kuh!“ Die Hälfte der U-Bahn-Passagiere drehte sich bei diesem lautstarken Wutausbruch zu Takeru um. Yamato verdrehte die Augen. „Schalte mal auf Zimmerlautstärke runter, Bruderherz. Ich hab zwar keine Ahnung, von wem du redest, aber vielleicht sitzt ihr Freund gerade neben dir.“ „Das kann ruhig jeder hören“, murrte Takeru, aber er drosselte seine Lautstärke. „Yamura-sensei, die neue Vertretungslehrerin. Zwölf Seiten muss ich abschreiben, zwölf! Und rat mal wieso!“ „Ich habe keine Ahnung.“ Yamato bereute beinahe, nachgefragt zu haben, aber Takeru – sonst eine echte Frohnatur – hatte so böse geschaut, dass es ihm einfach rausgerutscht war: „Was machst du denn für ein Gesicht?“ Und jetzt hatte er den Salat – einen empörten, mit Kraftausdrücken gespickten und äußerst detaillierten Vortrag über den Grund der schlechten Laune. So selten Takerus Wutausbrüche waren, so gefürchtet waren sie auch. Yamato seufzte und rief sich zur Geduld. „Erzähl.“ „Also“, begann Takeru. „Vertretungsunterricht, ja? Sinnlose Aufgaben, viel Gequatsche, kein Problem. Normalerweise jedenfalls. Aber nicht bei der Yamura. Sie hat zwar keine Ahnung, wie man eine Klasse in den Griff kriegt, aber mit ABM kennt sie sich bestens aus, die alte Zicke! Ehrlich, Mann…“ „Äh… ABM?“, warf Yamato ein, um die zweifellos folgende Flut der Beschimpfungen gleich im Keim zu ersticken. „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.“ Takeru griff sich an den Kopf. „Gott, warum strafst du mich mit einem ungebildeten Bruder?“ „Hey!“ Yamato versetzte ihm einen Rippenstoß. „Etwas mehr Respekt, bitte!“ Takeru beachtete ihn gar nicht. „Jedenfalls war es ziemlich laut, die Tussi konnte sich nicht durchsetzen und am Ende der Stunde schrieb sie dann nur die Hausaufgabe an die Tafel: den gelesenen Text abschreiben. Alle sechs Seiten.“ Yamato horchte auf. „Hast du nicht eben was von zwölf Seiten gesagt?“ „Wart’s ab.“ Takerus Miene verdüsterte sich weiter. „Das war natürlich keine Hausaufgabe, sondern eine Strafarbeit unter anderem Namen – die Tante war doch nur sauer, weil wir nicht still und brav waren wie ein Haufen kleiner Ja-Sager. Also hab ich mich gemeldet…“ „Und ihr gesagt, dass man heutzutage keine Strafarbeiten mehr geben darf?“, riet Yamato. „Das hat sie sicher unheimlich gefreut.“ „Nicht direkt.“ Takeru klang fast ein wenig verlegen. „Ich hab nur gesagt, dass reines Abschreiben meiner Meinung nach keine sinnvolle Ergänzung zum Unterricht ist und sie uns lieber eine Aufgabe geben sollte, bei der wir etwas lernen.“ „Autsch.“ Yamato verzog das Gesicht. „Was hat sie gesagt?“ „Dass ich die Aufgabe zweimal machen soll“, seufzte Takeru. „Brüderchen…“ Yamato holte tief Luft. „Du solltest endlich lernen, deine große Klappe zu halten. Nimm dir ein Beispiel an Kari, die denkt wenigstens nach, bevor sie…“ „Kari!“, unterbrach Takeru ihn so laut, dass Yamato zusammenzuckte und sich schon wieder alle Köpfe drehten. „Kari hat heute eindrucksvoll beweisen, dass sie genau das nicht tut! Nachdem ich schon die doppelte Aufgabe kassiert hatte, stand sie auf und sagte, ich hätte Recht und es sei unfair, mich dafür zu bestrafen.“ „Und?“ „Auch zwölf Seiten“, antwortete Takeru dumpf. „Und alles meinetwegen.“ „Meine Welt bricht zusammen“, kommentierte Yamato trocken. „Nicht mal auf Kari ist mehr Verlass.“ Takeru sprang auf. „Auf Kari ist…“ Er brach ab und ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen. „Ach, verdammt!“ Yamato zog die Augenbrauen hoch. „Was ist mit Kari?“ „Nichts.“ „Natürlich“, sagte Yamato in seinem patentierten „Brüderchen-ich-glaube-dir-kein-Wort“-Tonfall und fixierte Takeru abwartend. Es funktionierte. Takeru seufzte tief. „Ich wollte mich entschuldigen, weil sie meinetwegen Ärger hat. Ich hab sogar angeboten, die Aufgabe für sie zu machen, aber Kari ist fast ausgerastet. Sagte, es sei ihre eigene Entscheidung, sie könne die Konsequenzen selber tragen und ich solle sie nicht bevormunden. Bevormunden , Yamato! Was hat sie für ein Problem?“ „Frauen“, erklärte Yamato weltmännisch. „Da kann man nichts machen.“ „Tolle Aussichten“, stöhnte Takeru und ließ den Kopf mit einem Klonk rückwärts gegen die Fensterscheibe kippen. Yamato sah seinen Bruder durchdringend an. „Also bist du eigentlich gar nicht auf Yamura-sensei sauer, sondern bist mies drauf, weil du mit Kari Streit hast“, verkündete er das Ergebnis seiner Analyse. Takeru bedachte ihn mit einem bösen Blick. „Blödsinn – die Yamura ist schließlich an allem Schuld! Ohne die hätte Kari doch gar keinen Grund…“ Er merkte, dass er sich widersprach und verstummte. Mit rotem Kopf wandte er sich ab. Yamato konnte seinem wütenden Gemurmel nur einzelne Worte entnehmen: „Scheißlehrer… Scheißtag… Kari… fuck!“ Yamato seufzte. „Schreib ihr doch.“ „Was? Wem? Yamura-sensei? Aber…“ „Quatsch!“ Yamato gab seinem Bruder einen Klaps gegen die Stirn. „Kari sollst du schreiben. Wie ich sie kenne, hat sie sich inzwischen wieder beruhigt.“ „Ich weiß nicht…“ Trotz seines skeptischen Tonfalls kramte Takeru sein Handy hervor und begann zu tippen. Als Yamato den Hals reckte, um unauffällig auf das Display zu schielen, versetzte sein Bruder ihm einen Rippenstoß. „Das ist privat!“ „Schon gut…“ Reumütig rieb Yamato sich die schmerzende Seite. Während sein Bruder mit nachdenklich gerunzelter Stirn eine Nachricht tippte, sie kopfschüttelnd wieder löschte und von vorne anfing, lehnte er sich in seinem Sitz zurück und ließ den Blick durch den Wagen schweifen. Die U-Bahn beherbergte wie immer ein Sammelsurium mehr oder weniger interessanter Gestalten. Eine hagere Frau mit einem plärrenden Kleinkind und zunehmend genervter Miene, die böse Blicke von der üblichen Rotte Zeitung lesender Geschäftsmänner sammelte. Ein winziger Mann im Rollstuhl, den Kopf gegen die Nackenlehne gestützt bei dem verzweifelten Versuch, den Fahrplan an der viel zu weit entfernten Decke zu lesen – natürlich machte niemand Anstalten, ihm zu helfen. Aber ich bin ja auch nicht besser… Der Gedanke wurde unterbrochen, als die Bahn hielt und eine schnatternde Horde rosa-glitzernder Schülerinnen hereindrängte. Jemand trat ihm auf den Fuß, und sekundenlang hatte er ein kicherndes Mädchen auf dem Schoß, mit einem Gesicht wie aus der Make-up-Werbung und umgeben von einer schier atemberaubenden Parfümwolke, die ihn in Vanilleduft zu ersticken drohte. Yamato hielt die Luft an. Vanille. Igitt. Kurz vor seinem endgültigen Erstickungstod kam das Mädchen wieder auf die Beine und zwinkerte ihm zu, bevor es in seiner Clique untertauchte. Immer noch völlig überrascht und leicht benommen von der vanillinen Vergewaltigung seines Geruchssinns sah Yamato ihr nach. Sein Blick wurde von der ganzen Gruppe mit Gelächter und Erröten quittiert. Yamato verdrehte die Augen. Die hat doch jemand geklont, da verwette ich meinen Bass drauf… Falsches Thema. Bloß keine Wetten mehr. Kellner, einmal Ablenkung bitte! Schnell drehte er den Kopf in die andere Richtung. In der anderen Ecke waren drei bemüht unauffällige Teenager mit einer bemüht harmlos aussehenden Transaktion beschäftigt. Der größte von ihnen, ein braunhaariger Wuschelkopf, deckte den Vorgang mit seinem breiten Kreuz. Yamato starrte seinen Rücken an. Die chaotische Frisur erinnerte ihn an jemanden… und an die Sorgen, die er heimlich hegte. Irgendetwas stimmte nicht mit Tai. Sein bester Freund, der immer die Sonnenseite des Lebens sah und es zur Perfektion beherrschte, selbst einen düster gestimmten Yamato mit seiner Energie und anhaltend guten Laune anzustecken oder wenigstens solange zu nerven, bis er sich ein Lächeln abrang – dieser Tai schien verschwunden. Es war keine Veränderung, die man auf den ersten Blick bemerkte – seine vielen Freunde und Bekannten erlebten Tai nach wie vor als das beliebte gutgelaunte Energiebündel, das er immer war. Aber Yamato war keiner dieser x-beliebigen Freunde und er als einziger durchschaute die Maske, hinter der sich der wahre Tai verbarg. Und eine Maske war es ohne Frage, das Gesicht, das Tai der Außenwelt zeigte… Seine Fröhlichkeit wirkte übertrieben, die selbstsichere Energie war einer nervösen Unruhe gewichen. Wenn Yamato ihn aus der Entfernung beobachtete, war er still und nachdenklich. Und immer wieder dieser verträumte Blick ins Leere… Der Junge mit Tais Frisur drehte sich um und die Ähnlichkeit war dahin. Schmale schwarze Augen fixierten Yamato herausfordernd. Er wich dem Blick aus. Na toll: gackernde Mädchen rechts, mordlustige Dealer links – wo konnte man denn noch gefahrlos hinsehen? Den Blick gelangweilt auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, wurde ihm erst nach einer ganzen Weile bewusst, was er da anstarrte. Es war eines der riesigen Plakate, mit denen eine geschickte Marketingfirma seit einiger Zeit sämtliche verfügbaren Innenflächen der U-Bahn tapezierte – einschließlich der Fenster. Vor dem dramatischen Hintergrund dunkler Straßenschluchten posierte ein junger Mann, die Hände um den Rand des Bildes gekrallt, als wolle er aus dem Plakat heruntersteigen. Schwarze Augen funkelten in seinem kantigen Gesicht, das umrahmt war von weichen, dunklen Locken, und ein geheimnisvolles Lächeln lag auf seinen Lippen. Jamie P, Gitarrist und Sänger der Rockband Midnight Fire , geradezu verboten gut aussehend und obendrein mit einer hinreißenden Stimme gesegnet, war der Schwarm alle Frauen, und – davon war Yamato überzeugt – nicht weniger Männer. Mit seinem neusten Hit, der Ballade „The sweetest Girl“, hatte Jamie P die Charts im Sturm erobert und sich damit endgültig zu Yamatos größtem Vorbild aufgeschwungen. Und im Augenblick wollte er diesen Namen nie wieder hören. Das Intro zum neusten Lied der Teenage Wolves verkündete den Eingang einer SMS. Takeru, der in den vergangenen Minuten wie hypnotisiert auf das stumme Handy gestarrt hatte, zuckte zusammen und brauchte drei Anläufe, um die Tastensperre auszuschalten. Kari hatte geantwortet. Mir tut’s auch Leid. Freitag Film-Night? Ich ruf dich später an. HDL Kari „Yeah!“ Takeru stieß eine Faust in die Luft und verfehlte knapp einen älteren Mann, der ihn mit einem bösen Blick bedachte. „Hey, Yamato! Kari ist nicht mehr sauer!“ „Prima.“ Yamato hatte kein Wort verstanden, nur auf seinen Namen reagiert und reflexartig geantwortet, aber in seiner neu gefundenen guten Laune bemerkte Takeru diese geistige Abwesenheit gar nicht. „Hab ich dir eigentlich von dem Film erzählt, den wir letzte Woche gesehen haben? Das war eine ganz üble Schnulze, ich hab mir nicht mal den Titel gemerkt – irgendwas mit Rosen, Schmerz und Leidenschaft. Selbst Kari hat zugegeben, dass es der pure Kitsch war…“ „Hm…“ Yamato hörte nur noch einzelne Wörter, ohne der Erzählung folgen zu können. Seine Gedanken waren mit Jamie P beschäftigt und mit dem Riesenfehler, den er gemacht hatte. Warum gelang es Yoshi immer wieder, ihn herauszufordern? Und warum hatte er nicht einfach nein gesagt? „…und rennt ohne Jacke in den strömenden Regen hinaus.“ Takerus Stimme plätscherte dahin wie ein kleiner Wasserfall, lebhaft aber bedeutungslos. „Er natürlich hinterher. Happy-End im Regen. Alles höchst dramatisch… Die Schauspieler waren am nächsten Tag bestimmt beide erkältet.“ Er grinste. „Als ich das zu Kari sagte, hat sie mich vom Sofa geschubst. Frauen und ihre romantischen Illusionen…“ Er seufzte und sah seinen Bruder an. „Yamato, hörst du mir überhaupt zu?“ Nein, natürlich nicht. Aber musste man das zugeben? „Äh… klar…“ „Na dann… ich hab Kari das Versprechen abgerungen, dass ich den nächsten Film aussuchen darf. Ich glaube, ich nehme so einen richtig düsteren Psycho-Schocker, vielleicht kriegt sie dann Angst und wünscht sich einen Beschützer…“ Er kicherte. „Was hältst du davon?“ Yamato kannte zwar die Frage nicht, aber… „Super, Takeru. Gute Idee.“ Selbst ein euphorischer Takeru kapierte es nach einer Weile, wenn man ihm nicht zuhörte. Er runzelte die Stirn. „Hast du schon gehört? Ab heute scheint die Sonne nur noch nachts!“ „Mhm.“ Einfach mal zustimmend murmeln. Wird schon passen. Warum zum Teufel hatte er Yoshi nicht einfach abgeblockt? Ach ja. In Gedanken war er wieder in der Schule, im Probenraum der Teenage Wolves – Yoshi, Schlagzeuger und größte Klappe der Band, hockte grinsend auf einem Tisch und hielt Yamato eine jungfräuliche Autogrammkarte unter die Nase, auf der Jamie P nachdenklich in die Ferne blickte. „Das schaffst du nicht. Nie im Leben.“ „Und übrigens wollen Kari und ich nächste Woche heiraten. Willst du mein Trauzeuge sein?“ „Wenn du meinst…“ Und dann stand Tai in der Tür, mit diesem merkwürdig entrückten Ausdruck im Gesicht, der so völlig seinem Wesen widersprach, und doch in letzter Zeit fast der Dauerzustand war. Er sah Yamato, lächelte verwirrt, und bevor Yamato wusste, was er tat, hörte er sich selbst sagen: „Wetten?“ Eine Hand wedelte vor seiner Nase herum und Yamato zuckte erschrocken zusammen. „Erde an Yamato!“ Takeru zitterte vor unterdrücktem Lachen. „In welchen Sphären schwebst du?“ Shit. Jetzt hatte er nicht nur einen deprimierten besten Freund am Hals, sondern auch noch eine Wette mit höchst pikantem Einsatz – schließlich sollte der Verlierer beim Konzert am Samstag auf der Bühne einen Striptease hinlegen. Mit finsterer Miene starrte Yamato den Sänger an. Wie sollte er da wieder rauskommen? Takeru folgte seinem Blick zu Jamie P, der vom Plakat auf sie herunterlächelte. „Sei ehrlich: bist du in Jamie P verknallt?“ „Yoshi hat gewettet, dass ich es nicht schaffe, mir ein Autogramm von ihm zu besorgen“, erklärte Yamato düster. „Und blöd, wie ich bin, habe ich dagegengehalten.“ „Hat er nicht so ein komisches Prinzip, dass er nur den hübschesten Frauen Autogramme gibt?“ „Exakt.“ „Einsatz?“ Yamato wurde rot und starrte stur geradeaus. „Ein Strip auf dem Konzert am Samstag.“ Takeru lachte. „Wer konnte jetzt seine große Klappe nicht halten, Bruderherz? Er hatte ja so Recht. Die U-Bahn hielt und Yamato sprang auf, froh, dem amüsierten Blick seines Bruders zu entkommen. Bloß raus hier! „Sag mal…“ Takeru hatte sich in seiner Jacke verkrallt, um nicht im Gedränge verloren zu gehen. „Warum schickst du nicht einfach eins von deinen Fangirls hin?“ „Weil wir so nicht gewettet haben. Yoshi hat behauptet, ich schaffe es nicht, mir ein Autogramm zu besorgen. Es geht nicht um den Besitz – es geht um den Akt.“ „Na und?“ Yamato warf einen Blick über die Schulter zurück und stolperte über die Schwelle zum Bahnsteig. „Autsch! Danke.“ Nur Takerus Klammergriff an seiner Jacke hatte ihn auf den Füßen gehalten. Ohne einen weiteren lebensgefährlichen Blick zu riskieren, schob sich Yamato durch die Menge der einsteigenden Passagiere. „Wir haben gewettet, Mann! Mit Handschlag besiegelt. Alles andere wäre Betrug.“ „Ach was“, sagte Takeru leichthin und schob Yamato sanft in Richtung Rolltreppe. „Ich nenne das List.“ „Es wäre unehrenhaft“, beharrte Yamato. Er drängelte sich an einem streitenden Pärchen vorbei. Sollte Takeru doch sehen, wo er blieb! Natürlich tat er seinem Bruder damit Unrecht, aber… Takeru musste sich tatsächlich anstrengen, um Schritt zu halten, stellte Yamato zufrieden fest. Trotzdem setzte er die Diskussion fort, nur unterbrochen von wiederholten Kollisionen mit gehetzt dreinblickenden Menschen, deren Aufmerksamkeit eher der Uhr als ihrer Umgebung galt. „Seit wann machst du dir denn Gedanken um die Familienehre?“ Familienehre? Yamato schnaubte. Was sollte denn davon noch übrig sein? „Es ist meine ganz persönliche Ehre, die hier auf dem Spiel steht!“ Selbst auf der Rolltreppe stapfte er unbeirrbar weiter. Nicht stehen bleiben, nicht Takeru ansehen und sich die eigene Blödheit eingestehen müssen. Fluchtverhalten, analysierte der sachlich denkende Teil seines Hirns. Na und, entgegnete Yamato Ishida persönlich. Lass mich doch abhauen, am besten wandere ich gleich aus. Spätestens nach diesem Konzert… Argh. Er schüttelte den Kopf, um die Vorstellung zu vertreiben. Nicht daran denken! „Deine Ehre, dass ich nicht lache.“ Takeru packte erneut Yamatos Jacke, als er zu entkommen drohte. „Das ist einfach dein Sturkopf, Yamato. Du bist zu stolz, um zuzugeben, dass es Dinge gibt, die du nicht…“ „Vielen Dank für die Analyse, Doktor Freud“, fauchte Yamato und riss sich los. „Yamato!“, hörte er Takeru hinter sich rufen. „Sei doch nicht so…“ Seine Stimme ging im Lärm der Umgebung unter, als Yamato ihn im Gedränge abhängte. Doch, ich bin so! dachte er wütend. Womit hatte er das verdient? Kleine Brüder! Viel zu vorlaut, viel zu frech, und für Yamatos Geschmack inzwischen auch entschieden zu schlau! „Zicke“, murmelte Takeru und ließ sich ohne Hektik weitertreiben. Yamato wartete vermutlich draußen auf ihn – wenn er wirklich sauer war, würden sie sich erst zu Hause wieder sehen. Aber Yamato hatte ihn noch nie vor verschlossener Tür stehen lassen, dafür war ihm der noch immer seltene Geschwister-Besuch zu wichtig. Im Eingangsbereich, wo das Gedränge etwas nachließ, zog Takeru sein Handy aus der Tasche und schrieb, während er gemütlich zum Ausgang schlenderte, eine weitere SMS. Yamato brauchte Hilfe – und Takeru kannte genau die richtige Person dafür. Ungeduldig, die Hände in den Hosentaschen vergraben, balancierte Yamato auf dem Rand der kahlen Blumenkästen entlang, die in einer endlosen Reihe die Straße säumten. Mach schon, Takeru. Er drehte um, folgte den Betonkübeln zurück und starrte eine Weile den Eingang an. Wieder Richtungswechsel und ein paar gelangweilte Schritte in Richtung Straße. Wo bleibt er denn? Hoffentlich ist nichts passiert… Aber was sollte schon passieren? „Blödsinn“, murmelte Yamato und zuckte zusammen, als hinter ihm Takerus Stimme erklang. „Na Bruder, wieder normal?“ Yamato fiel vor Schreck fast von seinem erhöhten Standpunkt. Takeru war neben ihm aufgetaucht, passte sein Tempo Yamatos Schritten an und sah im Laufen fragend zu ihm auf. Verärgert schien er nicht zu sein. „Was machst du, wenn du deine Wette verlierst?“ „Auswandern“, antwortete Yamato trübsinnig. Wenn er an den Wetteinsatz dachte, wollte er einfach nur im Erdboden versinken. Wo bitte war das nächste Mauseloch zum Verkriechen, wenn man es brauchte? „Ich meine es Ernst!“, sagte Takeru. „Willst du wirklich…?“ Nackt auf der Bühne tanzen? Yamato stöhnte auf bei dem Gedanken. „Ich muss die Wette gewinnen! Wenn ich nur wüsste, wie…“ Takeru grinste. „Ich weiß es“, verkündete er selbstgefällig. Yamato blieb stehen und blickte misstrauisch auf seinen Bruder hinab. „Du?“ „Dein genialer Bruder, stets zu Diensten.“ Takeru verbeugte sich mit ausgebreiteten Armen. „Mit freundlicher Unterstützung der göttlichen Kari.“ „Ach ja?“ Yamato blieb skeptisch. „Und wie wollt ihr mir helfen?“ Die Antwort ließ auf sich warten, denn in Takerus Jackentasche ertönte ein Gitarrenakkord, gefolgt von Yamatos energischer Stimme: „Sometimes I think the world’s gone mad and/ there’s no way out that I can see…“ Takeru hatte sein Handy hervorgeholt und das Klingeln mitten im Wort abgewürgt. Unauffällig lehnte Yamato sich zur Seite, doch er konnte nur das Bild erkennen, das den Absender der SMS verriet: Kari. Dann setzte sich Takeru wieder in Bewegung, senkte lesend den Kopf über das Handy – das war Absicht! – und sein Blondschopf versperrte Yamato die Sicht. „Ha!“, machte Takeru triumphierend. Toll, jetzt spielen wir wieder „Yamato neugierig machen“ – aber auf die Tour fall ich nicht rein! „Perfekt.“ Takeru schien nicht gewillt, das Spiel aufzugeben. Verdammt, natürlich weiß er, wie neugierig ich bin! Manchmal hasste Yamato seinen Bruder. „Was?“, fragte er betont gelangweilt. „Du gewinnst deine Wette.“ Takeru grinste zu ihm hoch und gestikulierte mit seinem Handy. „Kari schreibt – ich zitiere: Du spinnst, Takeru…“ Da, das Handy war in Reichweite. Bevor Takeru die drohende Gefahr auch nur ahnte, hatte Yamato es ihm aus der Hand gepflückt und las die erste Zeile. „Da steht nicht Takeru, da steht Süßer !“ Er lachte. „So weit seid ihr also schon?“ Takeru beschleunigte seine Schritte, aber Yamato konnte trotzdem sehen, dass er rot geworden war. „Wenn du schon dabei bist… lies weiter.“ Eine Erlaubnis? Welch unerwartete Ehre! Erstaunt senkte Yamato den Blick wieder aufs Display. Du spinnst, Süßer. Klar schaff ich das – Matt ist ja schon ein halbes Mädchen =P (das kommt davon, wenn man fremde SMS liest, Matt!) Wie bitte? Bei der Erziehung seiner Schwester hatte Tai eindeutig versagt! Yamato verfehlte den Randstein, knickte um und landete in der herbstlich kahlen Hecke, die nach dem Verlust ihrer Blätter nur noch aus Dornen zu bestehen schien. „Au! Verdammt!“ Takeru lachte und bückte sich nach seinem Handy, das Yamato aus der Hand geflogen war. „Selbst Schuld, großer Bruder!“ Yamato stöhnte auf. „Ich hasse dich!“ „Komm, steh auf.“ Takeru streckte ihm versöhnlich eine helfende Hand hin. Yamato schnaubte, aber er ließ sich auf die Beine ziehen und wandte sich wieder der drängendsten Frage zu: „Was zum Teufel habt ihr mit mir vor?“ Grinsend pflückte Takeru einen stacheligen Zweig aus Yamatos Haaren. „Du hast nur eine Chance, die Wette zu gewinnen. Du gehst am Freitag zu dem Konzert…“ „Aber…“ Yamato ahnte Böses. „Und zwar als Mädchen!“ Er hatte es kommen sehen. „Aber…“ Takeru ließ ihn nicht ausreden. Irgendwie mussten auch Yamato bei der Geschwistererziehung ein paar Fehler unterlaufen sein… „Du weißt doch, dass Kari Maskenbildnerin werden will? Sie macht jetzt schon Kurse und ist richtig gut. Du wirst das schönste Mädchen im Saal sein!“ „Aber…“ Takeru packte Yamato am Arm, sodass er stehen bleiben und ihn ansehen musste. „Überleg es dir. Entweder das, oder…“ „Oder was?“ Takeru ließ ihn los und zuckte mit den Schultern. „Du kannst immer noch auswandern.“ Donnerstag. Fuck, total verschlafen! Und jetzt steh ich hier, fünf Minuten vor Ende der Stunde und lasse eine gesalzene Strafpredigt über mich ergehen. Ist mir egal. Mathelehrer sind zum Ignorieren da. He, was macht Minako da neben Yama? Das ist mein Platz! Niemand schmachtet ungestraft meinen Yamato an! Na also, Mina verzieht sich. Ein überwältigendes Triumphgefühl braust durch mein Herz, als ich ihn erleichtert seufzen höre. Yama ist heute auch nur körperlich anwesend – ist er sauer wegen gestern? Gut, dass Kazu da war, fast hätte ich ihm alles gestanden… Yama starrt Löcher in die Luft, überhört Fragen und ausgerechnet in Musik hat er keine Ahnung, was der Lehrer von ihm will. „d-moll“, flüstere ich ihm zu, denn ausnahmsweise habe ich zugehört und kenne sogar die Antwort. Sein dankbarer Blick entschädigt für alles. „Oh nein, Kari. Nein!“ Yamato war stolz auf die Engelsgeduld, die er gezeigt hatte, während Kari und Takeru ihn durch das Kaufhaus schleiften, unter Kicheranfällen ein Kleiderkonzept für ihn entwarfen und bei einer raschen Anprobe seine Größe ermittelten, aber DAS war zuviel. Entsetzt starrte Yamato auf den Kleiderbügel in Karis Hand und das, was daran hing. „Ich bin doch kein Mädchen!“ „Falsch!“ Kari stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust. „Morgen Abend wirst du ein Mädchen sein. Und wenn du Jamie P überzeugen willst, musst du selbst daran glauben!“ „Schon gut, ich hab’s kapiert.“ Yamato starrte das Anstoß erregende Kleidungsstück an. „Aber warum kann ich keine Hose anziehen?“ Kari hob genervt die Augen zur Decke. „Weil man dann deine Figur zu sehr sieht!“ Beleidigt blickte Yamato an sich herab. „Was ist falsch an meiner Figur?“ „Perfekt!“ Takeru war im Nachbargang aufgetaucht, spähte über das Regal und grinste breit. „Das klingt doch schon sehr weiblich.“ Böse Blicke trafen ihn aus zwei sehr unterschiedlichen Augenpaaren und Takeru sah sich gezwungen, schnell für Ablenkung zu sorgen. „Hier, sind die nicht toll?“ Yamato riss die Augen auf, als er sich mit einer doppelten Handvoll ausgewählter Büstenhalter konfrontiert sah, aus roter Spitze, schwarzem Satin, sportlich gestreift oder – er schluckte krampfhaft – weiß mit rosa Herzchenstickerei. „Ich – äh – das heißt…“, krächzte er und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Kari runzelte die Stirn. „Es macht dir Spaß, in Damenwäsche zu wühlen, wie?“ Takerus Grinsen konnte nicht von der leichten Röte ablenken, die über seine Wangen kroch. „Ich muss mich doch informieren. Welcher würde dir denn gefallen?“ Yamato würgte. Elendes Geturtel! Kari verdrehte die Augen, aber sie war geschmeichelt, das verriet schon ihr Lächeln. „Weißt du, TK – wenn du erst mal ein paar Jahre älter bist, könntest du damit sogar durchkommen.“ Sie schnappte sich einen BH – ausgerechnet den rosa verzierten – und unterbrach sich nach einem Blick auf das Schild. „D-Körbchen? TK, was hast du für unrealistische Vorstellungen?“ „Naja…“ Takeru suchte nach Worten, warf Yamato einen Hilfe suchenden Blick zu und erhielt nur ein Schulterzucken als Antwort. Unwillkürlich sahen beide Kari an, die unter ihren prüfenden Blicken rot anlief. „Hey!“ Empört kreuzte sie die Arme vor der Brust. „Starrt mich nicht so an!“ Verdammt. Am besten so tun, als wäre nichts. Das verlegene Lachen seines Bruders im Ohr, wandte Yamato sich ganz unschuldig dem bunten Kleiderberg zu, der sich auf dem nächsten Angebotstisch türmte. Während er ein grellgrünes Neckholdertop betrachtete, ohne es wirklich zu sehen, hörte er Takeru und Kari leise über die passende Körbchengrößen diskutierten. „Aber B darf es schon sein, oder?“, flehte Takeru. „Komm schon, an A ist doch wirklich nichts dran… Oh, Entschuldigung, Kari.“ Takeru ließ heute aber auch kein Fettnäpfchen aus. Yamato schichtete die Kleidersammlung um und zog wahllos ein weiteres Oberteil heraus. „Ich geh dann mal und hole andere Größen…“ Takeru trat den Rückzug an und Yamato bemerkte plötzlich, was er in der Hand hielt. Rüschen, geraffter Ausschnitt, rosa… Schnell weg damit, bevor Kari diesen Alptraum von einem Kleidungsstück entdeckte… „Das ist hübsch, Matt!“ Zu spät. „Es ist rosa!“ Falsche Antwort. „Was hast du gegen rosa?“ Kari schien fast persönlich beleidigt. „Was hast du gegen mich ?“ Kari lachte. „Zugegeben, es ist nicht deine Farbe. Aber den Rock hier solltest du probieren. Weißt du, welche Größe du brauchst?“ Sehr witzig. „Lass mich überlegen“, tat Yamato nachdenklich. „Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal Frauenkleider gekauft habe.“ „Sei nicht so sarkastisch, Matt“, tadelte Kari ihn sanft. „Ich hab dich bisher nicht ausgelacht, oder? Also lächel mal.“ Yamato bleckte die Zähne. „Schon kapiert, du hast schlechte Laune.“ Mit einem Seufzen drückte Kari ihm den Rock in die Hand. „Da. Anziehen.“ Bamm! Die Tür der Umkleidekabine fiel mit einem Knall ins Schloss. Mechanisch begann Yamato, sich auszuziehen. Die Schuhe flogen in eine Ecke, die Jeans hinterher… Er holte tief Luft. Warum zitterten seine Hände jetzt so? „Bist du so weit, Matt?“ Kari drängelte schon. „Moment!“, rief Yamato fast panisch. Es musste wohl sein. Er zog den Rock hoch und kämpfte sekundenlang mit den Knöpfen, die sich auf der falschen Seite befanden, die gewohnten Bewegungen passten einfach nicht. „Passt er?“ Langsam verstand er Tais gelegentliche Beschwerden über seine „nervige kleine Schwester.“ Die süße, zurückhaltende Kari entpuppte sich als eine echte Belastung selbst für die stärksten Nerven. „Ich glaub schon“, murmelte Yamato und blickte an sich herunter. Ein grüner, knielanger Rock aus weichem Stoff, darunter seine schlanken, aber doch zu eckigen Beine. Er fühlte sich wie im falschen Film. Als Kari auf Zehenspitzen über die Tür spähte, zuckte er zusammen. „Die Größe stimmt“, sagte sie nachdenklich und Yamato stellte erstaunt fest, dass sie tatsächlich nicht über ihn lachte. „Aber die Farbe ist öde. Ich hol dir was anderes.“ Und schon war sie wieder weg. Wie erschlagen stand Yamato in der Mitte des kleinen Raums und starrte sich selbst im Spiegel an: bleiches Gesicht, zerzauste Haare, zierlich für einen Jungen… aber trotzdem eindeutig männlich. „I can’t resist/ that smile/ those looks/ these eyes…”, dudelte die Kaufhausmusik und die Worte, vorgetragen mit dieser unwiderstehlichen, romantisch rauen Stimme, schlichen sich heimlich durch den Gehörgang bis in seinen Kopf. „’cause she is just/ the sweetest girl of all…“ Takeru und Kari waren verrückt. Das konnte einfach nicht funktionieren! Zum 100. Mal spielte sich in seinem Kopf die gleiche Überlegung ab: Das klappt nie – ich kann das nicht – ich will das nicht – wenn mich jemand sieht! Oh, verdammt… Er kniff die Augen zu, als könnte das die in Schieflage geratene Welt wieder gerade rücken… und eine Handvoll Stoff, die auf seinem Kopf landete, vereitelte seinen verzweifelten Versuch, die Realität zu leugnen. Seufzend bückte er sich nach den abgestürzten Kleidungsstücken und zog mit spitzen Fingern einen kurzen, schwarzen Lederrock hervor. Hilfe, was ist das denn? Kari will mich wohl verarschen… Mit ausgeprägtem Widerwillen zwängte er sich in das Anstoß erregende Kleidungsstück und der Blick in den Spiegel bestätigte seinen ersten Eindruck. „Oh. Mein. Gott.“ Kari hing schon wieder über der Tür und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Hübsch – wirklich hübsch.“ Takerus Kopf tauchte neben ihr auf. „Domina Matt. Sehr überzeugend.“ „Vielen Dank“, gab Yamato pikiert zurück, aber die beiden waren schon verschwunden, prustend vor Lachen. - Kari - Yamato verliert langsam die Nerven. Irgendwie süß – sonst ist er so ruhig und beherrscht, aber diese Sache macht ihn total nervös. Er traut sich nicht mal aus der Umkleidekabine heraus, vor lauter Angst, dass ihn ein Bekannter entdecken könnte… Kein Wunder, eigentlich. Andererseits – selbst Schuld! Warum haben Männer immer das Gefühl, dass sie der Welt etwas beweisen müssen? Ich allerdings bin ihm fast dankbar – Yamato ist das perfekte Objekt für dieses Experiment! Er ist nicht nur zierlich genug, um als Mädchen durchzugehen, sondern auch wunderhübsch… ich könnte glatt neidisch werden auf seine feine, helle Haut und die langen Wimpern, die diese tiefblauen Augen umrahmen. Mit ein bisschen Make-up wird er atemberaubend aussehen… Eine gefühlte Ewigkeit später sank Yamato auf den Hocker nieder, der in einer Ecke der Kabine stand und inzwischen unter einem bunten Kleiderberg verschwunden war. Was ist nur aus meinem Leben geworden? , fragte er sich erschöpft. Seit einer Ewigkeit saß er hier bei der Anprobe fest, hatte widerstandslos Hunderte von Tops, Shirts, Blusen und – gezwungenermaßen – Röcken anprobiert und neben Takerus Lachen auch noch Karis Kommentare ertragen, die von Seufzen über Kichern und Kopfschütteln bis hin zu begeistertem Quietschen reichten. Himmel, er saß in einer Umkleidekabine und trug einen ausgestopften BH! „Möglichkeit Nr.2: Auswandern“ nahm langsam doch sehr verlockende Züge an. Aber wie jedes Mal in der vergangenen Stunde, wenn er das Ende seiner Geduld erreicht hatte, sah er sich selbst am Samstag auf der Bühne stehen, vor den Augen der ganzen Schule und eines grinsenden Yoshi, der triumphierend den versprochenen Wetteinsatz einforderte… Yamato schüttelte den Kopf, um das grauenerregende Bild zu vertreiben. Er hatte keine Wahl. Während er in Gedanken das Schicksal, Yoshi und nicht zuletzt sich selbst verfluchte, nahm er von Kari das nächste Outfit in Empfang. Ein halb durchsichtiges schwarzes Oberteil mit einem schmalen Streifen Plüschbesatz am Ausschnitt und an den langen Ärmeln, dazu ein kurzer Jeansrock, dessen Reißverschluss sich nur mit Mühe und unter leichten Schmerzen in einer sehr privaten Gegend schließen ließ. Yamato riskierte einen misstrauischen Blick in den Spiegel. Wow! Sah gar nicht mal schlecht aus… „Vergiss es“, riss Kari ihn aus den Gedanken. Yamato schreckte auf. „Was? Wieso?“ „Schau doch mal in den Spiegel.“ Tat er ja. Zu sehen war Yamato Ishida, blond, hübsch und sexy in einem engen Jeansrock… Moment. Hatte er das gerade wirklich gedacht? In seinem Kopf musste etwas gewaltig durcheinander geraten sein… Kari seufzte. „Der tut’s nicht, Matt. Hier, probier diesen. Da sieht man nicht…äh…“ „Was?“ „Naja, deine Figur entspricht nicht gerade den weiblichen Idealmaßen.“ „Was? Bin ich zu dick?“ „Ach was. Ich meine nur…“ Kari räusperte sich. „In einem so engen Rock sieht man einfach, dass du hinten weniger und vorne mehr hast als bei Frauen standardmäßig mitgeliefert wird. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie kicherte und tauchte hinter der Tür ab, bevor Yamato etwas nach ihr werfen konnte. Sein finsterer Blick streifte den Spiegel. Und er steht mir doch! Nur – als Mädchen würde er damit wirklich nicht durchgehen. Yamato seufzte. Endlich, drei weitere fruchtlose Versuche später, fand ein schwarzer Faltenrock Karis volle Zustimmung. „Perfekt!“, jubelte sie. „Der sitzt gut und ist schön weit…“ „Ja, und schön kurz“, murrte Yamato und zupfte am Saum des Röckchens, das gerade das obere Drittel seiner Oberschenkel bedeckte. „Du hast doch schöne Beine“, versuchte Kari, ihn zu beruhigen. „Das sieht klasse aus!“ „Ich weiß nicht…“ „Hör auf zu jammern.“ Takeru klang genervt, fast unfreundlich. Jede Begeisterung war aus seiner Stimme gewichen. „Bist du bald fertig?“ Yamato reckte den Kopf über die Kabinentür. Takeru stand direkt gegenüber an ein Regal gelehnt, die Arme verschränkt, und seine Augen waren hell und kalt wie das Eismeer. Als hätte er sich verbrannt, wich Yamato seinem Blick aus. Was war mit Takeru los? Er war doch sonst nicht so ungeduldig. Und schließlich war das hier seine Idee gewesen! Er wurde von Takerus Feindseligkeit abgelenkt, als Kari ihm ein neues Top reichte, ohne Träger, durchgehend gerafft und in einem leuchtenden Violett gehalten – Kari hatte eindeutig ein ungesundes Verhältnis zu dieser Farbrichtung. „Nein nein, zieh es einfach über das Schwarze.“ Yamato gehorchte und war angenehm überrascht. „Hey Kari, das sieht gut aus!“ Kari grinste ihn an. „Ich wusste doch, dass wir noch das Richtige für dich finden. „Hm, ja… aber muss es unbedingt violett sein?“ Kari legte den Kopf schief. „Die Farbe steht dir doch!“ „Jaaaa… aber –“ „Schon gut.“ Zum hundertsten Mal an diesem Tag hatte er Kari ein Seufzen entlockt. „Das Top gibt es auch noch in Petrol. Wenn du darauf bestehst…“ Petrol wie… Benzin? Was sollte das denn bitte für eine Farbe sein? Aber Kari hatte sich schon abgewandt und – wie Yamato mit einem flüchtigen Blick feststellte – schickte Takeru los, dessen Laune sichtlich auf Sturm stand. Wenn Kari nicht plötzlich erblindet war, ignorierte sie sein Missfallen einfach. Keine gute Taktik, das wusste er. - Takeru - Na super. Mein großer Bruder ist mal wieder der Mittelpunkt der Welt. Kari ist begeistert von der Herausforderung, behandelt Yamato wie eine Anziehpuppe in Lebensgröße und redet nur noch darüber, wie hübsch und süß und toll er doch ist. Ja, verdammt – ich bin eifersüchtig. Und ich bin auch noch selbst Schuld, schließlich habe ich selbst Kari mit in die Sache rein gezogen. Wäre ich doch bloß nicht so verdammt hilfsbereit gewesen! Warum kann ich auch nicht einmal meine Klappe halten? Kari dreht sich mit suchendem Blick zu mir um. Ah, ihr ist doch nicht etwa aufgefallen, dass ich auch noch existiere? „TK, magst du mal eben dieses Top in der anderen Farbe holen?“ Wenn ich ehrlich bin: nein. Aber ich bin nicht ehrlich, sondern gutmütig und latsche mal wieder quer durch den Laden, während Kari – meine Kari! – mit meinem Bruder Verkleiden spielt. Toll. - Miko Yamura - Eben ist er an mir vorbei gelaufen. Ich hab ihn nur von hinten gesehen, aber das reichte aus, um ihn zu erkennen. Seine schlanke Gestalt, die Haltung seiner Schultern, die Neigung des Kopfes, wenn er sich konzentriert… das alles ist mir so vertraut, als würde ich ihn schon ewig kennen, dabei bin ich ihm vor ein paar Tagen das erste Mal begegnet. Yamato Ishida, siebzehn Jahre, der hübscheste Schüler der höheren Klasse, die ich zur Vertretung übernommen habe. Wenn ich nur wüsste, was mich an ihm so fasziniert! Natürlich, da ist das fein geschnittene Gesicht und das blonde Haar, das ihn schon rein optisch zu etwas ganz Besonderem macht… aber mehr noch nimmt mich die Persönlichkeit gefangen, die aus seinen blauen Augen spricht: mal ganz ernst, mit tiefsinnigen Gedanken beschäftigt, dann wieder strahlend und mitreißend, manchmal auch verträumt und wie entrückt. Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder an ihm hängen bleibt, kann mich der Gedanken an ihn nicht erwehren. Inzwischen ist er längst in Richtung Anprobe verschwunden, aber mein Herz klopft immer noch wie verrückt und in meinem Bauch tanzt ein ganzer Schwarm Schmetterlinge Salsa. Woher kommen diese Gedanken? Keine Ahnung, wie es passieren konnte, aber ich habe mich verliebt. In einen Jungen, der vier Jahre jünger ist als ich und in meiner Vertretungsklasse sitzt… - Tai - „Sorry, ich bin mit Takeru verabredet“, hat Yama gesagt, als ich ihn nach der Schule zum Kaffee einladen wollte. „Ich geh mit TK shoppen!“, hat Kari vorhin im Flur gerufen, bevor sie in aller Eile davongestürzt ist. In meinem Kopf laufen immer wieder diese zwei Sätze ab, O-Ton und in voller Lautstärke. …bin mit Takeru verabredet… gehe mit TK shoppen… Repeat. Kari wird wohl die Wahrheit gesagt haben – warum sollte sie lügen? Und Yama? Nie würde Yama mich anlügen, möchte ich denken, aber mein misstrauisches, eifersüchtiges Herz ist anderer Meinung. Was hat er vor? Trifft er sich mit jemandem? Wer könnte es sein? Ich weiß genau, was mein Verstand dazu sagen würde, wenn ich ihn zu Wort kommen ließe: Es geht mich nichts an. Aber wie kann das sein, wenn ich seit Karis Abschied an nichts anderes mehr denken kann und ich bei dem Gedanken, dass Yama eine geheime Verabredung hat, fast verrückt werde? Ich weiß, meine Träume sind genau das – Illusionen, unausgesprochene Wünsche, die vielleicht nie erfüllt werden. Aber diese Ungewissheit ist eine endlose Folter… ich will es wenigstens wissen! Also streife ich seit einiger Zeit ziellos durchs Einkaufszentrum, halte Ausschau nach Yama und verdränge die begründete Ahnung, dass ich ihn hier nicht finden werde. Eigentlich habe ich ein schlechtes Gefühl dabei, Yama nachzuspionieren… Aber ist er es mir nicht auch schuldig, ehrlich zu sein? Schließlich ist er – ja, was? Mein bester Freund. Mehr nicht. So sehr ich es mir auch wünsche. Ein eisiger Blitz schießt durch meinen ganzen Körper, als ich Yamas blonden Haarschopf entdecke, der ein kleines Stück über die Tür der Umkleidekabine herausragt. Aber noch traue ich mich nicht näher ran. Takeru ist nirgends zu sehen, dafür steht Kari vor der Kabine, einen kleinen Berg Kleider über den Arm gelegt und redet. Anscheinend mit Yama, denn sonst ist niemand in der Nähe. Jetzt dreht sie sich um und… WTF? Kari schaut zu Yama in die Kabine. Und wenn Yama bekleidet wäre, würde er sicher herauskommen. Diesen Gedankengang will ich gar nicht weiterverfolgen. Jedenfalls nicht so bildlich, wie er sich gerade vor meinem inneren Auge präsentiert. Ich meine, ein unbekleideter Yama – wunderbar. Aber Kari hatte bisher keine Rolle in derartigen Träumen… Scheiße. Das kann nicht wahr sein! Mein Yama und… meine Schwester? Ich kann mich kaum entscheiden, was mich mehr eifersüchtig macht… Obwohl, bei näherem Nachdenken: Yama. Eindeutig Yama. Soll Kari doch selbst auf ihre Unschuld aufpassen. Yamato atmete auf, als er sich mit Karis Erlaubnis – das passende Outfit war schließlich gefunden – des Rockes entledigen konnte. Er sehnte sich nach den gewohnten bequemen Jeans und einem Hemd ohne Glitzer oder Pailletten und vor allem ohne einen Hauch von rosa… Doch dummerweise war es deutlich einfacher, sich in ein hautenges Top hinein zu manövrieren als es unbeschadet wieder auszuziehen. Ersteres war ihm mit einiger Mühe gelungen. Letzteres war eine Aufgabe mit unerwarteten Tücken, denn Yamato fühlte sich in dem schmalen Schlauch wie gefesselt. Selbst die kleinste Bewegung drohte die Nähte zu sprengen. „Äh, Matt… Ich glaube du solltest dich beeilen.“ Karis Stimme hatte einen drängenden Klang. Yamato hob den Kopf. Er hatte nun wirklich andere Sorgen! „Hm?“ „Sieh mal, wer da kommt.“ Yamato folgte Karis Blick – und erbleichte. Tai. Was hatte der denn hier zu suchen? Er war nun wirklich der Letzte, dem Yamato in diesem Moment begegnen wollte. „Oh nein. Nein! Scheiße… Kari, Hilfe!“ Blitzschnell schlüpfte sie in die Kabine. „Arme hoch“, befahl sie und zog ihm beide Oberteile zusammen über den Kopf. Einen Moment lang war er blind und taub, konnte nicht mehr atmen und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Dann war er frei, wenn auch ziemlich zerzaust, befreite seine Hände aus den Ärmelenden und versuchte, mit ungeschickten Fingern den BH-Verschluss in seinem Rücken zu öffnen. Kari faltete seelenruhig die Tops zusammen, während Yamato sich fast die Schulter ausrenkte – vergeblich. Ein gehetzter Blick über die Tür hinweg: Tai war nah genug, um Yamato in leichte Panik zu versetzen. „Kari“, rief er flehentlich. Sie warf einen Blick über die Schulter auf Tai, der zielstrebig und mit einem ganz ähnlichen Gesichtsausdruck wie Takeru zuvor auf sie zusteuerte. „Oh.“ Eine unzureichende Beschreibung der Situation, wie Yamato fand, aber sie reagierte blitzschnell, schlang die Arme um ihn und ließ mit der magischen Berührung einer Frauenhand den Verschluss aufspringen. Ausgerechnet diesen Augenblick wählte Tai, um die Tür der Umkleidekabine aufzureißen. Über Karis Kopf hinweg starrte er Yamato an. Angesichts der Fassungslosigkeit in Tais Blick schlug Yamatos leichte Panik urplötzlich in eisiges Entsetzen um. Warum musste Tai hier auftauchen? Warum ausgerechnet er, dessen Urteil ihm doch das Wichtigste auf der Welt war? Und warum zum Teufel gerade in diesem schlechtesten aller Augenblicke? Yamato schüttelte Kari ab, die es mit bewundernswerter Geistesgegenwart noch fertig brachte, ihm den BH vollends abzustreifen. Eines der Gelpolster fiel ihm auf den Fuß und kullerte über den Boden. Tai bemerkte es nicht. Sein Blick war starr auf Yamatos Gesicht gerichtet und sein Mund bewegte sich stumm, während er sichtlich nach Worten suchte. „Was – was ist denn hier los?“, brachte er schließlich heraus. Yamato schnappte nach Luft, als hätte er minutenlang nicht geatmet. „N-nichts“, stammelte er. „Gar nichts…“ In Tais Augen loderte plötzlich Wut auf. „ Nichts sieht anders aus, Yama!“ Jetzt drehte Kari sich zu ihrem Bruder um. „Spinnst du, Tai?“, fuhr sie ihn an. „Hör auf mit dem Blödsinn!“ Tai sah sie nur kurz an. „Du hältst dich da raus“, entgegnete er scharf. Erschrocken wich Kari zurück und drängte sich dabei unvermeidlich an Yamato. „Aber – Tai – es war wirklich nichts! Ich habe nur…“ „Kari“, unterbrach er sie und in seiner Stimme erkannte Yamato jenen mühsam beherrschten, warnenden Tonfall, den große Geschwister nur anschlagen, wenn sie es wirklich todernst meinen. „Lass uns allein.“ „Aber ich…“ „Raus“, fuhr Tai sie an und rückte eine knappe Handbreit zur Seite, sodass Kari sich an ihm vorbeizwängen konnte. Die zufallende Tür versetzte ihm einen Stoß, der ihn einen Schritt auf Yamato zustolpern ließ. Reflexartig wich dieser zurück, spürte die Kante des Hockers in den Kniekehlen und plumpste mit Schwung auf den Kleiderberg nieder, der sich darauf angesammelt hatte. „So.“ Tai beugte sich fast drohend zu ihm herunter. „Und jetzt will ich die Wahrheit hören.“ „Die – die Wahrheit?“ Yamato senkte den Blick. Warum hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen? Er hatte nichts getan, das Tais unbändige Wut gerechtfertigt hätte, und doch verspürte er das irrationale Bedürfnis, sich zu entschuldigen. „Tai…“, murmelte er und sah wieder zu ihm auf. „Kari wollte mir nur helfen!“ „Helfen?“ Tai sah nicht besänftigt aus – im Gegenteil. „Wobei hat sie dir denn geholfen? Beim Ausziehen?“ Wie immer, wenn er sich bedrängt fühlte, wurde Yamato wütend. „Wenn du es genau wissen willst: ja!“ Mit einem Ruck stand er auf und stellte mit grimmiger Befriedigung fest, dass er noch immer zwei Zentimeter größer war als sein Freund. Tai zuckte zusammen, als ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. Trotzdem dauerte es nur eine Sekunde, bevor sein Blick sich wieder in Yamatos Augen bohrte – und in sein Herz. „Ich verstehe“, sagte er schneidend. „Wobei hilft sie dir denn sonst noch? Vielleicht…“ „Tai.“ Yamato musste sich sehr bemühen, um seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Ihm war mehr danach, seinen Freund anzuschreien. „Würdest du jetzt bitte …“ „Was?“, fuhr Tai ihn an. „Den Mund halten und gehen? Dich mit Kari allein lassen? Damit ihr weitermachen könnt mit – mit…“ Er verlor den Faden, suchte stotternd nach Worten, und endete schließlich schwach: „…was auch immer das hier werden sollte…“ „Was denkst du denn, was es werden sollte?“, entgegnete Yamato bissig. „Was ich denke? Das fragst du noch?“ Tai wurde knallrot. Aber nicht vor Verlegenheit, wie sich im selben Moment zeigte – zornig versetzte er Yamato einen Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts wegstolpern ließ, bis ihm der Hocker in die Quere kam. Yamato verlor das Gleichgewicht, als seine Beine der Bewegung nicht mehr folgen konnten, kippte hintenüber und der ungeordnete Rückzug fand auf dem Boden ein unrühmliches Ende. Halb unter einem Kleiderberg begraben, das kalte Glas des Spiegels im Rücken und mit einem stechenden Schmerz im Hinterkopf schnappte Yamato nach Luft. Einen Moment herrschte Stille. Dann: „Yama…“ Yamato hob den Kopf. „Was?“, fauchte er. „Ich… hm… alles klar?“ Tai hielt ihm die Hand vor die Nase. Yamato packte sie und zog sich daran in die Höhe. Seine blauen Augen blitzten Unheil verkündend. Tai sollte sich besser vorsehen – jetzt war er wirklich wütend. „Super, Tai“, bemerkte er in scharfem Ton. „Vielen Dank. Das hat mir heute gerade noch gefehlt.“ „Schön“, erwiderte Tai gereizt. „Dann hab ich ja alles richtig gemacht.“ „Ja, und wie.“ Yamato tastete nach seinem Hinterkopf, wo der inzwischen dumpf pochende Schmerz eine prächtige Beule ankündigte. „Du bist wirklich ein Idiot!“ „ Ich bin ein Idiot? Wer macht denn hinter meinem Rücken mit meiner Schwester rum?“ „Fängst du schon wieder mit dem Scheiß an?“, fuhr Yamato auf. „Ich hab doch gesagt, da ist nichts!“ „Und ich habe schon gesagt, dass ich dir das nicht abnehme!“ Tai gestikulierte wild mit den Armen, was im beengten Raum der Kabine mehr als beängstigend war. „Die Szene eben war ja wohl eindeutig. Sogar du kannst dir an drei Fingern ausrechnen, was ich da dachte…“ Yamato schnaubte. „Hör lieber auf zu denken, bevor bei dem Versuch dein Kopf explodiert.“ Tai schnappte nach Luft. „Ach, das denkst du also auch von mir? Nichts im Kopf außer Fußball… vielen Dank für dein Vertrauen!“ Er machte Anstalten, sich umzudrehen. „Ach, Blödsinn!“ Yamato konnte nicht verhindern, dass er unwillkürlich die Stimme hob. „Das hat doch damit nichts zu tun!“ „Aber es stimmt, oder?“ „Es stimmt nicht !“ Warum fühlte er sich jetzt schuldig? Eben noch war es Tai gewesen, der ihn ungerecht behandelte, ihn grundlos anklagte, und jetzt? Irgendwie hatten sich die Rollen vertauscht, und in Tais Blick mischte sich die Wut mit einem anderem, stilleren Gefühl: er war nicht nur beleidigt, nein – er schien ehrlich verletzt. Tai wandte sich ab, doch Yamato war nicht bereit, ihn so leicht davonkommen zu lassen. Entschlossen packte er seinen Freund am Arm. „Jetzt hau bloß nicht ab! So albern hast du dich nicht mehr benommen, seit…“ In einer einzigen kraftvollen Bewegung riss Tai sich los, fuhr herum und drückte Yamato gegen die Wand, die den plötzlichen Gewaltausbruch mit einem protestierenden Knirschen quittierte. „ Ich benehme mich albern? Wenigstens betrüge ich nicht meine Freunde!“ „ Was? “ Das war endgültig zuviel. Yamatos Geduldsfaden riss, und Tai bekam die Folgen schmerzhaft zu spüren. Die Tür der Kabine klappte auf und ließ ihn rücklings zu Boden stürzen, als er mit dem ganzen Schwung des gerade erhaltenen Kinnhakens dagegen flog. Yamato kollidierte mit der zurück schwingenden Tür, stieß einen Fluch aus und stürmte Tai hinterher, erfüllt von gerechtem Zorn und ohne einen Gedanken daran, dass er mit nicht mehr als seinen Totenkopf-bedruckten Shorts am Leib alles andere als gesellschaftsfähig gekleidet war. Tai rappelte sich gerade auf, eine Hand an den Kiefer gepresst. Der Anblick versetzte Yamato einen Stich, der seine Wut auf einen Schlag verrauchen ließ. Mit einem Ruck kam er vor seinem Freund zum Stehen. Plötzlich wollte er nur noch Frieden schließen. Tai hob abwehrend die Fäuste, aber Yamato packte ihn an den Handgelenken, zog seine Hände nach unten und stellte sich dem anklagenden Blick. „Tai… es tut mir Leid.“ Tai zuckte unwillig, wie um sich aus dem Griff zu befreien, aber Yamato ließ ihn nicht los. „Tai…“ Er umklammerte die widerstrebenden Hände und sah ihm eindringlich in die Augen. „Hör mal – du glaubst doch nicht wirklich, ich hätte Interesse an deiner Schwester!“ Tai senkte verlegen den Blick, seine Mundwinkel zuckten. Wütend sah er nicht mehr aus, wirkte vielmehr unsicher, hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. Immerhin ein kleiner Erfolg. „Komm schon“, sagte Yamato mit einem leisen Lachen. „Takeru würde mich umbringen.“ Tai lächelte schwach. „Oder ich.“ Yamato jubelte innerlich. Er hatte gewonnen. Tais Hände entspannten sich und lagen jetzt warm und vertraut in seinen. Für die Spanne eines magischen Augenblicks standen sie so beieinander, wortlos, Hand in Hand, mögliche Zuschauer ebenso vergessen wie die Heftigkeit des vorangegangenen Streits. Dann hob Tai den Kopf und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Zum ersten Mal seit seinem Auftauchen nahm Yamato wieder die Musik wahr, die im Hintergrund weiterspielte. Ein uraltes Lied – war es nicht Whitney Houston, die es sang? „I know that we’re just friends/ but what if…“ Die Worte erschienen ihm wie für diesen Moment geschrieben. Von ihren verbundenen Händen ging eine Wärme aus, die seinen ganzen Körper durchströmte und ihn von Kopf bis Fuß elektrisierte. Tai kam mit leicht geöffneten Lippen ein Stückchen näher. In seinen Augen stand eine stumme Frage, doch er sprach nicht und Yamato ertappte sich bei dem Gedanken, wie diese weichen Lippen schmecken mochten… „Yamato Ishida?“ Sie fuhren auseinander, als wäre zwischen ihnen eine meterhohe Stichflamme aufgelodert. Yamato sah auf – mitten in ein hübsches, weibliches Gesicht, das er erst nach einem langen, verwirrten Augenblick Miko Yamura zuordnen konnte. Seiner Lehrerin. „Oh.“ Seine gewohnte Eloquenz hatte an diesem Tag merklich gelitten. „Yamura-sensei.“ „Außerhalb der Schule kannst du ruhig Miko sagen.“ „W-was?“ „Wenn du mich so förmlich ansprichst, fühle ich mich mega-alt.“ Sie lachte, schüttelte sich den Pony aus den Augen und schob mit geübter Geste ihren schmalen silbernen Haarreif zurecht. Und tatsächlich – in Jeans und einem Fan-Shirt von Midnight Fire sah Miko Yamura nicht mehr im Entferntesten aus wie eine Lehrerin. „Was machst du hier eigentlich? Ist das ein Werbe-Gag für deine Band?“ „Ein… was?“ Yamatos Verwirrung nahm inzwischen Ausmaße an, die sonst nur die Logarithmen-getränkte Sprache seines Mathelehrers hervorrief. Erst dieser merkwürdige Augenblick mit Tai und jetzt das… „Wovon sprechen Sie eigentlich?“ „Du, schon vergessen?“ Yamura-sensei – nein, Miko – lächelte und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Yamato blickte an sich herunter und wäre am Liebsten im Boden versunken. Hatte er wirklich die ganze Zeit in diesem Aufzug hier gestanden – in aller Öffentlichkeit? Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. „Was gucken Sie denn so?“, fauchte Tai, der plötzlich vor ihm stand und ihn vor Mikos abschätzendem Blick verbarg. Yamato hätte ihn am liebsten geküsst… Nein, halt! Besser nicht… „Ein wenig ungewöhnlich ist es schon, halbnackt im Kaufhaus zu stehen, findest du nicht?“ Ihr Lächeln hatte die Ausstrahlung einer Kampfansage. „Na und? Lass ihn doch, wenn es ihm Spaß macht!“ Spaß? Yamato blinzelte. Hatte er irgendetwas verpasst? Tai versetzte ihm einen sanften Stoß – Mach schon, verschwinde, ich lenke sie ab – bevor er sich zu voller Größe aufrichtete und Miko Yamura die Stirn bot. „Hm“, machte Miko und verzog amüsiert das Gesicht, während Yamato unauffällig den Rückzug antrat. „Und was bist du – sein Bodyguard?“ „Sein Stilberater“, entgegnete Tai schlagfertig. Miko erstickte ihr Lachen in einem gekünstelten Husten. Yamato bemerkte flüchtig den zweifelnden Blick, mit dem sie Tais kunstvoll zerrissene Jeans und die ausgeblichene Sportjacke bedachte, dann verschwand er in der Kabine. Mit dem Zuschwingen der Tür schien die Welt draußen sich in Nichts aufzulösen. Yamato lehnte den Kopf an den Spiegel und schloss die Augen. Warum? , dachte er. Warum musste immer ihm so etwas passieren? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Am liebsten hätte er die Zeit zurückgespult, um den Tag von vorne zu beginnen und alles anders zu machen. Aber wie? „Was hätte ich denn tun sollen?“, fragte er sein Spiegelbild anklagend. „Sag schon, du Idiot!“ In hilfloser Wut schlug er gegen den Spiegel. Am liebsten hätte er laut geschrieen, aber für heute hatte er wirklich genug Aufmerksamkeit genossen… Vernunft und Verzweiflung zügelten seine Stimme zu einem gebrochenen Flüstern. „Ach, verdammt!“ Er lehnte den Kopf an den Spiegel, die Stirn gegen das kalte Glas gedrückt. Nichts – das war die Antwort. Er hätte nichts ändern können, gar nichts. Er hatte eine Wette zu gewinnen und aufgeben kam nicht in Frage – Yoshi war ein unerbittlicher Wettpartner, der keinen Einsatz unbezahlt ließ, das wusste Yamato aus bitterer Erfahrung. Aber war das nicht schon Strafe genug für was-auch-immer sein Sündenkonto belasten mochte? Musste deshalb gleich alles schief gehen? Die Begegnung mit Yamura-sensei, oder Miko, wie sie ja genannt werden wollte… und Tai. Verdammt, ausgerechnet Tai! Was war da eben passiert? Yamato sah wieder sein Gesicht vor sich, dieses sanfte, fast zärtliche Lächeln, das hoffnungsvolle Leuchten in den dunklen Augen… und seine eigene Reaktion darauf, so neu, so fremd… Wäre Ya- ach, Miko nicht aufgetaucht, er wusste nicht, was geschehen wäre. Hätte er Tai wirklich geküsst? Himmel, wo kamen diese Gefühle her? Wenn Tai das wüsste – Yamato schauderte. Er konnte es sich lebhaft vorstellen – ein angewidertes „Ist ja voll schwul…“, dann würde er sich abwenden und nie wieder ein Wort mit ihm sprechen. Bloß das nicht! Yamato presste die Hände gegen die Schläfen. Tai durfte es einfach nicht erfahren. Er konnte schließlich keine Gedanken lesen… hoffentlich. Yamato schüttelte den Kopf und griff nach seinen Jeans. Nicht mehr dran denken. Am besten an gar nichts mehr denken. Nicht an Tai, nicht an die Wette, nicht an Miko Yamura und den ganzen verfluchten Scheiß… Vergiss es einfach! Aber das Vergessen wurde ihm nicht gerade leicht gemacht, denn im nächsten Moment stellte er fest, dass er sich mit sicherer Hand keineswegs seine Jeans geangelt hatte, sondern einen der vorher anprobierten Röcke – genauer gesagt den Rock, der zuvor als „sexy aber untauglich“ abgelehnt worden war. Yamato feuerte den Rock in die Ecke und knurrte unwillig. „Ich werde wahnsinnig!“ „Dann bleibt ja alles beim Alten“, kommentierte eine nur allzu bekannte Stimme lachend. Yamato fuhr herum. Tai lehnte mit lässig überkreuzten Armen auf der Türkante und hatte offenbar seine gute Laune wieder gefunden. Yamato hingegen… „Halt die Klappe“, brummte er. „Wo hast du denn unsere neue Freundin gelassen?“ Tai grinste. „ Deine neue Freundin unterhält sich gerade prächtig mit TK.“ „Mit Takeru?“ Yamato riss die Augen auf. „Unmöglich. Er hasst sie.“ Tai zuckte mit den Schultern, was in seiner augenblicklichen Stellung ziemlich merkwürdig aussah. „Dafür verstehen sie sich aber erstaunlich gut.“ Yamato stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte an Tai vorbei über die Tür. Tai drehte den Kopf, um seinem Blick zu folgen und seine Haare streiften Yamatos Wange. Für einen Augenblick nahm er nichts anderes mehr wahr als das Kitzeln seines Atems im Nacken, den schwachen Duft, der ihn umgab und der so ganz Tai war – frische Herbstluft, mit einem Hauch von Süße und einer herben Note, wie Bitterschokolade… Yamato schwankte und seine unwillkürlich erhobene Hand fand an Tais Schulter Halt. „Hey, alles klar?“ „Ja, klar.“ Yamato räusperte sich und hielt den Blick starr auf Miko Yamura gerichtet, neben der tatsächlich Takeru stand und mit lebhafter Gestik erzählte. „Was zum Teufel macht er da?“ „Er hasst sie also, hm?“ Yamato seufzte. „Ich glaube, im Augenblick hasst er vor allem mich.“ Jetzt war Tai an der Reihe, überrascht zu sein. „Dich? Wieso?“ Keine Antwort. „Yama? Was ist los?“ „Er ist eifersüchtig wegen…“ Yamato unterbrach sich. „Kari?“ Tais Schwester war soeben in sein Blickfeld getreten. Das dezente Klappern einer Tür ließ darauf schließen, dass sie aus einer der Umkleidekabinen gekommen war. Ihre Kleider waren jedoch noch die alten, auch wenn sie beiläufig den Sitz ihrer Bluse korrigierte. Sie begrüßte die Lehrerin mit einem höflichen Nicken und während sie sich dem Gespräch anschloss, legte Takeru ihr verstohlen grinsend den Arm um die Taille. „Äh… Tai…“ Vorsichtshalber verstärkte Yamato seinen Griff um Tais Schulter, bevor der auf die Idee kam, seinen Bruder zu erwürgen. Tai lachte leise. „Wenn ich mich nicht irre, ist TK eben aus derselben Tür gekommen.“ Yamato drehte sich fassungslos zu ihm um. „Und du willst ihn nicht umbringen?“ Stirnrunzelnd sah Tai ihn an. „Warum sollte ich?“ „Naja…“ Yamato zögerte. Sollte er das Thema wirklich erneut anschneiden? Aber Tai schien ehrlich verwirrt. Er gab sich einen Ruck. „Als Kari bei mir drin war, hast du dich wie ein Irrer auf mich gestürzt.“ „Oh.“ Eine zarte Röte überzog Tais Wangen. „Das… das ist doch was anderes.“ „Aber…“ „Hör mal, Yama…“ Tai schnitt ihm rücksichtslos das Wort ab. „Ich glaube, du solltest jetzt endlich deinen süßen kleinen Knackarsch wieder stilecht verpacken, sonst fallen deiner lieben Miko gleich wieder die Augen aus dem Kopf.“ Yamato spürte, wie er schon wieder rot wurde. „Sie ist nicht meine Miko“, murrte er und bückte sich, um in einem Berg zerknitterter Tops nach seinen Jeans zu wühlen. Um ehrlich zu sein: es war Tai , dem in diesem Moment fast die Augen aus dem Kopf fielen. Einen Moment herrschte eine fast andächtige Stille, dann fand Yamato endlich seine Jeans und schlüpfte hinein. Tai räusperte sich, aber seine Stimme klang trotzdem belegt, als er sagte: „Also, Yama… was hast du dir ausgesucht?“ „Was?“ Yamato hielt inne. Er war sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass sämtliche Kleider in der Kabine aus der Frauenabteilung stammten. Verlegen beschäftigte er sich mit seiner Jeans, korrigierte mit gekonntem Hüftschwung den Sitz der schmal geschnittenen Hose, bevor er sich doch noch zu Tai umdrehte – langsam und mit hochrotem Kopf. „Ich, äh…“ Tai schien sein Gestotter gar nicht zu bemerken. Sein Blick lag auf Yamatos Händen und verfolgte abwesend, wie sie mit fahrigen Bewegungen am Reißverschluss zerrten. Nach einer langen Sekunde riss er sich von dem Anblick los und schüttelte heftig den Kopf, wie um unwillkommene Gedanken zu vertreiben. „Sind das nicht deine Sachen?“ „Meine…“ Yamato schob den Fuß unter ein glitzerndes blaues Top und ließ es am Träger von seinen Zehen baumeln. „Seh’ ich aus, als würde ich so was anziehen?“ Tai starrte einen Moment lang auf das Top. Dann hob er den Kopf und grinste in gewohnter Manier. „Würde dir sicher gut stehen.“ Yamato schnaubte nur und ignorierte ihn, während er sein rotes Shirt über den Kopf zog, das graue Hemd darüber zuknöpfte und den einzelnen Socken überstreifte, den er im Schuh steckend wiederfand. Der zweite blieb verschwunden. Entnervt schlüpfte Yamato mit einem nackten Fuß in seine Chucks, ohne sich die Mühe zu machen, sie fester zu binden. Obwohl er nicht mehr aufsah, spürte er die ganze Zeit Tais Blick wie eine sanfte Berührung im Rücken. Schließlich jedoch konnte er den Moment nicht länger herauszögern. Die Jacke über den Arm gelegt, den Rucksack in der anderen Hand, schob er mit der Schulter die Tür auf. Er wurde mitten im Schritt aufgehalten, als Tai einen Arm ausstreckte und ihm den Weg versperrte. Überrascht hob Yamato den Kopf. Die Berührung einer warmen Hand auf seiner Brust erzeugte ein heißes Kribbeln in seinem Bauch, das sich im nächsten Augenblick durch seinen ganzen Körper ausbreitete, denn Tai packte ihn vorn am Hemd und zog ihn ganz zu sich hinaus. Yamato blieb der Mund offen stehen, sein Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es seinen Brustkorb sprengen. Unwillkürlich verspürte er den Drang zu fliehen, doch etwas hielt ihn fest, atemlos, wie erstarrt, und dieses Etwas war es auch, das die plötzliche Nähe mit einem geradezu perversen Glücksgefühl erwiderte. „Bist du nervös?“, hauchte Tai. Die dunkle Färbung seiner Stimme schickte einen wohligen Schauder über Yamatos Rücken und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. „N-nervös? Ich?“ Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch, doch das nahm Yamato nur am Rande wahr. Er war rettungslos verloren im intensiven Blick dieser schokobraunen Augen. Nervös? Völlig durcheinander hätte seinen Zustand besser beschrieben. Hatte Tai doch etwas gemerkt? Er räusperte sich. „Wie… wie kommst du darauf?“ Tais Mundwinkel zuckten, doch er bemühte sich, sein Grinsen zu verbergen und begann unerwartet geschickt Yamatos Hemd aufzuknöpfen. Auf halber Strecke hielt er inne und beugte sich vor. Yamato spürte eine flüchtige Berührung an seiner Wange, dann Tais warme Stimme nah an seinem Ohr. „Du hast einen Knopf vergessen“, flüsterte er. „Du musst wirklich durcheinander sein.“ „Oh…“ Das aufwallende warme Gefühl sackte bis in die Füße hinab und an seine Stelle trat peinliche Verlegenheit. Mit roten Wangen blickte Yamato zur Seite, während Tai sein Hemd wieder zuknöpfte – wenn auch nicht ganz so weit wie zuvor. „Hm… danke“, brachte er heiser heraus. „Für dich tu ich doch alles, Yama“, sagte Tai scherzhaft, aber sein Lächeln hatte etwas Trauriges, als er von Yamato abließ und sich umwandte. „Du musst schließlich einen guten Eindruck machen.“ Er legte Yamato eine Hand in den Rücken und schob ihn vorwärts. „Auf zu deiner neuen Freundin!“ „Tai! Halt, warte doch mal…“ Yamato sträubte sich vergeblich gegen diese Behandlung, doch er wurde einfach mitgeschleift. „Du hast da was falsch verstanden…“ Keine Antwort. Im Gegenteil, Tai zog ihn einfach mit sich und beförderte ihn mit Schwung in die Mitte des kleinen Kreises, der schon auf sie wartete. „Hier ist er wieder“, verkündete Tai im berufsmäßig begeisterten Ton eines Ansagers. „Der Star des Abends, ordentlich verpackt und bereit zum Interview.“ Yamato warf ihm einen bösen Blick zu – was sollte der Blödsinn? – und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Takeru und Kari tauschten verstohlen einen Blick, doch Miko strahlte ihn an, als wäre er tatsächlich gerade ins Spotlight einer Bühne gestolpert. „Hi, Matt! Da bist du ja wieder“, begrüßte sie ihn freudig. „Und, hast du was Passendes gefunden?“ „Ich, äh… nein“, erwiderte Yamato verwirrt. „Das richtige Outfit will eben gut gewählt sein.“ Sie bedachte ihn mit einem aufreizenden Lächeln. „Aber an dir würde alles gut aussehen.“ „Oh…“ Yamato lachte verlegen. „Danke.“ Miko warf einen Blick auf die Uhr und riss übertrieben die Augen auf. „Schon halb sechs? Verdammt, ich muss weiter.“ „Dann lassen Sie sich von uns nicht aufhalten“, sagte Tai bissig, bevor Yamato eine passende Erwiderung gefunden hatte. „Keine Angst“, erwiderte sie mit einem zuckersüßen Lächeln. „War mir eine Freude, euch hier zu treffen.“ Sie wandte sich zum Gehen und strich Yamato wie zufällig über den Arm, während sie sich zwischen Tai und ihm hindurch drängte. „Weißt du, dass ich ein großer Fan der Teenage Wolves bin?“ Überrascht sah er sie an. „Haben Sie uns denn schon mal gehört?“ „Noch nicht live.“ Sie neigte den Kopf. „Aber das Konzert am Samstag lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.“ „Ich dachte, Sie haben es eilig“, unterbrach Tai sie unhöflich. „Bin schon weg.“ Sie sah ihn unschuldig an. „Ich bin übrigens gespannt auf deinen Aufsatz, Tai. Drei Seiten bis morgen früh, das hast du doch nicht vergessen, oder?“ Sie drehte sich um. „Bis bald!“ Ein verschwörerisches Blinzeln, das Yamato endgültig in unbehagliche Verwirrung stürzte. „Viel Glück für deinen Auftritt, Yamato!“ Mit offenem Mund beobachtete er, wie sie davon stolzierte, jeder Schritt begleitet von einer dezenten Bewegung ihrer durchaus hübschen Kehrseite. „Ziege“, sagte Tai verächtlich. „Du sagst es“, stöhnte Takeru. „Dieser Hüftschwung…“, lästerte Kari. Yamato seufzte und verkniff sich die Bemerkung, dass Mikos Hüftschwung sie doch eigentlich ganz sympathisch machte. „Was hast du ihr erzählt, Takeru?“, fragte er stattdessen. „Ach, nicht viel…“, antwortete Takeru ausweichend. „Wir haben nur über die Schule geredet und… Au!“ Kari hatte ihm den Ellbogen in die Seite gerammt und sah jetzt missbilligend zu ihm auf. „Matt weiß doch, dass du den Mund nicht halten kannst. Steh wenigstens dazu, du Feigling.“ „Was?“ Yamato blickte beunruhigt von einem zum anderen. „Was hast du gesagt?“ „Nichts… lass das, Kari! Ich musste doch irgendwie deinen Auftritt hier erklären… Ich hab nur gesagt, es wäre deine Generalprobe für die Show am Samstag.“ „Meine…“ „Und das stimmt doch auch“, fuhr Takeru schnell fort. „Jedenfalls, wenn du… Aua! Verdammt, Kari…“ Aber Karis warnender Blick und ihr rasches Nicken in Tais Richtung brachten ihn zum Schweigen. „Tja, jetzt hast du wohl einen Groupie mehr am Hals, Matt“, warf sie ein und lachte hektisch. „Jungs, wir sollten uns beeilen. Ich habe gleich noch eine Verabredung. Mit einer Freundin , TK.“ Sie wandte sich ihrem Bruder zu. „Tai, tust du mir einen Gefallen? Du kennst doch den Laden for feet im oberen Stockwerk? Bitte, bitte holst du mir dort zwei Paar schwarze Strumpfhosen, bitte…“ Sie setzte eine flehende Miene auf. Tai stöhnte. „Kannst du das nicht selber machen?“ „Ich brauche aber auch noch Schuhe! Ach, bitte, Tai. Du bist auch mein allerliebster Bruder.“ Sie setzte einen Hundeblick auf, der selbst ein versteinertes Herz zum Schmelzen gebracht hätte und der Yamato sehr bekannt vorkam. „Kari…“ Tai raufte sich die Haare, was seiner Sturmfrisur den letzten Rest absichtlicher Wirkung nahm, den sie vielleicht einmal besessen haben mochte. Dann seufzte er. „Na gut, Nervensäge. Aber jetzt bist du mir echt was schuldig. Kommst du mit, Yama?“ „Ich…“, begann Yamato zögernd, aber Kari ersparte ihm die Suche nach einer passenden Ausrede. „Auf keinen Fall!“ Besitz ergreifend umklammerte sie seinen Arm. „Ich brauche Matt als Beratung, TK hat keine Ahnung von Schuhen.“ „Tut mir Leid, Tai.“ Yamato gestikulierte hilflos mit dem freien Arm. „Was soll ich machen?“ „Schon gut, okay.“ Resigniert streckte Tai seiner Schwester die leere Hand hin. Kari machte ein verwirrtes Gesicht. „Geld.“ Tai wackelte mit den Fingern. „Ich bin pleite.“ Freitag. Oh Mann. Der Abend gestern war wie ein endloser, seltsamer Traum – einer von den Träumen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Alptraum oder Paradies auf Erden sein wollen. Und heute? Yama redet nicht mit mir. Jedenfalls nicht über gestern. Die Nähe, die ich zwischen uns gespürt habe, ist verschwunden, restlos, als wäre nie etwas gewesen. Jetzt sitzt er da, starrt aus dem Fenster in den leichten Nieselregen und ist mit den Gedanken ganz weit weg. Ich habe keine Ahnung, woran er denkt, oder an wen. Ich hoffe, es ist nicht Miko, die uns heute schon dreimal zufällig über den Weg gelaufen ist und Yama mit allem Charme überschüttet, den sie aufbringen kann. Und das ist eine ganze Menge, das merkt sogar jemand wie ich, der sich gegen weibliche Reize als ziemlich immun betrachtet. Ich hasse ihr Lächeln, ein strahlendes beachte-mich-sprich-mit-mir-nimm-mich-hier-und-jetzt-Lächeln… Grr. Gebt mir nur eine Waffe! „Hey, Yoshi!“ Überrascht sah Yoshi von seinem Schließfach auf. „Yamura-sensei?“ „Miko, bitte.“ Sie kam gleich zur Sache. „Sag mal, was habt ihr am Samstag vor? Ich hab da was von einer Wette gehört…“ Yoshi seufzte. „Und jetzt wollen Sie es verbieten. Na toll, nicht mal ein bisschen Spaß darf man noch haben…“ „Ich will gar nichts verbieten“, unterbrach sie ihn schnell. „Dazu habe ich gar nicht die Befugnis.“ „Was wollen Sie dann?“ „Dir einen Deal vorschlagen. Du bestimmst den Wetteinsatz, richtig?“ „Ja“, antwortete Yoshi zögernd. „Und?“ „Dann kannst du deine Forderung auch ändern.“ „Schon… aber warum sollte ich das tun?“ Miko setzte eine unschuldige Miene auf. „Vielleicht, um zu vermeiden, dass die Rektorin Wind von der Sache bekommt…“ „Was?“ Yoshi starrte sie an. „Das ist Erpressung!“ „Na und?“ Sie lächelte begütigend. „Hör dir erstmal meinen Vorschlag an.“ „Vorschlag?“, entgegnete Yoshi ärgerlich. „Vorschrift trifft es wohl besser…“ Miko legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. „Sei nicht sauer, Yoshi. Du bekommst deinen Triumph – nur eben auf meine Art.“ „Sie lassen mir ja keine Wahl“, brummte Yoshi. „Wie soll Ihre Art aussehen?“ Ein siegessicheres Grinsen. „Also, pass auf…“ „Ma~att…“ Karis leicht genervter Ton deutete an, dass es nicht der erste Versuch war, seine Aufmerksamkeit zu erregen. „Bist du bald fertig?“ Ja. Völlig fertig. Nach der gerade durchgestandenen Prozedur im Badezimmer war ihm klar, warum Frauen so sprichwörtlich lange brauchen, um sich fertig zu machen. Erst die Folter mit den klebrigen Kaltwachsstreifen, deren Überreste mit Schwamm und Seife von der geröteten Haut geschrubbt werden mussten, das Duschen, umgeben von rosa duftenden Dampfschwaden – unnötig, zu erwähnen, von wem Erdbeer-Shampoo, Mango-Haarspülung und Magnolien-Duschgel stammten – dann noch die Ganzkörperbehandlung mit Aprikosen-Bodylotion und eine großzügige Dosis aus einem winzigen Deofläschchen mit dem Namen Grapefruit Giddy. Er roch wie ein ganzer Obstsalat. Mit richtig viel Zucker. Yamato knurrte genervt. Inzwischen hegte er den Verdacht, dass Strumpfhosen eine fiese Erfindung zur Qual erzwungener Cross-Dresser waren. Und wie man diese verdammten Polster in einem BH positionierte, sodass sie eine glaubhafte Wölbung hergaben, war ihm auch ein Rätsel. Diese ganze Aktion war eine unbeschreiblich blöde Idee… „Lebst du noch?“ Kari riss die Badezimmertür auf. Yamato zuckte zusammen und gab die fruchtlosen Versuche auf, den Sitz seines falschen Busens zu richten. Vor den Augen einer Frau an einem BH herumzufummeln, fühlte sich irgendwie unanständig an. „Mensch, Kari.“ Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Ich hätte auch noch nackt sein können. „Na und?“, entgegnete Kari ungerührt. „Ich habe einen Bruder – ich weiß, wie Jungs aussehen.“ „Oh Mann…“ Dieses Mädchen schien keinerlei Berührungsängste zu kennen. Yamato verdrehte die Augen und nahm sich vor, das nächste Mal auf jeden Fall abzuschließen. „Hilf mir mal.“ Kari schob kalte Hände unter seine Kleidung und benötigte nur Sekunden, um ihn mit einem hübschen Paar der hervorstechendsten weiblichen Merkmale auszustatten. Ungefähr genauso lang brauchte sie, um ihn zum Badewannenrand zu schieben, wo er schicksalsergeben niedersank, während seine selbst ernannte Stylistin ein Schminkköfferchen von beachtlichen Ausmaßen auf den Toilettendeckel wuchtete. Es war – o Wunder – blau. Kari hatte seinen erstaunten Blick bemerkt. „Nicht meine Farbe“, kommentierte sie mit einem Achselzucken. „Aber es war ein Geschenk von Tai.“ „Das hat Tai dir geschenkt?“ Er hätte nicht gedacht, dass Tai Sinn für etwas so weibliches wie die Make-up-Ausstattung seiner Schwester hatte. Kari hatte den Kofferdeckel aufgeklappt, einige Schminkutensilien griffbereit neben sich gelegt und drückte Make-up auf ein Schwämmchen. „Wieso, bist du neidisch? Mach mal die Augen zu.“ Yamato gehorchte. „Neidisch? Wegen einem Schminkkoffer?“ „…eines Schminkkoffers“, korrigierte Kari mit Genuss und ignorierte sein Stöhnen, während sie sanft sein Kinn umfasste. „Warum nicht? Wann hat er dir denn das letzte Mal etwas geschenkt?“ Sie begann, mit festen Strichen Make-up aufzutragen. „Tai? Keine Ahnung“, gab Yamato mit einem Schulterzucken zu. „Zu meinem Geburtstag, schätze ich. Oder… letzte Woche hat er mir neue Saiten für den Bass besorgt und wollte nichts dafür haben.“ Er schlug die Augen auf. „Komisch eigentlich… sonst hat er doch auch kein Geld übrig.“ „Glückspilz“, kommentierte Kari ungerührt. „Augen zu.“ Es folgte eine Ewigkeit stummen Leidens, nur unterbrochen von gelegentlichen Anweisungen. Augen auf, Augen zu, Augen auf, hochgucken, runtergucken, Mund auf, Mund zu, lächeln, Lippen spitzen… Yamato gehorchte automatisch und fühlte sich wie eine dressierte Maus. Oder vielleicht ein Clown bei den Aufwärmübungen vor der Show. Kein schlechter Vergleich, fand er. In knapp zwei Stunden würde der Vorhang aufgehen und ihn auf die Bühne spucken, damit er sich im Scheinwerferlicht lächerlich machte. Was für eine Metapher. Die Verzweiflung brachte anscheinend seine poetische Ader zum Vorschein. Einen Entschluss hatte er im Laufe der letzten zwei Tage jedenfalls gefasst: Nie wieder wetten. Das klang fast wie ein Songtitel. Never bet again. Yamato drehte und wendete den Titel in Gedanken. Vielleicht doch lieber No more bets? Oder kurz und knackig: Don’t bet. Nee, das hatte was von Omas Moralpredigt. Es würde ein witziger Song werden, schnell, rhythmisch, voller Selbstironie. Die Geschichte einer fatalen Wette, gewürzt mit einer Prise Wahrheit. Am Ende dann der Entschluss, nie wieder zu wetten, besiegelt mit einem Augenzwinkern und der viel sagenden letzten Zeile: You bet. Seine Finger kribbelten vor Sehnsucht nach den klingenden, vibrierenden Saiten. Er musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um nicht im Takt mitzuwippen, während sich in seinem Kopf die Harmonien zu einem neuen Song zusammenfanden. Melodiefetzen, Textschnipsel und die Herausforderung rhythmischer Silbenverteilung surrten im wilden Strom der Inspiration durch seinen Kopf. „Ein Reim auf say…“, murmelte er. „Way, hay, day, stay… flay…“ „Gay“, sagte Kari und kicherte. Yamato schlug die Augen auf und starrte sie böse an. „Mach dich nicht über mich lustig.“ Karis Miene hätte dem unschuldigsten Engelchen zur Ehre gereicht. „Weiß ich, über wen du Lieder schreibst?“ „Meistens über mich selbst“, entgegnete Yamato bissig. „Also: blöder Vorschlag.“ Kari grinste. „Schau mal in den Spiegel.“ Yamato stand auf und wäre sicherlich sofort wieder auf seinen Sitz herabgesunken – wenn er in dem Spiegelbild sich selbst erkannt hatte. So aber starrte er eine ganze Weile dieses fremde Gesicht an, das seinen Blick aus großen Augen erwiderte. Sie waren von einem strahlenden Blau, betont, aber nicht überstrahlt vom sparsam aufgetragenen Lidschatten. Irgendein Trick ließ die Kinnpartie weicher wirken, die Wangen waren sanft gerötet und die rosé umrandeten Lippen, voller und weicher als sonst, glänzten verführerisch. Yamato schluckte, sprachlos vor Erstaunen, Verwirrung, Schrecken… Als er seine Stimme wieder fand, klang sie rau. „Wahnsinn“, brachte er nur heraus. Karis Reimvorschlag erschien ihm auf einmal nicht mehr ganz unpassend… Gnädig sah Kari davon ab, ihn weiter zu necken. Stattdessen stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um mit Kamm und Bürste einen Großangriff auf seine Haaren startete, die nach der erduldeten Extrapflege glänzend und weich wie Seide seine Schultern streiften. „Was wird das denn?“, konnte er sich nicht verkneifen, sein Misstrauen auszusprechen. „Mhm“, machte Kari einsilbig. Möglicherweise, dachte Yamato, hatte das unerwartete Schweigen auch damit zu tun, dass eine Handvoll Haarklammern zwischen ihren Lippen klemmte. Geschickt steckte sie die Haare am Hinterkopf auf, zog eine Strähne hierhin, eine dorthin, zupfte die Spitzen zurecht und löste ein paar Ponysträhnen aus der Frisur, die sein Gesicht sanft umschmeichelten, ohne es zu verdecken. Yamato beobachtete fasziniert, wie diese neue Veränderung auch sein Gesicht zu verwandeln schien, ihm eine ganz andere Ausstrahlung verlieh. „Na, wie findest du dich?“ Kari hatte endlich alle Klammern verbraucht und musste die Erlösung von ihrem erzwungenen Schweigen natürlich sofort ausgiebig nutzen. Sie ließ Yamato keine Zeit für eine Antwort. „Das ist schon fast perfekt. Du hast wunderschöne Augen, ist dir das eigentlich klar? Genau wie TK…“ Sie seufzte hingerissen. Yamato hütete sich, das Schweigen zu brechen. O himmlische Stille. Erst nach einer Weile schien Kari aus ihren Gedanken aufzuwachen. „Wo war ich? Hm, lass mal sehen…“ Plötzlich wieder ganz geschäftsmäßig, musterte sie Yamato eingehend und nahm dann ein – natürlich rosafarbenes – Kästchen zur Hand. „Schade, dass du keine Ohrringe trägst…“, sagte sie, während sie in einer klimpernden Sammlung Modeschmuck wühlte, bei deren Anblick Bijou Brigitte, beste Freundin aller glitzerbegeisterten Teenies, vor Neid erblasst wäre. Yamato räusperte sich und behielt seine Gedanken für sich. Ohrringe? Er? Das wäre ja noch schöner! „…aber wofür gibt es Clips?!“, vollendete Kari den begonnenen Satz und hielt triumphierend ein Paar großer silberner Creolen hoch. „Komm her, Matt.“ Beim Anblick der Ohrringe wurden Yamato die Knie schwach. Himmel, die Dinger konnten auch bequem als Armreifen herhalten! Aber Widerstand war zwecklos, das hatte er inzwischen zur Genüge erfahren. Was Kari sich in den Kopf gesetzt hatte, das würde auch geschehen. Notfalls über seine Leiche. Und letztendlich ging es hier um ihn – um seine Wette, seine Ehre, seinen Stolz. Nur dass sein Stolz schon unter den Rettungsversuchen reichlich gelitten hatte… Seufzend fand er sich zum zweiten Mal auf dem schmalen Rand der Badewanne wieder, zum garantiert hundertsten Mal aufgeregt umflattert von Kari, die sich wie eine perfektionistische Künstlerin kurz vor der Vollendung ihres Meisterwerks gebärdete. „Autsch! Kari, reiß mir nicht das Ohr ab!“ „Huch, sorry!“ Irgendwie klang diese leichtfertige Entschuldigung nicht ganz ehrlich. Mit finsterem Gesicht ließ Yamato zu, dass Kari mit verschiedenen Ohrringen experimentierte, ihm Ketten anhielt, mehrmals unzufrieden den Kopf schüttelte und ihm schließlich ein schwarzes Satinband um den Hals legte, auf das ein schlichtes, silbernes Kreuz gefädelt war. Das erste geschmackvolle Schmuckstück, das ihm an diesem Abend untergekommen war, dachte Yamato ungnädig. Kari konnte zum Glück keine Gedanken lesen, aber seine Stimmung entging ihr nicht. „Du machst ein Gesicht, als würdest du nachher zum Schafott geführt. Sieh es als Spaß, Matt – es ist doch nichts dabei!“ „Für dich nicht“, knurrte er. „Du hast Recht“, stimmte sie ihm unerwartet zu. „Aber du selbst hast diese Entscheidung getroffen. Willst du jetzt einen Rückzieher machen? Ich habe dich eigentlich nie für einen Feigling gehalten…“ „Ich bin kein Feigling“, protestierte Yamato beleidigt und zugleich verärgert, weil sie ihn so mühelos zu manipulieren wusste. „Ich habe mich entschieden und jetzt ziehe ich das auch durch.“ „Na also“, sagte Kari aufmunternd, als wäre damit alles geklärt. „Du schaffst das schon.“ Sie lächelte. „Ich weiß jetzt schon, welches Lied Jamie P nachher für dich singen wird.“ Yamato starrte sie nur an, rettungslos hinter ihrem plötzlichen Gedankensprung zurückgeblieben. „Wieso? Für mich? Was denn?“ Kari räusperte sich, zog die Haarbürste als Mikroersatz hinzu und sang mit wenig Musikalität, aber viel gutem Willen: „Mädchen, lach doch mal – bitte, bitte lächel einmal nur für mich…“ Yamato sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Immer cool bleiben , sagte er sich. Gönn ihr nicht den Triumph. Fast hätte ihm Karis Darbietung tatsächlich ein Lachen entlockt. „Das ist aber nicht von Jamie P“, antwortete er nur trocken. „Sondern von den Wise Guys, ich weiß.“ Kari hatte wie aus dem Nichts eine Nagelfeile hervorgezaubert und griff jetzt nach seiner Hand. „Kannst du nicht wenigstens ein freundliches Gesicht machen? So läuft er ja vor dir weg, statt dir ein Autogramm zu geben.“ Yamato seufzte und verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. „Besser?“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Kari schauderte. „Sieht eher aus wie ein hungriger Zombie. Oder einer von diesen Monster-Clowns.“ Jetzt waren sie also bei den Clowns angekommen – er hatte es ja gewusst. Yamato ließ die Grimasse fallen. „Was für Clowns?“ „Na, diese bösen Clowns, die im Dunkeln lauern und kleine Kinder fressen“, erklärte Kari. „Du weißt schon.“ „Kenn ich nicht“, musste Yamato zugeben. „Alles klar bei dir, Kari?“ „Ich bin geschädigt“, stöhnte sie. „Zu viele Horrorfilme mit TK.“ „Ich sollte wohl mal ein ernstes Wort mit meinem Brüderchen reden.“ „Lass das mal.“ Kari lachte. „Es ist wirklich witzig, wie TK sich immer erschreckt.“ Yamato schnaubte amüsiert, doch das Lachen verging ihm, als sein Blick auf seine Nägel fiel, die Kari gerade in einem sanft schimmernden Perlmutt lackierte. „Sch…ande“, stieß er hervor, bevor er sich bremsen konnte. Kari sah auf. „Sei froh, dass du schöne Nägel hast, sonst hätten wir dir Krallen aufkleben müssen.“ Er schluckte trocken, und sie hob eine Hand, um ihm über die Wange zu streichen. „Lächeln, Matt, lächeln.“ Wie zum Teufel sollte er lächeln? Er wurde hier gequält, vergewaltigt, seiner Männlichkeit beraubt! Und dabei sollte er auch noch ein freundliches Gesicht machen. Wenn er an die kommende Tortur dachte, wurde ihm ganz flau im Magen. Verkleidet als Mädchen, mitten in einer riesigen Menschenmenge den Star des Jahrhunderts becircen, um ihm ein Autogramm abzuluchsen… Und dann noch lächeln? „Wie denn?“, krächzte er, plötzlich von Mutlosigkeit überwältigt. Kari griff nach oben und zog mit den Fingerspitzen seine Mundwinkel nach oben. „Einfach so.“ Sie ließ ihn los und verzog kritisch das Gesicht. „Sieht noch ein bisschen künstlich aus.“ Yamato stöhnte auf. „Das wird nichts.“ „Lächelst du sonst nie?“ Kari weigerte sich einfach, seine Äußerung auf das gesamte Vorhaben zu beziehen. „Was für ein Gesicht machst du bei deinen Freunden?“ Yamato überlegte einen Moment. Freunde ? Er dachte an die Wolves. Wie gucke ich… Freundlich, klar. Meistens gelassen. Wenn möglich, cool. Er stellte sich Kazu vor, der ihm mit einer Cola zuprostete und setzte ein lässiges, schiefes Grinsen auf. „Hm“, machte Kari. „Das ist ein bisschen zu cool. Wie wäre es etwas begeisterter?“ Begeistert? Das war einfach. Begeistert hieß Bühne. Und das Bühnenlächeln hatte er immerhin stundenlang vor dem Spiegel geübt. „Nein, nein, nein.“ Kari war nicht zufrieden. „Viel zu selbstbewusst. Jamie P steht auf der Bühne, nicht du. Du musst ihn mehr… anschmachten.“ „Anschmachten?“ Yamato starrte sie entsetzt an. „Ich bin Sänger, kein Schauspieler!“ „Ja, dem Himmel sei Dank.“ Sie grinste. „Guck nicht so beleidigt. Anschmachten geht so.“ Sie setzte einen Blick auf, der sich wirklich nur mit ‚Anschmachten’ beschreiben ließ. „Große Augen, ein leichtes Lächeln, zu ihm aufschauen…“, erklärte sie, ohne ihren verliebten Gesichtsausdruck zu verlieren. Wahrscheinlich hatte sie viel Übung… Yamato versuchte es, mit dem zweifelhaften Erfolg, dass Kari vor Lachen den Halt verlor und vor ihm auf die weißen Fliesen des Badezimmerbodens sank. „Süß, Matt, wirklich süß! Wie ein bettelnder Schoßhund.“ Sein böser Blick entlockte ihr ein Glucksen. „Tai hat den Blick auch perfekt drauf.“ Sie schnappte nach Luft und bemühte sich sichtlich, das Lachen zu kontrollieren, als sie einen weiteren Versuch startete, ihm den richtigen Gesichtsausdruck beizubringen. „Stell dir vor, du bist verliebt. Wie schaust du sie an?“ Yamato versuchte zu lächeln und hielt inne. Verliebt? Nachdenklich blickte er zur Seite, verfolgte den langen Riss in der zurückgeschobenen Plastikwand der Duschkabine. Wie würde er… wenn er… verliebt… Wie sollte man sich denn in so etwas hineinversetzen, verdammt? Wann war er das letzte Mal verliebt gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Komisch. Hieß es nicht, dass siebzehnjährige Schüler mitten in der Phase ‚Entdeckung der Liebe’ steckten? Warum zum Teufel spürte er dann nichts davon…? „Matt?“ „Ja… ich denke nach…“ Es musste doch irgendwas geben… Stell es dir einfach vor, kann doch nicht so schwer sein! Gut, also: irgendein Mädchen, vorzugsweise hübsch, bitte einmal anlächeln. Und nicht zu zaghaft, du sollst sie schließlich überzeugen. Er lächelte. Kari legte den Kopf schief. „Nicht ganz schlecht…“, begann sie zögernd, offenbar bestrebt, ihm Mut zu machen. „Vielleicht ein bisschen zu männlich… ein bisschen zu Macho…“ Yamato vergrub das Gesicht in den Händen. „Vorsicht, der Nagellack ist noch nicht ganz trocken“, rief Kari warnend. Yamato seufzte und spürte im selben Augenblick Karis Hand auf seiner Schulter. „Keine Angst, du schaffst das schon.“ Sie lachte leise. „Das Schlimmste ist schon vorbei.“ Verwirrt blickte er zu ihr auf. „Was?“ „Das Styling.“ Sie begann, die im Raum verstreuten Utensilien zur Verschönerung von Gesicht, Haar und Händen einzusammeln und Yamato stand auf. Der Blick in den Spiegel war auch beim zweiten Mal ein Schock. Kari hatte mit seiner Verwandlung wirklich ein Kunstwerk geschaffen. Die Schmuckauswahl, die sie schließlich getroffen hatte, konnte man fast elegant nennen. Yamato dachte mit Schaudern an die Riesencreolen, die Kari zu seiner Erleichterung schnell verworfen hatte. Drei feine silberne Ketten in unterschiedlicher Länge baumelten jetzt von seinen Ohrläppchen, auffällig, aber nicht aufdringlich, und das Halsband war genau der richtige Akzent über dem weiten, aber zum Glück nicht tiefen Ausschnitt des schwarzen Oberteils. Kari richtete sich auf und begegnete seinem Blick im Spiegel. „Zufrieden?“ „Wenn ich eine Frau wäre, sicher.“ „Das reicht mir.“ Sie lachte. „Fehlt nur noch…“ Sie kramte noch einmal kurz in ihrem Schminkkoffer, während Yamato beunruhigt abwartete, was nun wieder auf ihn zukam. „Dies hier.“ Etwas glitzerte in ihrer Hand, doch bevor er es erkennen konnte, hatte Kari den Gegenstand schon in seinem Haar befestigt. Es klirrte leise, als er den Kopf drehte und im Spiegel einen kleinen silbernen Schmetterling sah, dessen hauchdünne Flügel aus grün-blauem Glas im Licht funkelten. „Wow…“, murmelte er beeindruckt, doch nur einen Augenblick später meldeten sich Zweifel. „Kann ich die wirklich… Ich meine… war die nicht teuer?“ „Keine Ahnung.“ Kari zwinkerte ihm zu. „Hab ich auch von Tai, also war es wahrscheinlich ein Sonderangebot.“ „Du bist ganz schön fies zu deinem Bruder“, bemerkte Yamato, plötzlich überwältigt vom Pflichtgefühl, seinen Freund zu verteidigen. Kari zuckte mit den Schultern. „Eigentlich verstehen wir uns gut. Er ist nur manchmal so… unglaublich blöd .“ „Stimmt, manchmal begreift er wirklich gar nichts“, musste Yamato ihr Recht geben. So wie gestern… Der Gedanke hing unausgesprochen zwischen ihnen. „Aber er kann auch ganz anders sein. Aufmerksam und verständnisvoll und einfach…“ Er stockte und lachte hilflos. „Auch wenn er meistens eher an einen hyperaktiven Welpen erinnert.“ Kari nickte lachend, aber mit einem Mal verstummte sie. „Matt“, sagte sie mit strahlenden Augen. „Das war gerade das schönste Lächeln, das ich je an dir gesehen habe.“ - Takeru - Äußerst spannend, das Fernsehprogramm. Gähn. Noch drei Minuten und ich schlafe ein. Hoffentlich ist Kari bald fertig. Je eher Yamato zu diesem verdammten Konzert verschwindet, desto besser. Ich könnte sie suchen gehen, aber… lieber nicht. Ja, sie hat mir gestern in dieser Umkleidekabine mit aller Vehemenz klargemacht, dass sie mir gehört. Aber trotzdem will ich nicht sehen, wie sie mit meinem großen Bruder… Nicht daran denken, Takeru. Mu man tai. Scheiß-Talkshows. „TK!“ Woah, fast wäre ich vom Sofa gefallen. Aber da ist sie endlich, die willkommene Ablenkung. „Was ist?“ Ich angele mir die Fernbedienung vom Boden und setze mich auf, drehe den Ton leiser und schaue mich nach Kari um, die in der Tür steht. Diesen selbstzufriedenen Ausdruck kenne ich doch… Und da – „Wahnsinn.“ Ist das wirklich noch mein Bruder? „Und jetzt, Jungs und vor allem natürlich Mädels – der vorletzte Song für heute: Late Night Thoughts! “ Während die ersten Gitarrenriffs durch den Saal hallten, untermalt vom unvermeidlichen Geräuschpegel der begeisterten Fans, ließ Yamato den Blick durch den Raum schweifen. Eine unüberschaubare Menge drängelte sich vor der Bühne, feierte die Band, kreischte, lachte, tanzte Pogo. Das Halbdunkel im Saal wurde nur von wild aufblitzenden Lichtern und den farbigen Spots auf der Bühne unterbrochen, gegen deren unruhiges Licht sich die Figuren einzelner Crowdsurfer abhoben, die über der Menge zu schweben schienen. Yamato trank den letzten Schluck seiner Cola und stellte die leere Flasche auf den Boden. Den größten Teil des Konzerts hatte er hier verbracht, am Ende der Halle, zu verunsichert durch seine Aufmachung und nicht zuletzt den wackeligen Stand auf hohen Absätzen, um sich wie sonst ins Gedränge zu stürzen. Er wollte gar nicht wissen, wie viele seiner Mitschüler heute hier waren. Es musste pures Glück sein, das ihn bisher vor peinlichen Begegnungen bewahrt hatte. Mal abgesehen von der selbstgefälligen Anmache eines Studenten und dem Zusammenstoß mit Takai aus der Parallelklasse, der ihn nur musterte und anerkennend grinste, ohne ihn zu erkennen. Damit hatte er wohl die erste Prüfung überstanden. Auch wenn er fast in Ohnmacht gefallen wäre, als Takais Hand im Vorbeigehen seinen Hintern streifte… Aber trotz seiner Verlegenheit hatte er die Show genossen. Midnight Fire war eben einfach genial und Jamie P konnte wie kein anderer das Publikum zum Toben bringen. Auch nach über zwei Stunden schien er nichts von seiner Energie eingebüßt zu haben, legte atemberaubende Tanzeinlagen ein, ließ die Zuschauer den Refrain singen und ganz allgemein ‚rocked the house’. Jetzt wurde es allerdings Zeit, den Standort zu wechseln – gegen Ende seiner Konzerte pflegte Jamie P an die vorderen Reihen Autogramme zu verteilen. Und genau deswegen war er schließlich hier. Yamato stieß sich von der Wand ab. Auf geht’s! Im hinteren Bereich standen die Leute in lockeren Trauben, tranken Coke, wippten im Takt der Musik mit Füßen und Köpfen und versuchten, sich zu unterhalten. Yamato hatte das Gefühl, das alle Blicke an ihm hängen blieben. Mindestens die Hälfte der Männer starrte ihm nach und das war kein Wunder, dachte Yamato grimmig. Mit diesen Schuhen konnte man gar nicht anders als bei jedem Schritt mit dem Hintern zu wackeln… Er war fast erleichtert, als er endgültig ins Gedränge eintauchte. Für abschätzende Blicke blieb kein Platz mehr, doch an ihre Stelle trat der ständige Körperkontakt in einem Meer aus menschlichen Körpern, das in Wellen nach vorne wogte, schwankend wieder zurückwich und ihn in seinen unberechenbaren Strömungen mit sich zog. Yamato zwängte sich zwischen protestierenden Pärchen durch, umrundete einen Pogo-Circle und hatte das Gefühl, der Bühne nicht näher zu kommen. Schließlich blieb er stecken. „Keine Panik“, murmelte er. „Keine Panik…“ Aber er war regelrecht gefangen zwischen einem Mann von der Statur eines Kleiderschranks, dem äußeren Rand eines wild auf und ab hüpfenden Kreises und einer Horde jubelnder Mädchen, die ohne jeden Erfolg, aber mit unveränderter Begeisterung weiter nach vorne drängte. Verdammt! Yamato konnte sich nicht mehr bewegen. Die Luft war getränkt vom schweren Duftgemisch aneinander gedrängter Menschen – keuchender Atem, versagendes Deo, Schweißgeruch… Mit jedem Atemzug wuchs seine Verzweiflung. Niemals würde er so die vorderste Reihe erreichen. Die Bühne, Jamie P und das ersehnte Autogramm rückten in unerreichbare Ferne. Er war dabei, die Wette zu verlieren. Würde es so enden? Die ganze Mühe umsonst? Yamato erahnte nur die Bewegung über sich und riss die Hände in die Höhe, doch er war zu langsam. Ein Knie schlug schmerzhaft gegen seinen Kopf, als ein Crowdsurfer über ihm weitergereicht wurde. Im nächsten Moment öffnete sich der Kreis neben ihm, um einen Tänzer herauszulassen, der mit dem typischen euphorischen Schwung des Pogos und dem Feingefühl einer Kanonenkugel gegen Yamato prallte. Alle Luft wich mit einem Seufzen aus seinen Lungen, als er zu Boden ging. „Sorry, sorry!“ Der Schuldige war augenblicklich wieder aufgesprungen und half ihm auf die Beine. „Tut mir echt Leid! Alles klar?“ Aber bis Yamato soweit zu Atem gekommen war, dass er antworten konnte, war der Junge schon lachend in den Kreis zurückgekehrt, der sich hinter ihm schloss. Na toll. Yamato presste eine Hand auf den schmerzenden Magen. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Er zuckte zusammen, als ihm jemand einen Arm um die Schultern legte. Der Mann, dessen breites Kreuz ihm eben noch den Blick auf die Bühne versperrt hatte, sah ihn mit einem Retter-armer-Jungfrauen-Ausdruck an. „Brauchst du Hilfe, Süße?“ „I-ich?“ Yamato brachte nur ein erschrockenes Quietschen heraus, dessen er sich in jeder anderen Situation geschämt hätte. Heute passte es zur Rolle. „Nein, alles klar. Aber…“ Plötzlich stand ihm die Lösung klar vor Augen. „Hilfst du mir hoch?“ Der Mann grinste kaum sichtbar im Dämmerlicht. „Kein Problem.“ Er verschränkte die Hände zur Räuberleiter und beförderte Yamato mühelos in die Höhe. Im ersten Augenblick kribbelte die Angst in seinem Bauch, als er frei in der Luft hing. Dann fingen ihn unzählige Hände auf, hielten ihn in der Schwebe. Es war ein erhebendes Gefühl, wie Fliegen, wie Dahintreiben auf einer Welle, die sanft an den Strand rollt. Am Rande seines Bewusstseins hörte er Jamie Ps Stimme, der eine „ganz besondere Aktion“ ankündigte. Komisch, er hatte gar nicht gemerkt, dass das Stück schon vorbei war. Sein Orientierungssinn war nicht gerade erfreut über die sonderbare Fortbewegungsart, aber als er den Kopf drehte, entdeckte er Jamie P in unerwarteter Nähe. Er war fast bei der Bühne angekommen! Jetzt schnell runter, bevor er im Securitygraben landete… Aber das war leichter beschlossen als getan. So nah an der Bühne standen die Fans dicht gedrängt und vor allem die Mädchen verteidigten eifersüchtig ihren Platz in der Nähe des Stars. „Lasst mich runter!“ Yamato kämpfte erfolglos um einen Platz am Boden. Irgendeine Äußerung des Sängers ließ unter den Mädchen ekstatisches Kreischen aufbranden, aber er nahm es kaum wahr, spürte nur die Enttäuschung, als einer der Securitymänner nach ihm griff. Jamie P rief etwas, das nach „Sweetest Girl“ klang, wohl die Ansage des nächsten Songs. Erneut schrie die Menge auf, doch diesmal klang es fast enttäuscht. „Nein, lass mich!“ Yamato wehrte sich mit aller Kraft gegen den Mann, der ihn in den Graben hinunterzog, obwohl er wusste, dass es vergeblich war. Sein Blick fiel noch einmal auf Jamie P, der am Rand der Bühne stand, das Mikro in der Hand, und – o Wunder – ihn direkt ansah. „Ja, dich meine ich.“ Wie bitte, was? Yamatos Gegenwehr erlahmte. Der Securitymann stellte ihn auf die Beine, doch statt ihm einen Stoß in Richtung Ausgang zu geben, schob er das vermeintliche Mädchen zum Bühnenrand. Yamato schluckte und schaute zu Jamie P hoch, der ihm jetzt die Hand entgegenstreckte. „Komm, nicht so schüchtern!“ Zögernd nahm Yamato die dargebotene Hand, doch ihm blieb keine Zeit, das Geschehen zu verarbeiten. Er spürte zwei kräftige Hände um seine Mitte, als der Securitymann ihn packte und fand sich schwankend und verwirrt auf der Bühne wieder. Jamie P legte einen Arm um ihn und zog ihn an seine Seite. Unsicher sah Yamato zu ihm auf, doch Jamie P sprach schon wieder zum Publikum. „So, jetzt haben wir sie doch noch auf der Bühne, die schönste Frau des heutigen Abends. Ich präsentiere euch… Wie heißt du, Schätzchen?“ Er sah Yamato an, der sich mit aller Macht wünschte, in einem tiefen Loch zu versinken. Oder wenigstens in Ohnmacht zu fallen, wie es manche Mädchen bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegten… Jamie P sah ihn erwartungsvoll an. Yamato versuchte es mit einem Lächeln. „Y-yama…“, hauchte er. Tais Spitzname für ihn war das erste, was ihm in den Sinn kam. Aber Jamie P schien nicht im Geringsten verwundert. „Hier ist mein sweetest girl des heutigen Abends. Applaus für Yama-chan!“ Applaus und Geschrei rauschten in seinen Ohren. Yamatos Blick schweifte über die Menge. Beim Anblick der neiderfüllten Gesichter in der ersten Reihe drehte sich ihm der Magen um. Das Lächeln schien ihm auf den Lippen festzufrieren, und als Jamie P ihn sanft zu sich umdrehte, konnte er ihn nur wie hypnotisiert anstarren. Anschmachten , erinnerte er sich. Große Augen, lächeln… wie zum Teufel war er auf dieser Bühne gelandet? „Dieses Lied, das letzte für heute“, sagte Jamie P sanft und Yamatos Blick kehrte zu ihm zurück, „singe ich nur für dich, Yama-chan.“ Als sanfte Gitarrenklänge den Song einleiteten, trat er einen Schritt zurück, nahm Yamatos Hand und sank auf ein Knie nieder. Yamato konnte sehen, wie er leicht mit dem Kopf nickte, in Gedanken die Takte bis zu seinem Einsatz mitzählte. Dann begann er zu singen und Yamato konnte nicht mehr denken. „Seems like the world revolves around her…” Die tiefe Stimme brachte die Luft zum Vibrieren. Der Klang breitete sich um ihn aus wie ein Spinnennetz, wickelte ihn ein, raubte ihm den letzten Rest Fassung, den er sich noch bewahrt haben mochte. Jamie Ps dunkle Augen hafteten auf ihm, betörend und geheimnisvoll, und ohne jeden Zusammenhang musste er plötzlich an Tai denken, dessen Blick ebenso durchdringend sein konnte, ihn bis auf den Grund seiner Seele durchschaute… Jamie P stand langsam wieder auf. Während er sang, umrundete er Yamato, zog ihn an der Hand mit sich wie in einem Tanz, verwöhnte ihn mit sanften Berührungen. Aus dem Augenwinkel sah Yamato ein Funkeln im Publikum, als Hunderte von Feuerzeugen glimmende Spuren in die Dunkelheit zogen und wünschte sich ans Ende der Welt. Tais Augen blieben bei ihm, Trost und Ablenkung. Aber mit jedem Mal, wenn Jamie Ps Finger über seinen Hals strichen, seine Wange oder sein Haar berührten, nahm die Missbilligung in seinem Blick zu. Irgendwie ging das Lied vorbei und entgegen aller Erwartung war Yamato noch immer nicht vor Scham gestorben. Als die letzte Strophe endete, blieb Jamie P dicht vor ihm stehen und sah ihm tief in die Augen. „I can’t resist…“, sang er, die letzte Wiederholung des Refrains. Er wechselte das Mikro in die linke Hand und hob die Rechte, um mit den Fingerspitzen über Yamatos Schulter zu streichen, wo der Ausschnitt die nackte Haut entblößte. Yamato spürte die sanfte Berührung wie Feuer auf seiner Haut. „Cause you are just/ the sweetest girl of all…“ Jamie hauchte die letzte Zeile ins Mikro, das endlose Ritardando ließ seine Finger durch Haut und Muskeln brennen. Yamato zerfiel innerlich zu Asche. „…the sweetest girl…“ Der letzte Ton verklang und die Hand glitt in seinen Nacken. Der Sänger beugte sich über ihn, zog ihn an sich, und wie in einem Traum fühlte Yamato warme Lippen auf seinen. Unwillkürlich schloss er die Augen. In Gedanken sah er wieder Tai vor sich, sein Gesicht verschlossen und düster vor Enttäuschung. Gerade als er sich losreißen wollte, gab Jamie ihn frei. Yamato schnappte nach Luft. Das Publikum johlte. Sogar die Mädchen in der ersten Reihe klatschten und schrieen. Benommen starrte Yamato den Sänger an, bemüht, seine Verwirrung zu verbergen und ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, doch ein frecher kleiner Gedanke bahnte sich den Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins. Das war seine Chance. Karis silberner Schmuckgürtel klirrte leise, als er die Autogrammkarte unter dem Rockbund im Rücken hervorzog. „Ein Autogramm?“, bat er, mit der hellen, atemlosen Kleinmädchenstimme, die er stundenlang geübt hatte – gestern Abend, als er vor Aufregung nicht einschlafen konnte. „Zur Erinnerung?“ Jamie P lachte und zauberte aus irgendeiner Tasche einen Stift hervor. Offenbar war er auf solche Forderungen bestens vorbereitet. „Ich würde mich freuen, dich wieder zu sehen“, sagte er, während er etwas auf die Karte kritzelte. „Bis bald, Yama-chan.“ - Hiroaki Ishida - 2:54 blinkt mir Digitalanzeige am Fernseher entgegen. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken. Tolle Zeit für die Heimkehr des liebenden Vaters. Der erste Weg führt in die Küche. Zwei Gläser Wasser stürze ich sofort hinunter, das dritte kommt mit auf die Suche nach meinem besten Freitagabendfreund: der Vorratspackung Aspirin. Katerbekämpfung. Meine Güte, die Jungs können bechern… Ich glaube, ich werde langsam zu alt für so was. Auf dem Weg ins Bad sehe ich Licht, das durch Yamatos angelehnte Zimmertür auf den Flur fällt. Ist er etwa noch wach? Um diese Zeit? Zu müde, um noch echten Ärger zu empfinden, schiebe ich die Tür ganz auf – Wasser schwappt mir über die Hand und auf den Boden, als ich in letzter Sekunde das Glas auffange, das meinen erschlafften Fingern beinahe entglitten ist. Der gedämpfte Schein der wabernden Lava-Lampe beleuchtet ein Schlachtfeld. Papierschnipsel bedecken den Boden, ein Haufen Kleider, die entschieden nach Frau aussehen, liegt halb auf, halb unter dem Schreibtisch und der Höhepunkt ist ein leuchtend orangefarbener Fleck an der Wand, genau da, wo gestern noch ein riesiges Poster von irgendeinem Rockstar hing, darunter ein trauriges Häufchen Glasscherben und ein Fleck auf dem hellen Teppich, verziert mit ein paar roten Tropfen. Es riecht nach Multivitaminsaft. Was zum Teufel war hier los? Ich betrachte fassungslos das Chaos, schwanke zwischen Wut und Mitleid, denn es muss schon eine mittlere Katastrophe passiert sein, um meinen sonst relativ vernünftigen Sohn zu einer solchen Zerstörungswut zu treiben. Besagter Sohn liegt mit wild zerzaustem Haar auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben, die Decke halb auf den Boden gerutscht. Er trägt nur seine Totenkopf-Shorts. Ziemlich stillos und sicher nicht besonders warm. Das Mitgefühl siegt. Auf der Hut vor verirrten Glassplittern durchquere ich das Zimmer und decke Yamato vorsichtig zu. Ein zerknitterter Zettel liegt neben seiner Hand auf dem Laken und ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ihn aufzuheben. Blutflecken zieren die Autogrammkarte, denn um eine solche handelt es sich. Einer dieser feschen Superstars in melodramatischer Pose, und darüber hat jemand mit einem dicken Stift gekrakelt – nein, kein Autogramm, eher eine Nachricht, aus der ich nicht recht schlau werde. Sa 18 h H Sunrise Z 539 Was auch immer das heißen mag. Vielleicht sollte ich mal ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch anstreben… aber nicht mehr heute. Ich lege den Zettel auf den Nachttisch, knipse das Licht aus und verlasse Yamatos Zimmer. Ich brauche jetzt endlich mein Aspirin. Am besten gleich drei. Samstag 7:00 Uhr. – Wie bitte? Ausschlafen, Fußball, Yamas Konzert. Soweit der Plan für heute. Und jetzt lasst mich weiter pennen. „Bist du bescheuert? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!“ Kazu knallte wütend den Gitarrenkoffer zu. „Ich mache, was ich will“, fauchte Yamato. „Ich hab noch was vor und das ist verdammt noch mal wichtiger als hier mit euch rumzuhängen und Bier zu trinken.“ „Falls du es vergessen hast, Matt, wir haben heute ein Konzert. K-O-N-Z-E-R-T!“, buchstabierte Kazu. „Du hast gestern schon die Generalprobe verkackt! Und jetzt willst du nach einem Fünfminuten-Soundcheck abhauen?“ „Den Rest werdet ihr wohl auch ohne mich schaffen“, entgegnete Yamato hitzig. „Oder kannst du nicht mal mehr ein paar Gitarren stimmen?“ „Kazu.“ Yoshi packte seinen Kumpel am Arm, bevor der auf ihren Bandleader losgehen konnte. „Hey, schön langsam, Jungs“, warf Kei ein und stieß sich von seinem Keyboard ab, an dem er gelehnt hatte. „Reg dich nicht so auf, Kazu. Und, Matt – was soll das Ganze?“ Yamato verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab eine Verabredung und die werde ich auch halten“, verkündete er störrisch. „Ihr könnt mich schließlich nicht einsperren.“ „Ich würd’s liebend gern versuchen“, stieß Kazu hervor. „Lass mich los, Yoshi!“ Der Schlagzeuger zog eine Grimasse. „Nur wenn du ihn nicht umbringst.“ „Ich kann nichts versprechen“, behauptete Kazu grimmig und machte sich los. Kei und Yoshi beobachteten wachsam, wie er rasch zur Tür hinüberging und Yamato mit wütend geballten Fäusten den Weg versperrte. Yamato warf sich entschlossen den Rucksack über die Schulter. „Lass mich durch, Kazu.“ „Vergiss es. Nicht, bevor du uns gesagt hast, wo du hin willst.“ „Vergiss es“, erwiderte Yamato im selben Ton und griff nach der Türklinke. Weiter kam er jedoch nicht. Kazu, der begeisterte Kampfsportler, bewegte sich blitzschnell, packte den Sänger an beiden Armen und stieß ihn rücklings gegen die Wand. Es gab einen dumpfen Knall, als sein Hinterkopf mit dem Mauerwerk kollidierte. Die beiden Zuschauer zuckten zusammen. Yamato verharrte einen Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht und gab keinen Laut von sich. Kazus Griff verhinderte jede weitere Bewegung. Dann atmete Yamato zischend aus und öffnete die Augen. „Lass mich los, Kazu“, presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. Seine Augen blitzten wie grüne Diamantsplitter. Als Kazu nicht sofort gehorchte, fügte er schärfer hinzu: „Finger weg!“ Kazu ließ die Hände sinken und trat zurück, offenbar selbst entsetzt vom Ergebnis seines Wutausbruchs. Yamato öffnete – diesmal unbehelligt – die Tür, hielt inne und blickte noch einmal zurück zu seinen Bandkollegen, die wie erstarrt dastanden. „Wenn ihr wissen wollt, was das soll…“ Seine Stimme klang etwas wackelig. „Fragt Yoshi.“ Als die anderen beiden sich fragend zu ihrem Schlagzeuger umdrehten, fiel die Tür krachend ins Schloss. Endlich im Freien blieb Yamato ein paar Sekunden reglos auf der Stelle stehen. Jetzt erst erlaubte er sich, den Schmerz zu spüren, der in heißen Wellen in seinem Kopf pulsierte. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, loszugehen. Der Weg verschwamm vor seinen Augen, als ihm die mühsam zurückgehaltenen Tränen übers das Gesicht liefen. Er ließ es zu. Das Schicksal war eine grausame Herrin. Die Welt war kalt und gemein. Jamie P war das allerletzte Arschloch. Und nur wegen diesem Idioten Yoshi – und, zugegeben, seiner eigenen Blödheit – war er jetzt auf den Weg, um ihn ein zweites Mal zu treffen. Yamato hatte das Schulgelände fast umrundet und tastete nach seinem Rucksack, in den er mit Mühe das gestrige Outfit gestopft hatte. Irgendwo in der vorderen Tasche musste der Schlüssel zum Hauptgebäude stecken. In den dortigen Toiletten konnte er sich ungestört verwandeln. So geschickt wie Kari war er nicht mit Make-up und Haaren, aber es musste ausreichen. Irgendwie. Er wollte doch nur ein Autogramm, war das denn so schwer? - Tai - „Hey Jungs!“ Keine Antwort. Was ist das denn für eine Stimmung? Irritiert schaue ich mich im Raum um, auf der Suche nach meinem besten Freund, der wie immer vor seinen Konzerten aufgeregt durch den Probenraum hüpfen sollte, sein Bühnenlächeln proben und „nur zur Sicherheit“ Songtexte nachlesen, die er schon seit Jahren auswendig singt. Nichts. Der Rest der Band wirkt bedrückt. Kei überprüft die Anschlüsse irgendwelcher Kabel, Yoshi hockt stumm in einer Ecke und befreit seine Sticks von nicht vorhandenen Splittern, Kazu sitzt am Tisch und nuckelt an einer Bierflasche. Allmählich wüsste ich doch ganz gern, was hier los ist. Hat irgendwer das Konzert abgesagt? Oder – der Gedanke durchzuckt mich wie ein Blitz – ist Yama was passiert? „Wo ist denn Yamato?“ Das Zittern meiner Stimme verrät meine Angst, aber es ist mir egal. „Ist was…“ Ich wage nicht, es auszusprechen. „Weg“, antwortet Kazu kurz. „Matt ist weg.“ „Was?“ Ich starre ihn verständnislos an. „Was soll das heißen – weg? Was ist mit dem Konzert?“ Er zuckt nur mit den Schultern und ich drehe fast durch vor Sorge. „Könnte mir mal jemand verraten, was hier läuft?“ Es klingt nicht so überlegen wie beabsichtigt, sondern eher kläglich. Kei lässt endlich die Kabel in Ruhe und dreht sich zu mir um. „Matt hat sich eine kleine Prügelei mit Kazu geleistet und ist verschwunden. Ich hoffe, er kommt wieder.“ Ich werfe Kazu einen entgeisterten Blick zu, doch er schaut zu Boden – die beste Bestätigung für Keis Geschichte. „Aber…“ Ich kann es noch nicht glauben. „Wohin…?“ „Wollte er nicht sagen.“ Kei schaut mich enttäuscht an. „Ich dachte, du hättest vielleicht eine Idee.“ Ich und eine Idee? Mir schwirrend Tausende von Ideen durch den Kopf, und keine davon ergibt besonders viel Sinn. Niedergeschlagen wandere ich zum Tisch, klappe müßig Yamas Gitarrentasche auf. Der Bass steht schon drüben auf der Bühne, aber in der Tasche liegt ein Zettel. Ein kleiner, bunter Zettel. Mein Herz schlägt schneller. Keine Ahnung, warum es diesen Fund für einen besonders aussagekräftigen Hinweis hält, aber ich folge meinem Gefühl. Es ist eine Autogrammkarte vom Rocksänger Jamie P, auf der in ziemlich unordentlicher Schrift Ort und Zeit für eine Verabredung festgehalten sind. Ein Blick auf die Uhr: kurz vor sechs. Ich stopfe die Karte in meine Hosentasche und gehe zur Tür. „Tai?“, ruft Kei mir nach. „Was hast du vor?“ „Ich hole Yama“, rufe ich und laufe los. HOTEL SUNRISE Die Neonschrift leuchtete kränklich durch die Dämmerung. Als Yamato den Kopf hob, kippte das Gebäude auf ihn zu, während die tief hängenden Regenwolken bewegungslos am Himmel zu stehen schienen. Er stand einfach nur da, atmete die kühle, feuchte Luft ein und ließ er die surreale Angst zu, die der Täuschung entsprang. Das Piepen seiner Uhr im Rucksack riss ihn aus den Gedanken. 18:00 Uhr. Er war spät dran, aber das verzieh man hübschen Mädchen doch angeblich gern. Hoffentlich war er hübsch genug für Jamie Ps Begriffe… Das Make-up hatte ihn Zeit gekostet. im Nachhinein ärgerte er sich, dass er gestern nicht besser darauf geachtet hatte, was Kari eigentlich tat. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass er dieses Wissen jemals brauchen würde? Geschweige denn so schnell… Er gab sich einen Ruck und betrat das Hotel. Das Foyer hatte den Charme eines altenglischen Herrenhauses, wirkte jedoch verlassen. Es mochte früher eine noble Adresse gewesen sein, doch heute zeugten Wasserflecken an den Tapeten und abgenutzte Sitzpolster von jahrelanger Vernachlässigung. Die Rezeption war unbesetzt, aber eine Klingel versprach Betreuung auf Nachfrage. Yamato ignorierte sie, überzeugt, dass er das genannte Zimmer auch ohne Hilfe finden konnte. Ein Schild an der Tür gegenüber wies nicht nur die Toiletten aus, sondern auch den Aufzug. Jamie P hatte die Nummer 539 aufgeschrieben. Nach dem allgemein üblichen System hieß das: fünfter Stock. Während der altersschwache Aufzug ihn ratternd nach oben transportierte, betrachtete Yamato sein Abbild im Spiegel. Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die dem schwarzen Stoffband entkommen war, mit dem er seine Haare gebändigt hatte und lächelte zaghaft. Er hatte vielleicht nicht ganz die elegante Ausstrahlung reproduziert, die Karis Künste ihm verliehen hatten, aber gemessen an seinen praktisch nicht existenten Vorkenntnissen konnte er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen wirklich mehr als zufrieden sein. Mit einem beängstigenden Knirschen kam der Aufzug zum Stehen, die Türen öffneten sich quietschend und mit einem Schaudern und dem Entschluss, auf dem Rückweg auf jeden Fall die Treppe zu nehmen, trat Yamato auf den Flur hinaus. Auch hier war der Verfall deutlich sichtbar. Die ehemals weißen Tapeten waren vergilbt, die Deckenleuchten gaben nur ein schummriges Licht und die kleinen Landschaftsgemälde, die in unregelmäßigen Abständen die Wände zierten, waren so stark nachgedunkelt, dass keine Farben mehr zu erkennen waren. „Hat auch was“, murmelte Yamato ironisch. „Kühe bei Nacht.“ Weiter vorn klapperte eine Tür und zwei junge Frauen kamen ihm entgegen, beide vollbusig und so knapp bekleidet, dass Yamato das Blut ins Gesicht stieg. Er schluckte und versuchte, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, während sie kichernd und schwatzend auf Pfennigabsätzen an ihm vorbeiklapperten. Obwohl sie ihn keines Blickes würdigten, hatte er das untrügliche Gefühl, dass er der Gegenstand ihres Gesprächs war. Da, er hatte die 539 erreicht. Und jetzt? Sollte er klopfen? Plötzlich schlug ihm das Herz wieder bis zum Hals. Es war schlimmer als gestern, wo er sich wenigstens in der Menge verstecken konnte. Hatte er gedacht. Bis er plötzlich auf der Bühne stand. Aber auch das hatte er überlebt. Warum also traute er sich jetzt nicht, an diese verdammte Tür zu klopfen…? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn die Tür ging plötzlich auf. „Yama-chan.“ Bevor er wusste, wie ihm geschah, ergriff Jamie P auch schon seine Hand und drückte ihm einen Kuss auf die Finger. „Schön, dass du gekommen bist.“ „Ja.“ Yamato zwang sich zu einem Lächeln – darin war er inzwischen Experte. „Ich freu mich auch.“ „Komm rein!“ Jamie zog ihn mit sich in den Raum. „Möchtest du was trinken?“ Er ging zur Kommode, auf der ein Tablett mit mehreren Flaschen und Gläsern stand. „Viel gibt die Mini-Bar nicht her, fürchte ich, aber…“ Er sah Yamato in der Tür stehen, die Finger in den Rucksack verkrallt, und lächelte. „Setz dich doch.“ Er öffnete eine Flasche und machte damit eine weite Geste durch den Raum. „Es gibt leider keine Stühle in dieser ärmlichen Hütte, aber auf dem Bett ist genug Platz.“ Damit hatte er allerdings Recht. Das Bett war riesig, mit weinroten Laken und Kissen bedeckt und völlig zerwühlt. Zögernd ließ Yamato sich auf dem Rand nieder. Sein Blick schweifte durch das Zimmer, nahm die Unordnung wahr, die sich über alle Flächen erstreckte – benutzte Gläser, große und kleine Zettel, Pralinenpapierchen, unidentifizierbare Tüten und Päckchen und jede Menge anderer Kleinkram. Das reine Chaos. Augenblicke später war Jamie bei ihm, in jeder Hand ein Glas. „Hier. Du magst doch Baileys, oder? Nicht mal Eis kann ich dir anbieten…“ Er stellte die Gläser auf einen kleinen Jugendstiltisch, den er näher ans Bett heranrückte. Nur, um seine Hände zu beschäftigen, nahm Yamato eines der Gläser und nippte daran. Der Alkohol brannte im Rachen, aber es fühlte sich nicht schlecht an. Er nahm noch einen Schluck. Wirklich lecker. „Du gehst noch zur Schule, oder?“, fragte Jamie. „Hm“, murmelte er. „Ganz hier in der Nähe.“ „Was für ein Zufall.“ Er lachte leise. „Meine Kusine unterrichtet dort, vielleicht kennst du sie ja…“ „Wie heißt sie denn?“ Yamato musste sich Mühe geben, seine Stimme zu verstellen. Das durfte er nicht vergessen. „Miko Yamura.“ Yamato musste lachen. „Die kenne ich tatsächlich. Sie, hm… sie ist manchmal ganz schön streng…“ Er zögerte, unsicher, ob der Sänger das als Beleidigung auffassen würde, aber Jamie lachte ebenfalls und erzählte eine Anekdote aus ihrer gemeinsamen Kindheit. Langsam entspannte er sich. Jamie machte leichte Konversation, brachte ihn mühelos zum Lachen und gleich, gleich würde er dann nach dem Autogramm fragen. Sobald sich die passende Gelegenheit dazu ergab. In einem Moment. Yamatos Glas war leer, und Jamie stand auf, um ihm nachzuschenken. Als er sich umdrehte, grinste er. „Willst du es dir nicht etwas bequemer machen?“ Das Glas noch in der Hand, hob er ein Kissen vom Boden auf, nur um es unvermutet in Yamatos Richtung zu werfen. „Fang!“ Das Kissen flog weit über seinen Kopf hinweg, und als er aufsprang und vergeblich danach schnappte, kippte er rücklings aufs Bett. Er seufzte. Er war eben kein guter Torwart… na gut, vielleicht hatte auch der Alkohol damit zu tun. Ein Glas Baileys war eben nichts für schwache Nerven. Oder Mägen. Bei diesem Stichwort musste er wieder an die Kühe auf den düsteren Bildern im Flur denken und brach in albernes Kichern aus. Das allerdings sofort verstummte, als Jamie neben ihm auftauchte. Der Sänger lächelte und beugte sich über ihn. Yamato starrte ihn nur an, sah ihn näher kommen, spürte eine Hand an seiner Wange und einen Augenblick später einen fremden Mund auf seinem. Genau wie gestern wusste er nicht, was er tun sollte. Er blieb stocksteif liegen, krallte die Finger ins Bettlaken und hoffte, betete, dass etwas geschehen würde. Und ja, etwas geschah. Aber nicht dass, worauf er gehofft hatte. Durch die ausbleibende Gegenwehr ermutigt, strich Jamies Hand über seinen Bauch und glitt nach einem Moment forschenden Tastens unter die Kleidung. Die kühlen Finger auf seiner nackten Haut brachten Yamato zur Besinnung. Entschlossen schob er Jamies Hand weg. „Was ist denn los?“ Jamie machte ein enttäuschtes Gesicht, aber Yamato tastete neben sich und hielt ihm die bereitgelegte Autogrammkarte samt Stift hin. „Bitte“, sagte er leise. „Und diesmal ein echtes Autogramm, keine Zimmernummer.“ Jamie gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Seufzen und Lachen klang. Er ließ die Karte auf Yamatos Bauch liegen, während er schrieb und es war offensichtlich, welches Vergnügen es ihm machte, dabei zufällig über den kunstvoll modellierten Busen zu streichen. Yamato biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Sobald Jamie fertig war, würde er aufstehen und sich verabschieden, und dann… Ohne Vorwarnung lag Jamie plötzlich auf ihm. Yamato schnappte nach Luft unter dem Gewicht des Mannes. „He-hey!“, keuchte er, doch Jamie schien der schwache Protest nicht zu kümmern. Unbeirrt hielt er Yamatos Arme unter sich gefangen und bedeckte seinen Hals mit Küssen. Yamato wehrte sich, so gut es ging, und bekam schließlich einen Arm frei, den er gegen Jamies Kehle drückte. „Hör auf, verdammt!“ „Ah, zier dich nicht so“, krächzte Jamie und packte grob sein Handgelenk, um es neben seinem Kopf auf die Matratze zu drücken. „Eben wolltest du noch…“ Yamato warf sich in seinem Griff hin und her. „Ich wollte gar nichts, außer einem Autogramm“, stieß er hervor. Jamie sah verständnislos auf ihn herab, bevor er sein verführerisches Lächeln wieder fand. „Aber du kannst noch viel mehr haben“, hauchte er und ein Knie drängte mit sanfter Gewalt zwischen Yamatos Beine. „Entspann dich, lass es zu…“ „Vergiss es“, sagte Yamato wütend und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn. „Lass mich bloß in Ruhe!“ Während seine Stimme lauter wurde, wurden Jamies Augen immer größer. Dann wälzte er sich plötzlich von ihm herunter. „Du bist’n Kerl.“ Er lachte trocken. „Sowas ist mir noch nie passiert.“ Yamato schnaubte. „Selbst schuld.“ Er setzte sich auf, stopfte die Autogrammkarte in seinen Rucksack und ging zur Tür. „Macho.“ Jamie lachte. - Tai - Du irrst dich, hier ist nichts. Aber was sollte H Sunrise wohl sonst bedeuten? Hier stehe ich jetzt vor dem Hotel, schaue abwechselnd hinunter auf die zweckentfremdete Autogrammkarte und hinauf zum flackernden Schriftzug des Hotelnamens und lausche dem berühmten Streit zwischen Engelchen und Teufelchen. Geh schon rein. Yama ist da irgendwo, ganz bestimmt. Selbst wenn er da ist, du hast kein Recht, dich in seine Privatangelegenheiten einzumischen. Blödsinn, du willst schließlich der Band helfen. Hab ein bisschen Vertrauen in ihn. Mach schon, du willst doch auch wissen, was er da drin treibt… Teufelchen ist mir irgendwie sympathisch. Dieses Hotel wirkt ziemlich abgebrannt, als würde es seit Jahren vergeblich auf die Renovierung warten. Alles ist so schäbig und abgenutzt, dass es schon fast unheimlich ist. Erinnert an ein Geisterhaus. Der Aufzug quietscht und knarrt, als würde er gleich stecken bleiben… auf dem Rückweg nehme ich die Treppe, das schwöre ich! Ah, da ist Nummer 539. Das Schild mit der Zahl hängt schief, und die Tür… öffnet sich gerade. Schnell weg! Ich drücke mich in die Nische hinter einer verstaubten Zimmerpalme. Kein besonders gutes Versteck, aber ansonsten ist der lange Korridor völlig leer. Ich biege ein paar fedrige Blätter zur Seite und spähe zur Tür hinüber. Und da – Yama? Nein, unmöglich. Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen mit Yamas Statur, seinen Haaren und seinen Bewegungen, so unwahrscheinlich das klingt. Sie trägt einen kurzen schwarzen Faltenrock, kniehohe Wildlederstiefel und ein enges, blaugrünes Top mit schwarzen Ärmeln. Kari wüsste garantiert, wie diese Mischfarbe richtig heißt… Das Mädchen sagt etwas und ein Mann erscheint in der Tür. Er hebt die Hand zum Abschied und kickt mit dem nackten Fuß etwas auf den Gang hinaus. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht den Korridor hinunter in Richtung Treppe. Sogar ihr Gang… es muss Yama sein. Mit einem Knall schließt sich die Tür wieder. Yama – oder wer auch immer da als mein Gestalt gewordener Tagtraum herumläuft – ist schon fast beim Treppenhaus angekommen. Ich beeile mich, ihm zu folgen, aber einen neugierigen Zwischenstopp vor der Tür mit der 539 kann ich mir nicht verkneifen. Im selben Moment sackt mir das Blut in den Bauch und mir wird so schwindelig, dass ich mich an der Wand festhalten muss. Vor meinen Füßen auf dem Boden liegt ein Kondom. Ein benutztes Kondom. Hätte ich doch bloß auf Engelchen gehört. Benommen mache ich mich auf den Weg zum Treppenhaus. Yama ist nicht mehr zu sehen, aber ich höre Schritte, schnelle Schritte, die nach unten verschwinden. Hinterher. Im Erdgeschoss angekommen, sehe ich nur noch die Tür zu den Toiletten zuklappen und folge dem Hinweis. Da ist er – ganz eindeutig mein Yama – und steuert zielsicher die Herrentoilette an. Nur dass im selben Moment ein grauhaariger Mann herauskommt und ihn zweifelnd anblickt. „Dies ist die falsche Tür, junge Dame“, sagt er gutmütig und führt Yama freundlich, aber bestimmt zur Tür gegenüber, auf der ein großes D prangt. „Versuchen Sie’s mal hier drüben.“ Er lächelt und wartet geduldig, bis Yama nachgibt. Was mach ich jetzt? Yama sitzt auf der Damentoilette fest und im Flur wacht der Sittenhüter vom Dienst… Nein, er verzieht sich. Ein Glück. Aufatmend gebe ich den Weg für ihn frei, durchquere dann mit zwei, drei großen Schritten den Flur und reiße die Tür auf. Yama starrt mich an, kreidebleich. Er ist dabei, sich auszuziehen – das blaugrüne Top liegt auf dem Boden, die Stiefel daneben. Was ich für schwarze Ärmel gehalten habe, ist ein zartes Oberteil aus einem halb durchsichtigen Stoff. Es schmiegt sich wie eine zweite Haut an seinen Oberkörper, spannt über dem geschickt ausgestopften BH (auch damit kennt sich Kari bestens aus), und umschmeichelt weich seine Taille. Über dem plüschigen Pelzbesatz am weiten Ausschnitt leuchtet der sanft geschwungene Bogen von Schulter und Hals. Ich schlucke und bringe kein Wort heraus. Das war das Ende. Yamato starrte seinen besten Freund entsetzt an. Wäre er doch bloß nicht dieser Einladung gefolgt! Er hatte es nur getan, um die Wette zu gewinnen, verteidigte er sich. Aber wie wichtig konnte so eine Wette denn schon sein? Lieber hätte er vor Tausenden von Zuschauern einen Striptease durchgezogen, als in diesem Moment Tai gegenüberzustehen. Yamato fühlte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten und senkte den Kopf. Automatisch fuhr er fort, sich auszuziehen. Rock, Strumpfhose, Oberteil… Im Rucksack steckten seine eigenen Klamotten, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er den Reißverschluss nicht öffnen konnte. Er hörte Tais Schritte, sah seine kräftigen, gebräunten Sportlerhände, die den Rucksack öffneten und ihm die Sachen anreichten: Jeans, Hemd, Socken… Yamato wagte nicht aufzusehen. Er zog an, was Tai ihm gab, während seine Tränen auf die schmuddeligen Fliesen fielen. Seine Hände folgten den gewohnten Abläufen ohne nachzudenken, schlossen Knöpfe, banden Schnürsenkel… Als letztes schlüpfte er in seine Jacke, stopfte dann alle Überreste des Kostüms in den Rucksack und schlang sich einen Träger über die Schulter. Er weigerte sich noch immer, Tais Blick zu begegnen, als müsse er seine Anwesenheit nur lange genug leugnen, damit er verschwand. „Yama…“ „Sag nichts“, fuhr Yamato auf. „Lass mich einfach in Ruhe, klar?“ Tai nickte und sah auf die Uhr. „Yama, dein Konzert!“ „Fuck, das hätte ich fast vergessen!“ Jetzt endlich sah er Tai an. „Wie lange noch?“ „Zwanzig Minuten.“ „Shit, Shit, Shit!“ Das würde verdammt knapp werden… „Das schaffen wir“, behauptete Tai, zuversichtlich wie immer. „Schnell jetzt.“ Sie stürzten durch die Eingangshalle des Hotels, schoben die schweren Türen auf und standen im strömenden Regen. Na toll, dachte Yamato. Der schlimmste Tag seines Lebens, und dann musste es auch noch regnen . „Komm schon!“ Tai packte ihn am Arm und legte los. Yamato war noch nie so gerannt. Schon nach einer Minute brannten seine Beine wie Feuer, und danach wurde es schlimmer. Der feste Griff um sein Handgelenk war das einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt. Hätte Tai losgelassen, er wäre augenblicklich auf der nassen Straße zusammengebrochen und wäre nie wieder aufgestanden. Aber Tai ließ nicht los, bis sie die Schule erreicht hatten und durch den Hintereingang der Halle in den Backstagebereich stolperten. Ein dreistimmiger Aufschrei begrüßte ihn: „Matt!“ „Hi… Jungs…“, keuchte er und sank auf einem Stuhl zusammen, als die Beine unter ihm nachgaben. „Bin da. Können anfangen.“ „Und ich dachte schon, wir müssten das Konzert absagen“, seufzte Kei sichtlich erleichtert. „Wenn ich nicht so glücklich wäre, würde ich dir gleich noch eine reinhauen“, brüllte Kazu und umarmte ihn stürmisch. „Mach das nie wieder, kapiert?“ Yamato schüttelte nur grinsend den Kopf und versuchte, zu Atem zu kommen. „Dem muss ich mich anschließen.“ Yoshi wuschelte ihm durch die nassen Haare und verzog das Gesicht. „Bist du hierher geschwommen?“ „Matt, fang!“ Kei warf ihm ein Handtuch zu und Kazu drückte ihm eine Flasche Wasser in die Hand, die Yamato wie ein Verdurstender hinunterstürzte. Mit einem zweiten Handtuch ging Kei zur Tür, wo ein verlassen wirkender Tai vor sich hin tropfte. „Du hast ihn also gefunden.“ „Mhm.“ Tai nickte und trocknete sich das Gesicht ab. „Dann könnt ihr ja jetzt anfangen. „Sieht so aus.“ Kei musterte ihn neugierig – ein schweigsamer Tai war ein seltenes Phänomen – bevor er sich zum Rest der Band umdrehte. „Sind wir so weit, Leute? Wir hätten schon vor fünf Minuten anfangen sollen.“ Tatsächlich war aus der Halle ein undefinierbarer Lärm zu hören, wie Yamato jetzt erst feststellte. „Oh Mann, und ich bin noch nicht umgezogen…“ Er stöhnte auf und kam mühsam auf die Beine. „Fangt schon mal ohne mich an.“ „Ohne dich?“ Kazus Augenbrauen verschwanden fast im Haaransatz. „Was sollen wir denn da spielen?“ „ Do your Best “, antwortete Yamato prompt. „Das kannst du auch allein singen. Lasst euch Zeit: Intro, Solo und so weiter. Ich komme sobald wie möglich nach.“ Kazu holte tief Luft. „Ok. Aber beeil dich.“ Yamato nickte. „Versprochen.“ „Auf geht’s!“, rief Yoshi und schlug einen Trommelwirbel auf der Tischkante. „Wir schaffen das!“ „Solange Kei nicht singt, kann ja nichts schief gehen“, sagte Kazu grinsend. Die anderen lachten. Dann verschwanden die Teenage Wolves – ohne ihren Bandleader – in Richtung Bühne. Yamato stellte sich auf die Zehenspitzen, um eine voll gestopfte Reisetasche vom Schrank zu ziehen. Während oben im Saal Applaus aufbrandete, zog er ein schwarzes Hemd und zerschlissene Jeans aus der Tasche. „Nicht schön, aber immerhin trocken…“, murmelte er kritisch und reichte die Reisetasche weiter. „Später“, wehrte Tai ab. Ein Blick verriet Yamato, dass sein Freund sich endlich am Tisch niedergelassen hatte und ihm nun schon zum zweiten Mal beim Umziehen zusah. Als er das nasse Hemd über den Kopf zog, sagte Tai: „Yama… wegen eben…“ Yamato entledigte sich auch seiner tropfenden Hose und rubbelte sich schnell mit dem kleinen Handtuch ab. Es war kühl hier unten, aber seine Gänsehaut stammte nicht nur von der Kälte. „Ja?“ Er schlüpfte in die trockenen Jeans und beschäftigte sich eingehend mit dem Reißverschluss. „Ich wollte nur wissen…“ Tais Stimme schien irgendwie nicht ganz so fest wie sonst. „Ist es was Ernstes?“ Yamato erstarrte. „Was?“ „Dieser Typ, den du im Hotel besucht hast. Ist er…“ „Er ist gar nichts“, wehrte Yamato sich entsetzt. „Ich habe ihn heute das zweite Mal getroffen.“ „Oh.“ Tai konnte immer noch vor sich sehen, wie Yama aus dieser Tür trat, der fremde Mann hinter ihm, und dann… Yamato ahnte nichts von den Gedanken, die seinen Freund plagten. Er griff nach seinem Rucksack und angelte etwas aus der vorderen Tasche. Die Autogrammkarte war ein wenig feucht geworden, doch die Schrift war nicht verschmiert. Gut lesbar stand da: For Yama-chan My sweetest girl Love, Jamie P Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Oh, verdammt!“ Dieses Autogramm würde Yoshi niemals zu Gesicht bekommen, das beschloss er im selben Augenblick. „Dieser… hinterhältige…“ Er erstickte fast an unausgesprochenen Beschimpfungen. „Was ist?“ Tai starrte ihn aus großen Augen an und Yamato fühlte sich mit einem Mal ganz schwindelig. Er zerknüllte die Karte in der Hand und warf sie auf den Boden. „Nichts.“ Yamato merkte auf, als die Musik, die er von fern gehört hatte, verstummte. „Verdammt, ich muss auf die Bühne.“ Er schnappte sich sein Hemd und zog es über, während er zur Treppe rannte. Tai blieb allein zurück, einsam und vergessen. Jeder Gedanke an seinen Freund verschwand, als Yamato auf die Bühne stürzte, lauthals begrüßt von einer kreischenden Menge. Hundertmal besser als bei Jamie P, diesem eingebildeten Kerl, dachte er flüchtig. „Hallo Leute!“, rief er ins Mikro und hängte sich die Bassgitarre um. „Seid ihr gut drauf?“ Geschrei und Applaus antworteten ihm. Yamato grinste. Hier war er in seinem Element. Er schlug einen Akkord an, den Kazu auf der Gitarre wiederholte. „Entschuldigt die Verspätung, Freunde. Dafür legen wir jetzt richtig los!“ Kei stürzte sich mit fliegenden Fingern ins Intro und Yamato griff nach dem Mikro. Solange er sang, waren alle Sorgen vergessen. Etwa eine Stunde später, als Yamato sich am hinteren Bühnenrand eine neue Flasche Wasser holte, winkte Yoshi ihn zu sich. „Na, wie sieht’s aus mit unserer Wette?“ Yamato wurde rot. „Ja, ich geb’s zu. Ich hab verloren. Und jetzt? Soll ich gleich beim nächsten Stück meinen nackten Hintern präsentieren oder…“ „Hör schon auf.“ Yoshi lachte. „Ich hab mir was anderes überlegt. Nicht ganz so spannend, aber auch ganz lustig.“ Yamato nahm einen Schluck Wasser und rieb sich erleichtert den Nacken. „Was denn?“ „Ich will dir doch nicht die Überraschung verderben“, sagte Yoshi grinsend. „Du musst einfach nur tun, was ich dir sage. Wir spielen doch Lucky girl als Letztes, oder?“ Yamato nickte und kehrte in Gedanken versunken an seinen angestammten Platz zurück. Lucky girl war ein ruhiger Lovesong, zu dem ihm keine verhängnisvollen Aktionen einfallen wollten. Aber gerade das machte ihm Sorgen… Er bemühte sich, Yoshis Ankündigung zu vergessen. Das Konzert dauerte noch gut eine halbe Stunde und war ein voller Erfolg. Soweit Yamato die Halle überschauen konnte, war sie zum Bersten voll und nicht einer der Zuschauer blieb still stehen oder gar sitzen. Das Ende kam jedoch viel zu schnell. Bei den letzten Songs wurde Yamato immer nervöser, bis er sich schließlich sogar im Text verhaspelte und den Rest der Strophe auf „lalala“ singen musste. Höchst peinlich… Doch dann war der Moment gekommen. „Dies ist die allerletzte Zugabe“, begann Yamato die Ankündigung und machte wie verabredet Platz, als Yoshi nach vorne kam und seinen Platz am Mikro einnahm. „Der letzte Song für heute“, verkündete Yoshi strahlend, „…ist ein all-time-favourite: Lucky girl. Und dafür brauchen wir jemanden hier oben, der den Part des glücklichen Mädchens übernimmt.“ Er ließ den Blick über die Menge schweifen, entdeckte das Gesicht, das er suchte, und deutete. „Und ich sehe auch schon, wer heute für diese Rolle prädestiniert ist. Komm rauf!“ Er wandte sich zu Yamato um. „Keine Angst, Matt, es ist gar nicht schlimm. Ein bisschen ansingen, antanzen und am Ende ein Küsschen. Mehr nicht.“ Yamato nickte, wandte sich um und grub bestürzt die Fingernägel in seinen Gitarrengurt, als er sah, wen Yoshi ausgesucht hatte: Miko Yamura. Mit einem lässigen Peace-Zeichen zog Yoshi sich ans Schlagzeug zurück und ließ Yamato mit der jungen Frau und seiner unliebsamen Aufgabe allein. Die Lichter gingen aus. Yamato legte die Finger auf die Saiten, spielte einen leisen Ton. Als das Keyboard zu spielen begann, leuchtete ein Spot auf und sperrte ihn und Miko in einen Käfig aus Licht. Was zum Teufel erwartete Yoshi von ihm? Jamie P fiel ihm ein und Yamato hätte fast laut aufgelacht. Er hatte es doch gestern selbst erlebt! Kei ließ das Intro in die erste Strophe übergehen und Yamato fing an zu singen. Es war einfach. Der Text des Songs und die Erinnerung vermischten sich zu einer perfekten Choreographie, deren Mittelpunkt Miko war. Und Miko war begeistert. Sie strahlte geradezu, verfolgte jede seiner Bewegungen mit leuchtenden Augen, drehte sich leichtfüßig, wenn er sie zum Tanz einlud und ihr anbetender Blick kam dem sehr nahe, was Kari ‚Anschmachten’ nannte. Die letzten Takte verklangen. Yamato imitierte bis ins Detail Jamie Ps Geste, ließ seine Hand in Mikos Nacken wandern und zog sie zu sich heran, um ihre Lippen kurz mit den seinen zu berühren. Das Publikum reagierte ähnlich wie gestern mit Jubel und Beifall. Mit Mikos Reaktion aber hatte er nicht gerechnet. Sie schlang die Arme um ihn, vergrub die Finger in seinem Haar und erwiderte seinen zurückhaltenden Kuss hingebungsvoll. Überrascht riss Yamato die Augen auf, als ihre Zunge auffordernd gegen seine Lippen stupste. Tai blitzte vor seinem inneren Auge auf. Yamato schob den Gedanken zur Seite, aber er gab auch Mikos Drängen nicht nach, sondern richtete sich auf und schob sie sanft von sich. Um Fassung bemüht hob er das Mikro an die Lippen. „Ein Applaus für unser Lucky girl !“ Er nahm Mikos Hand und hob sie hoch, während er dem Publikum zuwinkte. „Dankeschön! Ihr wart super!“ Yoshi und Kei ließen ihre Instrumente stehen, um sich vorn einzureihen, Kazu gesellte sich samt Gitarre dazu und legte den Arm um Miko. „Verbeugung“, zischte Yamato ihr aus dem Mundwinkel zu und Miko zog mit. Es folgte noch mehr Applaus und noch einige Verbeugungen, bevor der Vorhang fiel und die Band in Jubel ausbrach. „Das war super“, brüllte Kazu und hüpfte wie ein Hampelmann über die Bühne. „Vorsicht!“, schrie Kei und hechtete ihm hinterher, um sein Keyboard zu retten. Yoshi blieb zurück und klopfte Yamato anerkennend auf die Schulter. „Das war echt super, Matt. Bist ein Held.“ Yamato grinste und sah zu Miko hinüber, die den Backstagebereich erkundete. „Warum eigentlich gerade sie ?“ „War ein Deal.“ Yoshi hatte wenigstens den Anstand, ein wenig verlegen drein zu sehen. „Sie wusste Bescheid und hat gedroht, es der Rektorin zu stecken. Den Strip hätte die garantiert verboten.“ „Und warum hat sie nicht?“ „Ist doch klar.“ Yoshi lachte. „Sie wollte unbedingt einen Kuss.“ „Das ist Idolvergewaltigung“, grummelte Yamato. „Tja, immer der Ärger mit den Groupies“, sagte jemand hinter ihm laut. „Takeru!“ Die Brüder umarmten sich. „Tolle Show“, lobte Takeru. „Vor allem das Ende war echt beeindruckend.“ Yamato verzog das Gesicht. „Ich hoffe, das ist nicht das Einzige, was von dem Konzert im Gedächtnis bleibt.“ „Was denn sonst“, sagte eine helle Stimme. „Sänger küsst Fan – das ist die Schlagzeile.“ „Wohl eher umgekehrt“, verbesserte Yamato, als er sich zu Kari umdrehte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn unter Takerus eifersüchtiger Beobachtung auf die Wange zu küssen. „Was ist passiert?“, fragte sie im Flüsterton. „Die Aktion am Ende war doch Yoshis Wettgewinn?“ „Die Verkleidung hat alle getäuscht. Nur die Sache mit dem Autogramm hat nicht richtig funktioniert.“ Er zuckte mit den Schultern. „Am Ende war die Strafe gar nicht so schlimm. Es war also alles umsonst – ich hätte gleich aufgeben sollen.“ Aber wäre er gestern nicht auf Jamie Ps Konzert gewesen, dann hätte er heute seine Strafe nicht so souverän erledigen können… „Nicht so pessimistisch, Matt“, versuchte Kari ihn aufzumuntern. Yamato lachte. „Ein Pessimist ist ein Mensch, der sich den Kuss vom Bakteriologen erklären lässt. Und dafür habe ich inzwischen zuviel praktische Erfahrung.“ „Klingt gut.“ Takeru drängte sich zwischen sie. „Kari, ich muss heute unbedingt noch ein paar praktische Erfahrungen sammeln.“ Kari kicherte, doch Kazu unterbrach das Gespräch, bevor sie antworten konnte: „Wir haben Getränke unten, kommt ihr mit?“ Der Proben-, Party- und Backstageraum war restlos voll. Bandmitglieder, Geschwister, Freunde und Freundinnen belagerten die drei alten Sofas und drängelten sich um den Tisch. Irgendjemand machte Platz, damit Yamato sich mit auf das abgeschabte rote Sofa quetschen konnte und es dauerte nur Sekunden, bis Miko Yamura die schmale Armlehne an seiner Seite in Beschlag genommen hatte. Yamato war nicht ganz wohl, sie so in seiner Nähe zu haben, aber er konnte sie kaum von ihrem Sitz stoßen. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit fast sofort von anderen Dingen gefangen genommen. So zum Beispiel von einem wandernden Würfelbecher und den kleinen, dafür umso hochprozentiger gefüllten Gläsern, die der Verlierer vernichten musste. Und verlieren war einfach bei diesem Spiel. „Ich kann das nicht“, behauptete Miko fröhlich, nachdem sie ihren neusten Drink hinuntergekippt hatte, und versuchte, Yamatos Wurf zu erkennen. Er stöhnte auf, als sie einen Moment später lauthals verkündete: „Gelogen!“ „Das ist unfair“, protestierte er, als Kazu ihm mit einem unheilvollen Grinsen einschenkte. „Sie hat geschummelt!“ „Aber du hast tatsächlich gelogen. Ertappt ist ertappt.“ „Damit würdest du vor Gericht nie durchkommen.“ Yamato trank das Glas aus und hustete mit Tränen in den Augen. „Was ist das denn – Abflussreiniger?“ „So ähnlich.“ Kazu grinste. „Selbstgebrannter von meinem Opa.“ „Brr…“ Yamato schüttelte sich, erleichtert, dass er das Spiel verhältnismäßig gut beherrschte. Einige Runden später fiel die Gruppe auseinander. Einige gingen nach Hause, andere brauchten dringend frische Luft, und auf dem Sofa war endlich Platz genug, um gemütlich zu sitzen. Yamato schloss die Augen und lehnte sich mit ausgebreiteten Armen zurück. Er blinzelte, als sich etwas Schweres gegen ihn lehnte und erkannte Miko, war jedoch zu müde, um sich von ihr zu befreien. Außerdem war so ein warmer Körper neben seinem doch gar nicht so unangenehm… Dann fiel sein Blick auf Tai, der gegenüber auf einem Plastikstuhl hockte, eine halbvolle Weinflasche in den Händen drehte und ausgesprochen düsterer Laune zu sein schien. Yamato setzte sich auf, um ihn anzusprechen, doch im selben Moment tippte Miko ihm auf die Schulter. „Hey, Yamato!“ Er drehte den Kopf und plötzlich war sie ganz nah, stützte die Hände auf seine Schultern, und küsste ihn. Diesmal hatte er ihr nichts entgegenzusetzen. Es war nicht einmal unangenehm, die Wärme ihres Körpers, der süße, leicht alkoholische Geschmack ihrer Lippen, die seine liebkosten. Und trotzdem war es nicht richtig. Er konnte Tais Augen auf sich spüren, erahnte den bösen Blick, der ihn in alle Ewigkeit zu verdammen drohte. „Miko“, murmelte er gegen ihren Mund. „Miko!“ Und dann, als er ihre Aufmerksamkeit hatte: „Lass uns woanders hin gehen.“ Er richtete sich schwankend auf. Nie im Sitzen trinken, erinnerte er sich. Man vergaß doch allzu schnell, was für eine komplizierte Angelegenheit das Gehen sein konnte… Miko hielt sich an seiner Hand fest, während sie die Treppe zur Bühne erklommen, aber kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, lehnte sie sich dagegen und zog ihn zu sich. Yamato hatte alle Mühe, sich aus ihren Armen zu lösen. „Miko… hm… nicht…“ Sie kämpfte mit den Knöpfen seines Hemdes und er musste ihre Hände festhalten, bevor sie ihn an Ort und Stelle entkleidete. „Miko…“ Sie streckte sich, um ihn erneut zu küssen, doch diesmal trat Yamato einen Schritt zurück und hielt sie auf Armeslänge fest. „Bitte“, sagte er leise. „Ich möchte dir nicht wehtun, aber… ich kann das nicht. Ich kann nicht und ich will nicht.“ Miko legte den Kopf schief und sah ihn mit leicht benebeltem Blick an. „Was soll das heißen? Du magst mich nicht?“ „Ich mag dich, Miko. Aber nicht so .“ Sie ließ resigniert den Kopf hängen. „Das Übliche also. Lass uns Freunde sein. “ „Ja“, bestätigte Yamato. „Das Übliche.“ Nichts ernüchtert so schnell wie eine enttäuschte Hoffnung, dachte er düster. Miko nahm seine Hand. „Gehen wir.“ Auf den letzten Stufen machte er sich von ihr los. Er hörte ihr Seufzen, aber er hatte nicht die Absicht, es zu beachten. Zurück im Partykeller fiel sein Blick zuerst auf Takeru und Kari, die auf der Bank hinter dem großen Tisch saßen und fast miteinander verwachsen schienen. Ihnen gegenüber saßen Kazu und Yoshi und machten sich lauthals über Kei lustig, der mit verrutschter Brille und zerzaustem Haar in einem Stuhl hing und gegen die Widrigkeiten der Schwerkraft ankämpfte. Als Yamato mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, schreckten alle fünf auf. „Wer von Euch Schlafmützen trinkt noch eine Runde Tequila mit?“ Kei stöhnte und winkte ab. Die anderen jedoch nickten und Yoshi zauberte augenblicklich eine noch halb gefüllte Flasche unter dem Tisch hervor. „Die muss heute noch weg“, verkündete er grinsend und zog eine Handvoll Gläser zu sich heran, die alle nicht mehr ganz taufrisch erschienen. „Wir ham kei’e Zitron’ mehr“, warf Kei mit schwerer Zunge ein. „Iih“, machte Kari prompt. „Dann will ich nichts.“ Yamato runzelte die Stirn. „Du bist sowieso viel zu jung dafür. Genau wie Takeru.“ Sein Bruder lachte. „Das hätte dir mal vor ein paar Stunden einfallen sollen, als die Flaschen da noch alle voll waren.“ Er deutete in eine Ecke des Raums, der aussah, als hätte jemand eine Altglassammlung aufgemacht. Yamato zuckte mit den Schultern und drehte sich halb um. „Du auch, Tai?“ Glas splitterte mit einem lauten Klirren. Erschrocken sahen alle zu Tai, der sich erhoben hatte. „Nein, danke“, sagte er betont und stapfte durch die Überreste seiner Weinflasche zur Tür. Yamato kam in den Genuss eines flammenden Blickes, der von abgrundtiefer Verachtung sprach und sich tief in sein Herz brannte. Als die Tür zuklappte, kam wieder Leben in ihn. Entschlossen stieß Yamato sich vom Tisch ab. „Hey, dein Tequila!“ Aber Kazus Ruf verhallte ungehört, als er ins Freie stürmte. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel über ihm war dunkel wie schwarzer Samt und mit Sternen gesprenkelt. Er hörte Tais Schritte vor sich in der Dunkelheit und beeilte sich, ihm zu folgen. Seine Beine verkündeten jetzt schon mit einem unangenehmen Ziehen, dass ihnen der Dauerlauf im Regen keinen Spaß gemacht hatte, aber Yamato ignorierte den Schmerz. Tai war wichtiger. Er war stehen geblieben, mitten auf dem leeren Schulhof, und starrte mit hängenden Schultern in die Dunkelheit. „Tai!“ Als Yamatos Stimme ihn erreichte, drehte er sich um. „Was willst du denn hier.“ Es war keine Frage, sondern nur Ausdruck seiner Abneigung gegen Yamatos Gegenwart. „Das gleiche könnte ich dich fragen“, gab Yamato zurück. „Was ist los, Tai?“ Tai schnaubte. „Geh mir aus den Augen, Yamato.“ So lange war er für Tai nur Yama gewesen, dass sein ganzer Name aus diesem Mund ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf. Er schnappte nach Luft und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ, aber er blieb, heiß und pochend, ein blauer Fleck auf seinem Herzen. „Ich wüsste nur gern, was…“ Seine Stimme zitterte und er zwang sie zur Ruhe. „…was ich dir getan habe.“ „Du hast es echt nötig, was?“, entgegnete Tai, und Abscheu schwang in seiner Stimme mit. „Erst der Kerl im Hotel, dann diese Miko auf und hinter und wieder auf der Bühne…“ Unwillkürlich ballte Yamato die Fäuste. „Das… das ist…“ Ihm fehlten die Worte. Tai lachte freudlos, ein merkwürdig kalter Laut für jemanden, der sonst so viel Wärme ausstrahlte. „Schlag mich ruhig. Na, mach schon! Vielleicht heilt mich das von diesem ständigen Verlangen nach deiner Nähe.“ Er wandte sich ab und sah eine Zeitlang schweigend zu den Sternen hinauf. Yamato war wie versteinert. Nur langsam drangen Tais Worte zu ihm durch. „Ich habe immer versucht, es zu verdrängen. Aber als ich dich heute Abend im Sunrise gesehen habe, da kamen all die Hoffnungen und Träume in mir hoch. Und gleichzeitig war ich so wütend auf diesen Kerl, so eifersüchtig. Dass er so einfach bekommt, wovon ich nur träumen darf…“ „Tai“, unterbrach ihn Yamato leise. „Bitte… es ist alles ganz anders als du denkst!“ Tai verstummte und er fuhr fort, schnell, verzweifelt bemüht, dieses schreckliche Missverständnis richtig zu stellen und Tai festzuhalten – seinen Tai, der doch zu ihm gehörte wie sein Schatten und ihm in diesem Augenblick zu entgleiten drohte. „…deshalb war ich im Sunrise, wieder in Verkleidung, um mir doch noch ein Autogramm von diesem sexistischen A…ffen zu holen. Und Miko, diese intrigante Ziege, hat Yoshi erpresst, damit er den Wetteinsatz ändert und sie auf die Bühne holt.“ Einen Moment herrschte Stille. Yamato ließ das letzte verbliebene bisschen Stolz fahren und flüsterte: „Es tut mir Leid, Tai.“ „Und mir erst.“ Tai schluckte schwer. „Ich bin ein Idiot, doppelt und dreifach“, sagte er dann hart. „Ich habe alles falsch verstanden. Ich fühlte mich betrogen, obwohl ich kein Recht dazu hatte. Ich dachte…“ Seine Stimme brach. „Du weißt nicht, wie es sich anfühlt.“ Er stockte, den Blick noch immer in die Dunkelheit gerichtet. „Wenn ich ein Stern wäre, würde ich mich vom Himmel stürzen, um dir nahe zu sein.“ „Tai…“ Mehr brachte Yamato nicht heraus. Endlich drehte Tai sich wieder zu ihm um. Voller Bitterkeit fuhr er fort: „Willst du mich nicht endlich schlagen? Verdient hab ich es.“ Und plötzlich fand Yamato seine Sprache wieder. „Nein“, sagte er sanft. „Ich will dich nicht schlagen.“ Er legte die Hände um Tais Gesicht und zog ihn zu sich heran. „Ich will etwas ganz anderes mit dir machen“, flüsterte er und küsste ihn. Der Kuss fühlte sich anders an als alles, was er in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Es gab keine Schrecksekunde, Tais erwartungsvolle Lippen empfingen ihn wie in einer selbstverständlichen Reaktion. Schon bei der ersten sanften Berührung ging alles in Flammen auf. Zwei Besitz ergreifende Arme umschlangen ihn und dann übernahm Tai die Führung. Wie ein Ertrinkender, der die Hoffnung auf Rettung schon fast aufgegeben hatte, lehnte er sich mit verzweifelter Leidenschaft in den Kuss. Yamato wusste nicht, wann er die Augen geschlossen hatte. Er sah und hörte nichts mehr, war versunken im puren Entzücken von Tais fordernden Lippen, seinem warmen Mund und der spielerisch neckenden Zunge, die mit jeder Berührung ein neues Feuerwerk in ihm entfachte. Der Boden unter seinen Füßen hatte sich in Luft aufgelöst und Yamato klammerte sich an das einzige, was in diesem Augenblick noch Bestand hatte – Tai. Nach einer kleinen Ewigkeit lösten sie sich voneinander, gerade weit genug, um sich in die Augen zu sehen, atemlos und ein bisschen unsicher. Tai seufzte leise und Yamato musste lächeln. „Ach, Tai…“ Zärtlich wickelte er eine dunkle Haarsträhne um die Finger. „Ich halte eine Sternschnuppe im Arm.“ Tai schmiegte sich in seine Hand. „Eine sehr zufriedene Sternschnuppe, die jetzt endlich hat, was sie will.“ Er machte eine Pause und sein keckes Grinsen wirkte fast schon wieder so unbekümmert wie früher. „Yama, ich hab’ was für dich.“ Die Umarmung lockerte sich, als Tais Arm sich zwischen sie schlängelte, um eine Hand in die Hosentasche zu schieben. Es knisterte und Sekunden später hielt er Yamato etwas vor die Nase, das sich als eine reichlich mitgenommene Autogrammkarte herausstellte. Mit spitzen Fingern nahm Yamato ihm die Karte ab. „Was soll…“ Seine Stimme erstarb, als er, im Halbdunkel blinzelnd, die korrigierte Aufschrift der Karte entdeckte. Langsam eroberte ein Lächeln sein Gesicht. Die Unterschrift des Sängers war nicht mehr zu entziffern, denn mit dickem Strich gezeichnet prangten unter den Worten „my sweetest girl“ jetzt drei große Buchstaben: TAI Yamato musste lachen. „Du bist unmöglich!“ „Natürlich“, flüsterte Tai und zog ihn enger an sich. „Und du bist jetzt my sweetest girl.“ Und bevor Yamato protestieren konnte, verschloss Tai ihm erneut den Mund mit einem Kuss. Sonntag. Mitternacht. Es nieselt schon wieder, meine Turnschuhe sind durchweicht von Regen und Rotwein und auf Yamas Lippen klebt der Geschmack von Salz und Zitrone. Ich war noch nie so glücklich. WB-Version ---------- The Sweetest Girl von Fatua Disclaimer Die Challenge-Vorgaben stammen von Shibui. Digimon und alle zugehörigen Charaktere gehören wem-auch-immer, jedenfalls nicht mir… Die Lyrics der „eingespielten“ Songs sind © der (meist im Text genannten) Künstler: “If I told you that” von Whitney Houston „Mädchen, lach doch mal“, von den Wise Guys Die restlichen Songtexte und –schnipsel (Get away, Sweetest girl, Do your Best, Lucky girl), die ich Yama oder Jamie P in den Mund gelegt habe, sind von mir. Und die Story in all ihrer Merkwürdigkeit gehört auch mir, juhuu ^__^ Ich benutze ab und an japanische Namensanhängsel, wenn es für mich sinnvoll klingt, bin aber diesbezüglich im Grunde ahnungslos und erhebe daher keinen Anspruch auf Richtigkeit… Außerdem habe ich die verschiedenen Namensversionen gemixt – Schande über mich und meine Kuh – aber ich habe wenigstens versucht, es personenbezogen und konsequent zu machen. ^^“ Mittwoch. Scheißtag. Ganze Nacht von ihm geträumt. Schlussfolgerungen: 1. Yama in Frauenkleidern ist noch heißer als ohnehin schon. 2. Mein Unterbewusstsein will mir etwas sagen – und es drückt sich auch ohne Freud’sche Analyse ziemlich deutlich aus. 3. Wenn Yama das rauskriegt, bin ich tot. Shit! Solche anregenden Träume sind gut für die Libido, aber schlecht für die Konzentration. Bin todmüde, kann meine eigene Schrift nicht mehr lesen und Yamura-sensei hat mich schon dreimal ermahnt, weil ich im Unterricht eingeschlafen bin… blöde Vertretung. Kaum älter als wir und bildet sich sonst was ein. Außerdem wirft sie Yama schon die ganze Zeit glühende Blicke zu, was ihm natürlich nicht auffällt. Aber verdammt, das ist mein Objekt der Begierde! Finger weg, Sensei! „Tai?“ Er sah immer noch total verpennt aus. „Hm?“ Yamatos Hand klopfte einen ungeduldigen Rhythmus auf sein Bein. „Die Stunde ist zu Ende. Mittagspause. Oder hast du keinen Hunger?“ „Oh.“ Tai blinzelte zu ihm hoch. „J-ja, doch, klar.“ Er beugte sich rasch zu seinem Rucksack hinunter, aber die Bewegung konnte sein plötzliches Erröten nicht verbergen. Tai war wirklich komisch in letzter Zeit… „Was ist los mit dir, Tai?“ „Nichts! Was soll schon sein?“ Umständlich und mit hochrotem Kopf packte er seine Hefte ein. Vergeblich suchte Yamato seinen Blick. Selbst als er eine Hand auf Tais Schulter legte und ihn mit sanfter Gewalt zu sich umdrehte, huschten die braunen Augen hilflos hin und her, ohne ihn anzusehen. „Du kannst mir vertrauen, Tai“, sagte Yamato leise, in einem Tonfall, von dem er hoffte, dass er beruhigend und verständnisvoll klang. Solange seine Stimme nur nicht seine eigene Unsicherheit verriet! „Bedrückt dich etwas? Hat es…“ Er stockte, aber er musste es wissen. „Hat es mit mir zu tun?“ Endlich sah Tai auf und die Verzweiflung in seinen weit aufgerissenen Augen versetzte Yamato einen Stich. „Du…“, begann er gequält. „Ich meine, ich…“ Unentschlossen biss er sich auf die Unterlippe. „Hier bist du, Matt! Du beschwerst dich doch sonst immer, dass wir nicht pünktlich genug anfangen!“ Kazu. Na toll. Der Gitarrist und Background-Sänger der Teenage Wolves besaß ein unglaubliches Talent, im falschen Augenblick aufzutauchen. „Ja, Mann! Gleich! – Tai…“ Yamatos Blick kehrte zu seinem Freund zurück, aber der hatte die Chance genutzt und sich aus seinem Griff befreit. Jetzt schlang er sich den Rucksack über die Schulter und lächelte schief – ein wenig traurig, aber vor allem erleichtert. „Schon gut, Yama. Es ist nicht wichtig.“ Aber der Blutstropfen, den er sich hastig von der Lippe leckte, sprach eine andere Sprache. „Ma~att… Wer zu spät kommt, gibt am Samstag einen aus!“ Doch Yamato stand da wie angewurzelt, überwältigt von seiner Verwirrung über Tais Verhalten und der neu hinzugekommenen Enttäuschung, die in seinem Herzen um die Herrschaft rangen. Wie kann es unwichtig sein, wenn du an nichts anderes denkst? „Es ist absolut unfair – diese blöde Kuh!“ Die Hälfte der U-Bahn-Passagiere drehte sich bei diesem lautstarken Wutausbruch zu Takeru um. Yamato verdrehte die Augen. „Schalte mal auf Zimmerlautstärke runter, Bruderherz. Ich hab zwar keine Ahnung, von wem du redest, aber vielleicht sitzt ihr Freund gerade neben dir.“ „Das kann ruhig jeder hören“, murrte Takeru, aber er drosselte seine Lautstärke. „Yamura-sensei, die neue Vertretungslehrerin. Zwölf Seiten muss ich abschreiben, zwölf! Und rat mal wieso!“ „Ich habe keine Ahnung.“ Yamato bereute beinahe, nachgefragt zu haben, aber Takeru – sonst eine echte Frohnatur – hatte so böse geschaut, dass es ihm einfach rausgerutscht war: „Was machst du denn für ein Gesicht?“ Und jetzt hatte er den Salat – einen empörten, mit Kraftausdrücken gespickten und äußerst detaillierten Vortrag über den Grund der schlechten Laune. So selten Takerus Wutausbrüche waren, so gefürchtet waren sie auch. Yamato seufzte und rief sich zur Geduld. „Erzähl.“ „Also“, begann Takeru. „Vertretungsunterricht, ja? Sinnlose Aufgaben, viel Gequatsche, kein Problem. Normalerweise jedenfalls. Aber nicht bei der Yamura. Sie hat zwar keine Ahnung, wie man eine Klasse in den Griff kriegt, aber mit ABM kennt sie sich bestens aus, die alte Zicke! Ehrlich, Mann…“ „Äh… ABM?“, warf Yamato ein, um die zweifellos folgende Flut der Beschimpfungen gleich im Keim zu ersticken. „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.“ Takeru griff sich an den Kopf. „Gott, warum strafst du mich mit einem ungebildeten Bruder?“ „Hey!“ Yamato versetzte ihm einen Rippenstoß. „Etwas mehr Respekt, bitte!“ Takeru beachtete ihn gar nicht. „Jedenfalls war es ziemlich laut, die Tussi konnte sich nicht durchsetzen und am Ende der Stunde schrieb sie dann nur die Hausaufgabe an die Tafel: den gelesenen Text abschreiben. Alle sechs Seiten.“ Yamato horchte auf. „Hast du nicht eben was von zwölf Seiten gesagt?“ „Wart’s ab.“ Takerus Miene verdüsterte sich weiter. „Das war natürlich keine Hausaufgabe, sondern eine Strafarbeit unter anderem Namen – die Tante war doch nur sauer, weil wir nicht still und brav waren wie ein Haufen kleiner Ja-Sager. Also hab ich mich gemeldet…“ „Und ihr gesagt, dass man heutzutage keine Strafarbeiten mehr geben darf?“, riet Yamato. „Das hat sie sicher unheimlich gefreut.“ „Nicht direkt.“ Takeru klang fast ein wenig verlegen. „Ich hab nur gesagt, dass reines Abschreiben meiner Meinung nach keine sinnvolle Ergänzung zum Unterricht ist und sie uns lieber eine Aufgabe geben sollte, bei der wir etwas lernen.“ „Autsch.“ Yamato verzog das Gesicht. „Was hat sie gesagt?“ „Dass ich die Aufgabe zweimal machen soll“, seufzte Takeru. „Brüderchen…“ Yamato holte tief Luft. „Du solltest endlich lernen, deine große Klappe zu halten. Nimm dir ein Beispiel an Kari, die denkt wenigstens nach, bevor sie…“ „Kari!“, unterbrach Takeru ihn so laut, dass Yamato zusammenzuckte und sich schon wieder alle Köpfe drehten. „Kari hat heute eindrucksvoll beweisen, dass sie genau das nicht tut! Nachdem ich schon die doppelte Aufgabe kassiert hatte, stand sie auf und sagte, ich hätte Recht und es sei unfair, mich dafür zu bestrafen.“ „Und?“ „Auch zwölf Seiten“, antwortete Takeru dumpf. „Und alles meinetwegen.“ „Meine Welt bricht zusammen“, kommentierte Yamato trocken. „Nicht mal auf Kari ist mehr Verlass.“ Takeru sprang auf. „Auf Kari ist…“ Er brach ab und ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen. „Ach, verdammt!“ Yamato zog die Augenbrauen hoch. „Was ist mit Kari?“ „Nichts.“ „Natürlich“, sagte Yamato in seinem patentierten „Brüderchen-ich-glaube-dir-kein-Wort“-Tonfall und fixierte Takeru abwartend. Es funktionierte. Takeru seufzte tief. „Ich wollte mich entschuldigen, weil sie meinetwegen Ärger hat. Ich hab sogar angeboten, die Aufgabe für sie zu machen, aber Kari ist fast ausgerastet. Sagte, es sei ihre eigene Entscheidung, sie könne die Konsequenzen selber tragen und ich solle sie nicht bevormunden. Bevormunden , Yamato! Was hat sie für ein Problem?“ „Frauen“, erklärte Yamato weltmännisch. „Da kann man nichts machen.“ „Tolle Aussichten“, stöhnte Takeru und ließ den Kopf mit einem Klonk rückwärts gegen die Fensterscheibe kippen. Yamato sah seinen Bruder durchdringend an. „Also bist du eigentlich gar nicht auf Yamura-sensei sauer, sondern bist mies drauf, weil du mit Kari Streit hast“, verkündete er das Ergebnis seiner Analyse. Takeru bedachte ihn mit einem bösen Blick. „Blödsinn – die Yamura ist schließlich an allem Schuld! Ohne die hätte Kari doch gar keinen Grund…“ Er merkte, dass er sich widersprach und verstummte. Mit rotem Kopf wandte er sich ab. Yamato konnte seinem wütenden Gemurmel nur einzelne Worte entnehmen: „Scheißlehrer… Scheißtag… Kari… fuck!“ Yamato seufzte. „Schreib ihr doch.“ „Was? Wem? Yamura-sensei? Aber…“ „Quatsch!“ Yamato gab seinem Bruder einen Klaps gegen die Stirn. „Kari sollst du schreiben. Wie ich sie kenne, hat sie sich inzwischen wieder beruhigt.“ „Ich weiß nicht…“ Trotz seines skeptischen Tonfalls kramte Takeru sein Handy hervor und begann zu tippen. Als Yamato den Hals reckte, um unauffällig auf das Display zu schielen, versetzte sein Bruder ihm einen Rippenstoß. „Das ist privat!“ „Schon gut…“ Reumütig rieb Yamato sich die schmerzende Seite. Während sein Bruder mit nachdenklich gerunzelter Stirn eine Nachricht tippte, sie kopfschüttelnd wieder löschte und von vorne anfing, lehnte er sich in seinem Sitz zurück und ließ den Blick durch den Wagen schweifen. Die U-Bahn beherbergte wie immer ein Sammelsurium mehr oder weniger interessanter Gestalten. Eine hagere Frau mit einem plärrenden Kleinkind und zunehmend genervter Miene, die böse Blicke von der üblichen Rotte Zeitung lesender Geschäftsmänner sammelte. Ein winziger Mann im Rollstuhl, den Kopf gegen die Nackenlehne gestützt bei dem verzweifelten Versuch, den Fahrplan an der viel zu weit entfernten Decke zu lesen – natürlich machte niemand Anstalten, ihm zu helfen. Aber ich bin ja auch nicht besser… Der Gedanke wurde unterbrochen, als die Bahn hielt und eine schnatternde Horde rosa-glitzernder Schülerinnen hereindrängte. Jemand trat ihm auf den Fuß, und sekundenlang hatte er ein kicherndes Mädchen auf dem Schoß, mit einem Gesicht wie aus der Make-up-Werbung und umgeben von einer schier atemberaubenden Parfümwolke, die ihn in Vanilleduft zu ersticken drohte. Yamato hielt die Luft an. Vanille. Igitt. Kurz vor seinem endgültigen Erstickungstod kam das Mädchen wieder auf die Beine und zwinkerte ihm zu, bevor es in seiner Clique untertauchte. Immer noch völlig überrascht und leicht benommen von der vanillinen Vergewaltigung seines Geruchssinns sah Yamato ihr nach. Sein Blick wurde von der ganzen Gruppe mit Gelächter und Erröten quittiert. Yamato verdrehte die Augen. Die hat doch jemand geklont, da verwette ich meinen Bass drauf… Falsches Thema. Bloß keine Wetten mehr. Kellner, einmal Ablenkung bitte! Schnell drehte er den Kopf in die andere Richtung. In der anderen Ecke waren drei bemüht unauffällige Teenager mit einer bemüht harmlos aussehenden Transaktion beschäftigt. Der größte von ihnen, ein braunhaariger Wuschelkopf, deckte den Vorgang mit seinem breiten Kreuz. Yamato starrte seinen Rücken an. Die chaotische Frisur erinnerte ihn an jemanden… und an die Sorgen, die er heimlich hegte. Irgendetwas stimmte nicht mit Tai. Sein bester Freund, der immer die Sonnenseite des Lebens sah und es zur Perfektion beherrschte, selbst einen düster gestimmten Yamato mit seiner Energie und anhaltend guten Laune anzustecken oder wenigstens solange zu nerven, bis er sich ein Lächeln abrang – dieser Tai schien verschwunden. Es war keine Veränderung, die man auf den ersten Blick bemerkte – seine vielen Freunde und Bekannten erlebten Tai nach wie vor als das beliebte gutgelaunte Energiebündel, das er immer war. Aber Yamato war keiner dieser x-beliebigen Freunde und er als einziger durchschaute die Maske, hinter der sich der wahre Tai verbarg. Und eine Maske war es ohne Frage, das Gesicht, das Tai der Außenwelt zeigte… Seine Fröhlichkeit wirkte übertrieben, die selbstsichere Energie war einer nervösen Unruhe gewichen. Wenn Yamato ihn aus der Entfernung beobachtete, war er still und nachdenklich. Und immer wieder dieser verträumte Blick ins Leere… Der Junge mit Tais Frisur drehte sich um und die Ähnlichkeit war dahin. Schmale schwarze Augen fixierten Yamato herausfordernd. Er wich dem Blick aus. Na toll: gackernde Mädchen rechts, mordlustige Dealer links – wo konnte man denn noch gefahrlos hinsehen? Den Blick gelangweilt auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, wurde ihm erst nach einer ganzen Weile bewusst, was er da anstarrte. Es war eines der riesigen Plakate, mit denen eine geschickte Marketingfirma seit einiger Zeit sämtliche verfügbaren Innenflächen der U-Bahn tapezierte – einschließlich der Fenster. Vor dem dramatischen Hintergrund dunkler Straßenschluchten posierte ein junger Mann, die Hände um den Rand des Bildes gekrallt, als wolle er aus dem Plakat heruntersteigen. Schwarze Augen funkelten in seinem kantigen Gesicht, das umrahmt war von weichen, dunklen Locken, und ein geheimnisvolles Lächeln lag auf seinen Lippen. Jamie P, Gitarrist und Sänger der Rockband Midnight Fire , geradezu verboten gut aussehend und obendrein mit einer hinreißenden Stimme gesegnet, war der Schwarm alle Frauen, und – davon war Yamato überzeugt – nicht weniger Männer. Mit seinem neusten Hit, der Ballade „The sweetest Girl“, hatte Jamie P die Charts im Sturm erobert und sich damit endgültig zu Yamatos größtem Vorbild aufgeschwungen. Und im Augenblick wollte er diesen Namen nie wieder hören. Das Intro zum neusten Lied der Teenage Wolves verkündete den Eingang einer SMS. Takeru, der in den vergangenen Minuten wie hypnotisiert auf das stumme Handy gestarrt hatte, zuckte zusammen und brauchte drei Anläufe, um die Tastensperre auszuschalten. Kari hatte geantwortet. Mir tut’s auch Leid. Freitag Film-Night? Ich ruf dich später an. HDL Kari „Yeah!“ Takeru stieß eine Faust in die Luft und verfehlte knapp einen älteren Mann, der ihn mit einem bösen Blick bedachte. „Hey, Yamato! Kari ist nicht mehr sauer!“ „Prima.“ Yamato hatte kein Wort verstanden, nur auf seinen Namen reagiert und reflexartig geantwortet, aber in seiner neu gefundenen guten Laune bemerkte Takeru diese geistige Abwesenheit gar nicht. „Hab ich dir eigentlich von dem Film erzählt, den wir letzte Woche gesehen haben? Das war eine ganz üble Schnulze, ich hab mir nicht mal den Titel gemerkt – irgendwas mit Rosen, Schmerz und Leidenschaft. Selbst Kari hat zugegeben, dass es der pure Kitsch war…“ „Hm…“ Yamato hörte nur noch einzelne Wörter, ohne der Erzählung folgen zu können. Seine Gedanken waren mit Jamie P beschäftigt und mit dem Riesenfehler, den er gemacht hatte. Warum gelang es Yoshi immer wieder, ihn herauszufordern? Und warum hatte er nicht einfach nein gesagt? „…und rennt ohne Jacke in den strömenden Regen hinaus.“ Takerus Stimme plätscherte dahin wie ein kleiner Wasserfall, lebhaft aber bedeutungslos. „Er natürlich hinterher. Happy-End im Regen. Alles höchst dramatisch… Die Schauspieler waren am nächsten Tag bestimmt beide erkältet.“ Er grinste. „Als ich das zu Kari sagte, hat sie mich vom Sofa geschubst. Frauen und ihre romantischen Illusionen…“ Er seufzte und sah seinen Bruder an. „Yamato, hörst du mir überhaupt zu?“ Nein, natürlich nicht. Aber musste man das zugeben? „Äh… klar…“ „Na dann… ich hab Kari das Versprechen abgerungen, dass ich den nächsten Film aussuchen darf. Ich glaube, ich nehme so einen richtig düsteren Psycho-Schocker, vielleicht kriegt sie dann Angst und wünscht sich einen Beschützer…“ Er kicherte. „Was hältst du davon?“ Yamato kannte zwar die Frage nicht, aber… „Super, Takeru. Gute Idee.“ Selbst ein euphorischer Takeru kapierte es nach einer Weile, wenn man ihm nicht zuhörte. Er runzelte die Stirn. „Hast du schon gehört? Ab heute scheint die Sonne nur noch nachts!“ „Mhm.“ Einfach mal zustimmend murmeln. Wird schon passen. Warum zum Teufel hatte er Yoshi nicht einfach abgeblockt? Ach ja. In Gedanken war er wieder in der Schule, im Probenraum der Teenage Wolves – Yoshi, Schlagzeuger und größte Klappe der Band, hockte grinsend auf einem Tisch und hielt Yamato eine jungfräuliche Autogrammkarte unter die Nase, auf der Jamie P nachdenklich in die Ferne blickte. „Das schaffst du nicht. Nie im Leben.“ „Und übrigens wollen Kari und ich nächste Woche heiraten. Willst du mein Trauzeuge sein?“ „Wenn du meinst…“ Und dann stand Tai in der Tür, mit diesem merkwürdig entrückten Ausdruck im Gesicht, der so völlig seinem Wesen widersprach, und doch in letzter Zeit fast der Dauerzustand war. Er sah Yamato, lächelte verwirrt, und bevor Yamato wusste, was er tat, hörte er sich selbst sagen: „Wetten?“ Eine Hand wedelte vor seiner Nase herum und Yamato zuckte erschrocken zusammen. „Erde an Yamato!“ Takeru zitterte vor unterdrücktem Lachen. „In welchen Sphären schwebst du?“ Shit. Jetzt hatte er nicht nur einen deprimierten besten Freund am Hals, sondern auch noch eine Wette mit höchst pikantem Einsatz – schließlich sollte der Verlierer beim Konzert am Samstag auf der Bühne einen Striptease hinlegen. Mit finsterer Miene starrte Yamato den Sänger an. Wie sollte er da wieder rauskommen? Takeru folgte seinem Blick zu Jamie P, der vom Plakat auf sie herunterlächelte. „Sei ehrlich: bist du in Jamie P verknallt?“ „Yoshi hat gewettet, dass ich es nicht schaffe, mir ein Autogramm von ihm zu besorgen“, erklärte Yamato düster. „Und blöd, wie ich bin, habe ich dagegengehalten.“ Takeru „Hat er nicht so ein komisches Prinzip, dass er nur den hübschesten Frauen Autogramme gibt?“ „Exakt.“ „Einsatz?“ Yamato wurde rot und starrte stur geradeaus. „Ein Strip auf dem Konzert am Samstag.“ Takeru lachte. „Wer konnte jetzt seine große Klappe nicht halten, Bruderherz? Er hatte ja so Recht. Die U-Bahn hielt und Yamato sprang auf, froh, dem amüsierten Blick seines Bruders zu entkommen. Bloß raus hier! „Sag mal…“ Takeru hatte sich in seiner Jacke verkrallt, um nicht im Gedränge verloren zu gehen. „Warum schickst du nicht einfach eins von deinen Fangirls hin?“ „Weil wir so nicht gewettet haben. Yoshi hat behauptet, ich schaffe es nicht, mir ein Autogramm zu besorgen. Es geht nicht um den Besitz – es geht um den Akt.“ „Na und?“ Yamato warf einen Blick über die Schulter zurück und stolperte über die Schwelle zum Bahnsteig. „Autsch! Danke.“ Nur Takerus Klammergriff an seiner Jacke hatte ihn auf den Füßen gehalten. Ohne einen weiteren lebensgefährlichen Blick zu riskieren, schob sich Yamato durch die Menge der einsteigenden Passagiere. „Wir haben gewettet, Mann! Mit Handschlag besiegelt. Alles andere wäre Betrug.“ „Ach was“, sagte Takeru leichthin und schob Yamato sanft in Richtung Rolltreppe. „Ich nenne das List.“ „Es wäre unehrenhaft“, beharrte Yamato. Er drängelte sich an einem streitenden Pärchen vorbei. Sollte Takeru doch sehen, wo er blieb! Natürlich tat er seinem Bruder damit Unrecht, aber… Takeru musste sich tatsächlich anstrengen, um Schritt zu halten, stellte Yamato zufrieden fest. Trotzdem setzte er die Diskussion fort, nur unterbrochen von wiederholten Kollisionen mit gehetzt dreinblickenden Menschen, deren Aufmerksamkeit eher der Uhr als ihrer Umgebung galt. „Seit wann machst du dir denn Gedanken um die Familienehre?“ Familienehre? Yamato schnaubte. Was sollte denn davon noch übrig sein? „Es ist meine ganz persönliche Ehre, die hier auf dem Spiel steht!“ Selbst auf der Rolltreppe stapfte er unbeirrbar weiter. Nicht stehen bleiben, nicht Takeru ansehen und sich die eigene Blödheit eingestehen müssen. Fluchtverhalten, analysierte der sachlich denkende Teil seines Hirns. Na und, entgegnete Yamato Ishida persönlich. Lass mich doch abhauen, am besten wandere ich gleich aus. Spätestens nach diesem Konzert… Argh. Er schüttelte den Kopf, um die Vorstellung zu vertreiben. Nicht daran denken! „Deine Ehre, dass ich nicht lache.“ Takeru packte erneut Yamatos Jacke, als er zu entkommen drohte. „Das ist einfach dein Sturkopf, Yamato. Du bist zu stolz, um zuzugeben, dass es Dinge gibt, die du nicht…“ „Vielen Dank für die Analyse, Doktor Freud“, fauchte Yamato und riss sich los. „Yamato!“, hörte er Takeru hinter sich rufen. „Sei doch nicht so…“ Seine Stimme ging im Lärm der Umgebung unter, als Yamato ihn im Gedränge abhängte. Doch, ich bin so! dachte er wütend. Womit hatte er das verdient? Kleine Brüder! Viel zu vorlaut, viel zu frech, und für Yamatos Geschmack inzwischen auch entschieden zu schlau! „Zicke“, murmelte Takeru und ließ sich ohne Hektik weitertreiben. Yamato wartete vermutlich draußen auf ihn – wenn er wirklich sauer war, würden sie sich erst zu Hause wieder sehen. Aber Yamato hatte ihn noch nie vor verschlossener Tür stehen lassen, dafür war ihm der noch immer seltene Geschwister-Besuch zu wichtig. Im Eingangsbereich, wo das Gedränge etwas nachließ, zog Takeru sein Handy aus der Tasche und schrieb, während er gemütlich zum Ausgang schlenderte, eine weitere SMS. Yamato brauchte Hilfe – und Takeru kannte genau die richtige Person dafür. Ungeduldig, die Hände in den Hosentaschen vergraben, balancierte Yamato auf dem Rand der kahlen Blumenkästen entlang, die in einer endlosen Reihe die Straße säumten. Mach schon, Takeru. Er drehte um, folgte den Betonkübeln zurück und starrte eine Weile den Eingang an. Wieder Richtungswechsel und ein paar gelangweilte Schritte in Richtung Straße. Wo bleibt er denn? Hoffentlich ist nichts passiert… Aber was sollte schon passieren? „Blödsinn“, murmelte Yamato und zuckte zusammen, als hinter ihm Takerus Stimme erklang. „Na Bruder, wieder normal?“ Yamato fiel vor Schreck fast von seinem erhöhten Standpunkt. Takeru war neben ihm aufgetaucht, passte sein Tempo Yamatos Schritten an und sah im Laufen fragend zu ihm auf. Verärgert schien er nicht zu sein. „Was machst du, wenn du deine Wette verlierst?“ „Auswandern“, antwortete Yamato trübsinnig. Wenn er an den Wetteinsatz dachte, wollte er einfach nur im Erdboden versinken. Wo bitte war das nächste Mauseloch zum Verkriechen, wenn man es brauchte? „Ich meine es Ernst!“, sagte Takeru. „Willst du wirklich…?“ Nackt auf der Bühne tanzen? Yamato stöhnte auf bei dem Gedanken. „Ich muss die Wette gewinnen! Wenn ich nur wüsste, wie…“ Takeru grinste. „Ich weiß es“, verkündete er selbstgefällig. Yamato blieb stehen und blickte misstrauisch auf seinen Bruder hinab. „Du?“ „Dein genialer Bruder, stets zu Diensten.“ Takeru verbeugte sich mit ausgebreiteten Armen. „Mit freundlicher Unterstützung der göttlichen Kari.“ „Ach ja?“ Yamato blieb skeptisch. „Und wie wollt ihr mir helfen?“ Die Antwort ließ auf sich warten, denn in Takerus Jackentasche ertönte ein Gitarrenakkord, gefolgt von Yamatos energischer Stimme: „Sometimes I think the world’s gone mad and/ there’s no way out that I can see…“ Takeru hatte sein Handy hervorgeholt und das Klingeln mitten im Wort abgewürgt. Unauffällig lehnte Yamato sich zur Seite, doch er konnte nur das Bild erkennen, das den Absender der SMS verriet: Kari. Dann setzte sich Takeru wieder in Bewegung, senkte lesend den Kopf über das Handy – das war Absicht! – und sein Blondschopf versperrte Yamato die Sicht. „Ha!“, machte Takeru triumphierend. Toll, jetzt spielen wir wieder „Yamato neugierig machen“ – aber auf die Tour fall ich nicht rein! „Perfekt.“ Takeru schien nicht gewillt, das Spiel aufzugeben. Verdammt, natürlich weiß er, wie neugierig ich bin! Manchmal hasste Yamato seinen Bruder. „Was?“, fragte er betont gelangweilt. „Du gewinnst deine Wette.“ Takeru grinste zu ihm hoch und gestikulierte mit seinem Handy. „Kari schreibt – ich zitiere: Du spinnst, Takeru…“ Da, das Handy war in Reichweite. Bevor Takeru die drohende Gefahr auch nur ahnte, hatte Yamato es ihm aus der Hand gepflückt und las die erste Zeile. „Da steht nicht Takeru, da steht Süßer !“ Er lachte. „So weit seid ihr also schon?“ Takeru beschleunigte seine Schritte, aber Yamato konnte trotzdem sehen, dass er rot geworden war. „Wenn du schon dabei bist… lies weiter.“ Eine Erlaubnis? Welch unerwartete Ehre! Erstaunt senkte Yamato den Blick wieder aufs Display. Du spinnst, Süßer. Klar schaff ich das – Matt ist ja schon ein halbes Mädchen =P (das kommt davon, wenn man fremde SMS liest, Matt!) Wie bitte? Bei der Erziehung seiner Schwester hatte Tai eindeutig versagt! Yamato verfehlte den Randstein, knickte um und landete in der herbstlich kahlen Hecke, die nach dem Verlust ihrer Blätter nur noch aus Dornen zu bestehen schien. „Au! Verdammt!“ Takeru lachte und bückte sich nach seinem Handy, das Yamato aus der Hand geflogen war. „Selbst Schuld, großer Bruder!“ Yamato stöhnte auf. „Ich hasse dich!“ „Komm, steh auf.“ Takeru streckte ihm versöhnlich eine helfende Hand hin. Yamato schnaubte, aber er ließ sich auf die Beine ziehen und wandte sich wieder der drängendsten Frage zu: „Was zum Teufel habt ihr mit mir vor?“ Grinsend pflückte Takeru einen stacheligen Zweig aus Yamatos Haaren. „Du hast nur eine Chance, die Wette zu gewinnen. Du gehst am Freitag zu dem Konzert…“ „Aber…“ Yamato ahnte Böses. „Und zwar als Mädchen!“ Er hatte es kommen sehen. „Aber…“ Takeru ließ ihn nicht ausreden. Irgendwie mussten auch Yamato bei der Geschwistererziehung ein paar Fehler unterlaufen sein… „Du weißt doch, dass Kari Maskenbildnerin werden will? Sie macht jetzt schon Kurse und ist richtig gut. Du wirst das schönste Mädchen im Saal sein!“ „Aber…“ Takeru packte Yamato am Arm, sodass er stehen bleiben und ihn ansehen musste. „Überleg es dir. Entweder das, oder…“ „Oder was?“ Takeru ließ ihn los und zuckte mit den Schultern. „Du kannst immer noch auswandern.“ Donnerstag. Fuck, total verschlafen! Und jetzt steh ich hier, fünf Minuten vor Ende der Stunde und lasse eine gesalzene Strafpredigt über mich ergehen. Ist mir egal. Mathelehrer sind zu Ignorieren da. He, was macht Minako da neben Yama? Das ist mein Platz! Niemand schmachtet ungestraft meinen Yamato an! Na also, Mina verzieht sich. Ein überwältigendes Triumphgefühl braust durch mein Herz, als ich ihn erleichtert seufzen höre. Yama ist heute auch nur körperlich anwesend – ist er sauer wegen gestern? Gut, dass Kazu da war, fast hätte ich ihm alles gestanden… Yama starrt Löcher in die Luft, überhört Fragen und ausgerechnet in Musik hat er keine Ahnung, was der Lehrer von ihm wollte. „d-moll“, flüstere ich ihm zu, denn ausnahmsweise habe ich zugehört und kenne sogar die Antwort. Sein dankbarer Blick entschädigt für alles. „Oh nein, Kari. Nein!“ Yamato war stolz auf die Engelsgeduld, die er gezeigt hatte, während Kari und Takeru ihn durch das Kaufhaus schleiften, unter Kicheranfällen ein Kleiderkonzept für ihn entwarfen und bei einer raschen Anprobe seine Größe ermittelten, aber DAS war zuviel. Entsetzt starrte Yamato auf den Kleiderbügel in Karis Hand und das, was daran hing. „Ich bin doch kein Mädchen!“ „Falsch!“ Kari stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust. „Morgen Abend wirst du ein Mädchen sein. Und wenn du Jamie P überzeugen willst, musst du selbst daran glauben!“ „Schon gut, ich hab’s kapiert.“ Yamato starrte das Anstoß erregende Kleidungsstück an. „Aber warum kann ich keine Hose anziehen?“ Kari hob genervt die Augen zur Decke. „Weil man dann deine Figur zu sehr sieht!“ Beleidigt blickte Yamato an sich herab. „Was ist falsch an meiner Figur?“ „Perfekt!“ Takeru war im Nachbargang aufgetaucht, spähte über das Regal und grinste breit. „Das klingt doch schon sehr weiblich.“ Böse Blicke trafen ihn aus zwei sehr unterschiedlichen Augenpaaren und Takeru sah sich gezwungen, schnell für Ablenkung zu sorgen. „Hier, sind die nicht toll?“ Yamato riss die Augen auf, als er sich mit einer doppelten Handvoll ausgewählter Büstenhalter konfrontiert sah, aus roter Spitze, schwarzem Satin, sportlich gestreift oder – er schluckte krampfhaft – weiß mit rosa Herzchenstickerei. „Ich – äh – das heißt…“, krächzte er und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Kari runzelte die Stirn. „Es macht dir Spaß, in Damenwäsche zu wühlen, wie?“ Takerus Grinsen konnte nicht von der leichten Röte ablenken, die über seine Wangen kroch. „Ich muss mich doch informieren. Welcher würde dir denn gefallen?“ Yamato würgte. Elendes Geturtel! Kari verdrehte die Augen, aber sie war geschmeichelt, das verriet schon ihr Lächeln. „Weißt du, TK – wenn du erst mal ein paar Jahre älter bist, könntest du damit sogar durchkommen.“ Sie schnappte sich einen BH – ausgerechnet den rosa verzierten – und unterbrach sich nach einem Blick auf das Schildchen. „D-Körbchen? TK, was hast du für unrealistische Vorstellungen?“ „Naja…“ Takeru suchte nach Worten, warf Yamato einen Hilfe suchenden Blick zu und erhielt nur ein Schulterzucken als Antwort. Unwillkürlich sahen beide Kari an, die unter ihren prüfenden Blicken rot anlief. „Hey!“ Empört kreuzte sie die Arme vor der Brust. „Starrt mich nicht so an!“ Verdammt. Am besten so tun, als wäre nichts. Das verlegene Lachen seines Bruders im Ohr, wandte Yamato sich ganz unschuldig dem bunten Kleiderberg zu, der sich auf dem nächsten Angebotstisch türmte. Während er ein grellgrünes Neckholdertop betrachtete, ohne es wirklich zu sehen, hörte er Takeru und Kari leise über die passende Körbchengrößen diskutierten. „Aber B darf es schon sein, oder?“, flehte Takeru. „Komm schon, an A ist doch wirklich nichts dran… Oh, Entschuldigung, Kari.“ Takeru ließ heute aber auch kein Fettnäpfchen aus. Yamato schichtete die Kleidersammlung um und zog wahllos ein weiteres Oberteil heraus. „Ich geh dann mal und hole andere Größen…“ Takeru trat den Rückzug an und Yamato bemerkte plötzlich, was er in der Hand hielt. Rüschen, geraffter Ausschnitt, rosa… Schnell weg damit, bevor Kari diesen Alptraum von einem Kleidungsstück entdeckte… „Das ist hübsch, Matt!“ Zu spät. „Es ist rosa!“ Falsche Antwort. „Was hast du gegen rosa?“ Kari schien fast persönlich beleidigt. „Was hast du gegen mich ?“ Kari lachte. „Zugegeben, es ist nicht deine Farbe. Aber den Rock hier solltest du probieren. Weißt du, welche Größe du brauchst?“ Sehr witzig. „Lass mich überlegen“, tat Yamato nachdenklich. „Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal Frauenkleider gekauft habe.“ „Sei nicht so sarkastisch, Matt“, tadelte Kari ihn sanft. „Ich hab dich bisher nicht ausgelacht, oder? Also lächel mal.“ Yamato bleckte die Zähne. „Schon kapiert, du hast schlechte Laune.“ Mit einem Seufzen drückte Kari ihm den Rock in die Hand. „Da. Anziehen.“ Bamm! Die Tür der Umkleidekabine fiel mit einem Knall ins Schloss. Mechanisch begann Yamato, sich auszuziehen. Die Schuhe flogen in eine Ecke, die Jeans hinterher… Er holte tief Luft. Warum zitterten seine Hände jetzt so? „Bist du so weit, Matt?“ Kari drängelte schon. „Moment!“, rief Yamato fast panisch. Es musste wohl sein. Er zog den Rock hoch und kämpfte sekundenlang mit den Knöpfen, die sich auf der falschen Seite befanden, die gewohnten Bewegungen passten einfach nicht. „Passt er?“ Langsam verstand er Tais gelegentliche Beschwerden über seine „nervige kleine Schwester.“ Die süße, zurückhaltende Kari entpuppte sich als eine echte Belastung selbst für die stärksten Nerven. „Ich glaub schon“, murmelte Yamato und blickte an sich herunter. Ein grüner, knielanger Rock aus weichem Stoff, darunter seine schlanken, aber doch zu eckigen Beine. Er fühlte sich wie im falschen Film. Als Kari auf Zehenspitzen über die Tür spähte, zuckte er zusammen. „Die Größe stimmt“, sagte sie nachdenklich und Yamato stellte erstaunt fest, dass sie tatsächlich nicht über ihn lachte. „Aber die Farbe ist öde. Ich hol dir was anderes.“ Und schon war sie wieder weg. Wie erschlagen stand Yamato in der Mitte des kleinen Raums und starrte sich selbst im Spiegel an: bleiches Gesicht, zerzauste Haare, zierlich für einen Jungen… aber trotzdem eindeutig männlich. „I can’t resist/ that smile/ those looks/ these eyes…”, dudelte die Kaufhausmusik und die Worte, vorgetragen mit dieser unwiderstehlichen, romantisch rauen Stimme, schlichen sich heimlich durch den Gehörgang bis in seinen Kopf. „’cause she is just/ the sweetest girl of all…“ Takeru und Kari waren verrückt. Das konnte einfach nicht funktionieren! Zum 100. Mal spielte sich in seinem Kopf die gleiche Überlegung ab: Das klappt nie – ich kann das nicht – ich will das nicht – wenn mich jemand sieht! Oh, verdammt… Er kniff die Augen zu, als könnte das die in Schieflage geratene Welt wieder gerade rücken… und eine Handvoll Stoff, die auf seinem Kopf landete, vereitelte seinen verzweifelten Versuch, die Realität zu leugnen. Seufzend bückte er sich nach den abgestürzten Kleidungsstücken und zog mit spitzen Fingern einen kurzen, schwarzen Lederrock hervor. Hilfe, was ist das denn? Kari will mich wohl verarschen… Mit ausgeprägtem Widerwillen zwängte er sich in das Anstoß erregende Kleidungsstück und der Blick in den Spiegel bestätigte seinen ersten Eindruck. „Oh. Mein. Gott.“ Kari hing schon wieder über der Tür und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Hübsch – wirklich hübsch.“ Takerus Kopf tauchte neben ihr auf. „Domina Matt. Sehr überzeugend.“ „Vielen Dank“, gab Yamato pikiert zurück, aber die beiden waren schon verschwunden, prustend vor Lachen. - Kari - Yamato verliert langsam die Nerven. Irgendwie süß – sonst ist er so ruhig und beherrscht, aber diese Sache macht ihn total nervös. Er traut sich nicht mal aus der Umkleidekabine heraus, vor lauter Angst, dass ihn ein Bekannter entdecken könnte… Kein Wunder, eigentlich. Andererseits – selbst Schuld! Warum haben Männer immer das Gefühl, dass sie der Welt etwas beweisen müssen? Ich allerdings bin ihm fast dankbar – Yamato ist das perfekte Objekt für dieses Experiment! Er ist nicht nur zierlich genug, um als Mädchen durchzugehen, sondern auch wunderhübsch… ich könnte glatt neidisch werden auf seine feine, helle Haut und die langen Wimpern, die diese tiefblauen Augen umrahmen. Mit ein bisschen Make-up wird er atemberaubend aussehen… Eine gefühlte Ewigkeit später sank Yamato auf den Hocker nieder, der in einer Ecke der Kabine stand und inzwischen unter einem bunten Kleiderberg verschwunden war. Was ist nur aus meinem Leben geworden? , fragte er sich erschöpft. Seit einer Ewigkeit saß er hier bei der Anprobe fest, hatte widerstandslos Hunderte von Tops, Shirts, Blusen und – gezwungenermaßen – Röcken anprobiert und neben Takerus Lachen auch noch Karis Kommentare ertragen, die von Seufzen über Kichern und Kopfschütteln bis hin zu begeistertem Quietschen reichten. Himmel, er saß in einer Umkleidekabine und trug einen ausgestopften BH! Möglichkeit Nr.2: Auswandern nahm langsam doch sehr verlockende Züge an Aber wie jedes Mal in der vergangenen Stunde, wenn er das Ende seiner Geduld erreicht hatte, sah er sich selbst am Samstag auf der Bühne stehen, vor den Augen der ganzen Schule und eines grinsenden Yoshi, der triumphierend den versprochenen Wetteinsatz einforderte… Yamato schüttelte den Kopf, um das grauenerregende Bild zu vertreiben. Er hatte keine Wahl. Während er in Gedanken das Schicksal, Yoshi und nicht zuletzt sich selbst verfluchte, nahm er von Kari das nächste Outfit in Empfang. Ein halb durchsichtiges schwarzes Oberteil mit einem schmalen Streifen Plüschbesatz am Ausschnitt und an den langen Ärmeln, dazu ein kurzer Jeansrock, dessen Reißverschluss sich nur mit Mühe und unter leichten Schmerzen in einer sehr privaten Gegend schließen ließ. Yamato riskierte einen misstrauischen Blick in den Spiegel. Wow! Sah gar nicht mal schlecht aus… „Vergiss es“, riss Kari ihn aus den Gedanken. Yamato schreckte auf. „Was? Wieso?“ „Schau doch mal in den Spiegel.“ Tat er ja. Zu sehen war Yamato Ishida, blond, hübsch und sexy in einem engen Jeansrock… Moment. Hatte er das gerade wirklich gedacht? In seinem Kopf musste etwas gewaltig durcheinander geraten sein… Kari seufzte. „Der tut’s nicht, Matt. Hier, probier diesen. Da sieht man nicht…äh…“ „Was?“ „Naja, deine Figur entspricht nicht gerade den weiblichen Idealmaßen.“ „Was? Bin ich zu dick?“ „Ach was. Ich meine nur…“ Kari räusperte sich. „In einem so engen Rock sieht man einfach, dass du hinten weniger und vorne mehr hast als bei Frauen standardmäßig mitgeliefert wird. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie kicherte und tauchte hinter der Tür ab, bevor Yamato etwas nach ihr werfen konnte. Sein finsterer Blick streifte den Spiegel. Und er steht mir doch! Nur – als Mädchen würde er damit wirklich nicht durchgehen. Yamato seufzte. Endlich, drei weitere fruchtlose Versuche später, fand ein schwarzer Faltenrock Karis volle Zustimmung. „Perfekt!“, jubelte sie. „Der sitzt gut und ist schön weit…“ „Ja, und schön kurz“, murrte Yamato und zupfte am Saum des Röckchens, das gerade das obere Drittel seiner Oberschenkel bedeckte. „Du hast doch schöne Beine“, versuchte Kari, ihn zu beruhigen. „Das sieht klasse aus!“ „Ich weiß nicht…“ „Hör auf zu jammern.“ Takeru klang genervt, fast unfreundlich. Jede Begeisterung war aus seiner Stimme gewichen. „Bist du bald fertig?“ Yamato reckte den Kopf über die Kabinentür. Takeru stand direkt gegenüber an ein Regal gelehnt, die Arme verschränkt, und seine Augen waren hell und kalt wie das Eismeer. Als hätte er sich verbrannt, wich Yamato seinem Blick aus. Was war mit Takeru los? Er war doch sonst nicht so ungeduldig. Und schließlich war das hier seine Idee gewesen! Er wurde von Takerus Feindseligkeit abgelenkt, als Kari ihm ein neues Top reichte, ohne Träger, durchgehend gerafft und in einem leuchtenden Violett gehalten – Kari hatte eindeutig ein ungesundes Verhältnis zu dieser Farbrichtung. „Nein nein, zieh es einfach über das Schwarze.“ Yamato gehorchte und war angenehm überrascht. „Hey Kari, das sieht gut aus!“ Kari grinste ihn an. „Ich wusste doch, dass wir noch das Richtige für dich finden. „Hm, ja… aber muss es unbedingt violett sein?“ Kari legte den Kopf schief. „Die Farbe steht dir doch!“ „Jaaaa… aber –“ „Schon gut.“ Zum hundertsten Mal an diesem Tag hatte er Kari ein Seufzen entlockt. „Das Top gibt es auch noch in Petrol. Wenn du darauf bestehst…“ Petrol wie… Benzin? Was sollte das denn bitte für eine Farbe sein? Aber Kari hatte sich schon abgewandt und – wie Yamato mit einem flüchtigen Blick feststellte – schickte Takeru los, dessen Laune sichtlich auf Sturm stand. Wenn Kari nicht plötzlich erblindet war, ignorierte sie sein Missfallen einfach. Keine gute Taktik, das wusste er. - Takeru - Na super. Mein großer Bruder ist mal wieder der Mittelpunkt der Welt. Kari ist begeistert von der Herausforderung, behandelt Yamato wie eine Anziehpuppe in Lebensgröße und redet nur noch darüber, wie hübsch und süß und toll er doch ist. Ja, verdammt – ich bin eifersüchtig. Und ich bin auch noch selbst Schuld, schließlich habe ich selbst Kari mit in die Sache rein gezogen. Wäre ich doch bloß nicht so verdammt hilfsbereit gewesen! Warum kann ich auch nicht einmal meine Klappe halten? Kari dreht sich mit suchendem Blick zu mir um. Ah, ihr ist doch nicht etwa aufgefallen, dass ich auch noch existiere? „TK, magst du mal eben dieses Top in der anderen Farbe holen?“ Wenn ich ehrlich bin: nein. Aber ich bin nicht ehrlich, sondern gutmütig und latsche mal wieder quer durch den Laden, während Kari – meine Kari! – mit meinem Bruder Verkleiden spielt. Toll. - Miko Yamura - Eben ist er an mir vorbei gelaufen. Ich hab ihn nur von hinten gesehen, aber das reichte aus, um ihn zu erkennen. Seine schlanke Gestalt, die Haltung seiner Schultern, die Neigung des Kopfes, wenn er sich konzentriert… das alles ist mir so vertraut, als würde ich ihn schon ewig kennen, dabei bin ich ihm vor ein paar Tagen das erste Mal begegnet. Yamato Ishida, siebzehn Jahre, der hübscheste Schüler der höheren Klasse, die ich zur Vertretung übernommen habe. Wenn ich nur wüsste, was mich an ihm so fasziniert! Natürlich, da ist das fein geschnittene Gesicht und das blonde Haar, das ihn schon rein optisch zu etwas ganz Besonderem macht… aber mehr noch nimmt mich die Persönlichkeit gefangen, die aus seinen blauen Augen spricht: mal ganz ernst, mit tiefsinnigen Gedanken beschäftigt, dann wieder strahlend und mitreißend, manchmal auch verträumt und wie entrückt. Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder an ihm hängen bleibt, kann mich der Gedanken an ihn nicht erwehren. Inzwischen ist er längst in Richtung Anprobe verschwunden, aber mein Herz klopft immer noch wie verrückt und in meinem Bauch tanzt ein ganzer Schwarm Schmetterlinge Salsa. Woher kommen diese Gedanken? Keine Ahnung, wie es passieren konnte, aber ich habe mich verliebt. In einen Jungen, der vier Jahre jünger ist als ich und in meiner Vertretungsklasse sitzt… - Tai - „Sorry, ich bin mit Takeru verabredet“, hat Yama gesagt, als ich ihn nach der Schule zum Kaffee einladen wollte. „Ich geh mit TK shoppen!“, hat Kari vorhin im Flur gerufen, bevor sie in aller Eile davongestürzt ist. In meinem Kopf laufen immer wieder diese zwei Sätze ab, O-Ton und in voller Lautstärke. …bin mit Takeru verabredet… gehe mit TK shoppen… Repeat. Kari wird wohl die Wahrheit gesagt haben – warum sollte sie lügen? Und Yama? Nie würde Yama mich anlügen, möchte ich denken, aber mein misstrauisches, eifersüchtiges Herz ist anderer Meinung. Was hat er vor? Trifft er sich mit jemandem? Wer könnte es sein? Ich weiß genau, was mein Verstand dazu sagen würde, wenn ich ihn zu Wort kommen ließe: Es geht mich nichts an. Aber wie kann das sein, wenn ich seit Karis Abschied an nichts anderes mehr denken kann und ich bei dem Gedanken, dass Yama eine geheime Verabredung hat, fast verrückt werde? Ich weiß, meine Träume sind genau das – Illusionen, unausgesprochene Wünsche, die vielleicht nie erfüllt werden. Aber diese Ungewissheit ist eine endlose Folter… ich will es wenigstens wissen! Also streife ich seit einiger Zeit ziellos durchs Einkaufszentrum, halte Ausschau nach Yama und verdränge die begründete Ahnung, dass ich ihn hier nicht finden werde. Eigentlich habe ich ein schlechtes Gefühl dabei, Yama nachzuspionieren… Aber ist er es mir nicht auch schuldig, ehrlich zu sein? Schließlich ist er – ja, was? Mein bester Freund. Mehr nicht. So sehr ich es mir auch wünsche. Ein eisiger Blitz schießt durch meinen ganzen Körper, als ich Yamas blonden Haarschopf entdecke, der ein kleines Stück über die Tür der Umkleidekabine herausragt. Aber noch traue ich mich nicht näher ran. Takeru ist nirgends zu sehen, dafür steht Kari vor der Kabine, einen kleinen Berg Kleider über den Arm gelegt und redet. Anscheinend mit Yama, denn sonst ist niemand in der Nähe. Jetzt dreht sie sich um und… WTF? Kari schaut zu Yama in die Kabine. Und wenn Yama bekleidet wäre, würde er sicher herauskommen. Diesen Gedankengang will ich gar nicht weiterverfolgen. Jedenfalls nicht so bildlich, wie er sich gerade vor meinem inneren Auge präsentiert. Ich meine, ein unbekleideter Yama – wunderbar. Aber Kari hatte bisher keine Rolle in derartigen Träumen… Scheiße. Das kann nicht wahr sein! Mein Yama und… meine Schwester? Ich kann mich kaum entscheiden, was mich mehr eifersüchtig macht… Obwohl, bei näherem Nachdenken: Yama. Eindeutig Yama. Soll Kari doch selbst auf ihre Unschuld aufpassen. Yamato atmete auf, als er sich mit Karis Erlaubnis – das passende Outfit war schließlich gefunden – des Rockes entledigen konnte. Er sehnte sich nach den gewohnten bequemen Jeans und einem Hemd ohne Glitzer oder Pailletten und vor allem ohne einen Hauch von rosa… Doch dummerweise war es deutlich einfacher, sich in ein hautenges Top hinein zu manövrieren als es unbeschadet wieder auszuziehen. Ersteres war ihm mit einiger Mühe gelungen. Letzteres war eine Aufgabe mit unerwarteten Tücken, denn Yamato fühlte sich in dem schmalen Schlauch wie gefesselt. Selbst die kleinste Bewegung drohte die Nähte zu sprengen. „Äh, Matt… Ich glaube du solltest dich beeilen.“ Karis Stimme hatte einen drängenden Klang. Yamato hob den Kopf. Er hatte nun wirklich andere Sorgen! „Hm?“ „Sieh mal, wer da kommt.“ Yamato folgte Karis Blick – und erbleichte. Tai. Was hatte der denn hier zu suchen? Er war nun wirklich der Letzte, dem Yamato in diesem Moment begegnen wollte. „Oh nein. Nein! Scheiße… Kari, Hilfe!“ Blitzschnell schlüpfte sie in die Kabine. „Arme hoch“, befahl sie und zog ihm beide Oberteile zusammen über den Kopf. Einen Moment lang war er blind und taub, konnte nicht mehr atmen und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Dann war er frei, wenn auch ziemlich zerzaust, befreite seine Hände aus den Ärmelenden und versuchte, mit ungeschickten Fingern den BH-Verschluss in seinem Rücken zu öffnen. Kari faltete seelenruhig die Tops zusammen, während Yamato sich fast die Schulter ausrenkte – vergeblich. Ein gehetzter Blick über die Tür hinweg: Tai war nah genug, um Yamato in leichte Panik zu versetzen. „Kari“, rief er flehentlich. Sie warf einen Blick über die Schulter auf Tai, der zielstrebig und mit einem ganz ähnlichen Gesichtsausdruck wie Takeru zuvor auf sie zusteuerte. „Oh.“ Eine unzureichende Beschreibung der Situation, wie Yamato fand, aber sie reagierte blitzschnell, schlang die Arme um ihn und ließ mit der magischen Berührung einer Frauenhand den Verschluss aufspringen. Ausgerechnet diesen Augenblick wählte Tai, um die Tür der Umkleidekabine aufzureißen. Über Karis Kopf hinweg starrte er Yamato an. Angesichts der Fassungslosigkeit in Tais Blick schlug Yamatos leichte Panik urplötzlich in eisiges Entsetzen um. Warum musste Tai hier auftauchen? Warum ausgerechnet er, dessen Urteil ihm doch das Wichtigste auf der Welt war? Und warum zum Teufel gerade in diesem schlechtesten aller Augenblicke? Yamato schüttelte Kari ab, die es mit bewundernswerter Geistesgegenwart noch fertig brachte, ihm den BH vollends abzustreifen. Eines der Gelpolster fiel ihm auf den Fuß und kullerte über den Boden. Tai bemerkte es nicht. Sein Blick war starr auf Yamatos Gesicht gerichtet und sein Mund bewegte sich stumm, während er sichtlich nach Worten suchte. „Was – was ist denn hier los?“, brachte er schließlich heraus. Yamato schnappte nach Luft, als hätte er minutenlang nicht geatmet. „N-nichts“, stammelte er. „Gar nichts…“ In Tais Augen loderte plötzlich Wut auf. „ Nichts sieht anders aus, Yama!“ Jetzt drehte Kari sich zu ihrem Bruder um. „Spinnst du, Tai?“, fuhr sie ihn an. „Hör auf mit dem Blödsinn!“ Tai sah sie nur kurz an. „Du hältst dich da raus“, entgegnete er scharf. Erschrocken wich Kari zurück und drängte sich dabei unvermeidlich an Yamato. „Aber – Tai – es war wirklich nichts! Ich habe nur…“ „Kari“, unterbrach er sie und in seiner Stimme erkannte Yamato jenen mühsam beherrschten, warnenden Tonfall, den große Geschwister nur anschlagen, wenn sie es wirklich todernst meinen. „Lass uns allein.“ „Aber ich…“ „Raus“, fuhr Tai sie an und rückte eine knappe Handbreit zur Seite, sodass Kari sich an ihm vorbeizwängen konnte. Die zufallende Tür versetzte ihm einen Stoß, der ihn einen Schritt auf Yamato zustolpern ließ. Reflexartig wich dieser zurück, spürte die Kante des Hockers in den Kniekehlen und plumpste mit Schwung auf den Kleiderberg nieder, der sich darauf angesammelt hatte. „So.“ Tai beugte sich fast drohend zu ihm herunter. „Und jetzt will ich die Wahrheit hören.“ „Die – die Wahrheit?“ Yamato senkte den Blick. Warum hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen? Er hatte nichts getan, das Tais unbändige Wut gerechtfertigt hätte, und doch verspürte er das irrationale Bedürfnis, sich zu entschuldigen. „Tai…“, murmelte er und sah wieder zu ihm auf. „Kari wollte mir nur helfen!“ „Helfen?“ Tai sah nicht besänftigt aus – im Gegenteil. „Wobei hat sie dir denn geholfen? Beim Ausziehen?“ Wie immer, wenn er sich bedrängt fühlte, wurde Yamato wütend. „Wenn du es genau wissen willst: ja!“ Mit einem Ruck stand er auf und stellte mit grimmiger Befriedigung fest, dass er noch immer zwei Zentimeter größer war als sein Freund. Tai zuckte zusammen, als ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. Trotzdem dauerte es nur eine Sekunde, bevor sein Blick sich wieder in Yamatos Augen bohrte – und in sein Herz. „Ich verstehe“, sagte er schneidend. „Wobei hilft sie dir denn sonst noch? Vielleicht…“ „Tai.“ Yamato musste sich sehr bemühen, um seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Ihm war mehr danach, seinen Freund anzuschreien. „Würdest du jetzt bitte …“ „Was?“, fuhr Tai ihn an. „Den Mund halten und gehen? Dich mit Kari allein lassen? Damit ihr weitermachen könnt mit – mit…“ Er verlor den Faden, suchte stotternd nach Worten, und endete schließlich schwach: „…was auch immer das hier werden sollte…“ „Was denkst du denn, was es werden sollte?“, entgegnete Yamato bissig. „Was ich denke? Das fragst du noch?“ Tai wurde knallrot. Aber nicht vor Verlegenheit, wie sich im selben Moment zeigte – zornig versetzte er Yamato einen Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts wegstolpern ließ, bis ihm der Hocker in die Quere kam. Yamato verlor das Gleichgewicht, als seine Beine der Bewegung nicht mehr folgen konnten, kippte hintenüber und der ungeordnete Rückzug fand auf dem Boden ein unrühmliches Ende. Halb unter einem Kleiderberg begraben, das kalte Glas des Spiegels im Rücken und mit einem stechenden Schmerz im Hinterkopf schnappte Yamato nach Luft. Einen Moment herrschte Stille. Dann: „Yama…“ Yamato hob den Kopf. „Was?“, fauchte er. „Ich… hm… alles klar?“ Tai hielt ihm die Hand vor die Nase. Yamato packte sie und zog sich daran in die Höhe. Seine blauen Augen blitzten Unheil verkündend. Tai sollte sich besser vorsehen – jetzt war er wirklich wütend. „Super, Tai“, bemerkte er in scharfem Ton. „Vielen Dank. Das hat mir heute gerade noch gefehlt.“ „Schön“, erwiderte Tai gereizt. „Dann hab ich ja alles richtig gemacht.“ „Ja, und wie.“ Yamato tastete nach seinem Hinterkopf, wo der inzwischen dumpf pochende Schmerz eine prächtige Beule ankündigte. „Du bist wirklich ein Idiot!“ „ Ich bin ein Idiot? Wer macht denn hinter meinem Rücken mit meiner Schwester rum?“ „Fängst du schon wieder mit dem Scheiß an?“, fuhr Yamato auf. „Ich hab doch gesagt, da ist nichts!“ „Und ich habe schon gesagt, dass ich dir das nicht abnehme!“ Tai gestikulierte wild mit den Armen, was im beengten Raum der Kabine mehr als beängstigend war. „Die Szene eben war ja wohl eindeutig. Sogar du kannst dir an drei Fingern ausrechnen, was ich da dachte…“ Yamato schnaubte. „Hör lieber auf zu denken, bevor bei dem Versuch dein Kopf explodiert.“ Tai schnappte nach Luft. „Ach, das denkst du also auch von mir? Nichts im Kopf außer Fußball… vielen Dank für dein Vertrauen!“ Er machte Anstalten, sich umzudrehen. „Ach, Blödsinn!“ Yamato konnte nicht verhindern, dass er unwillkürlich die Stimme hob. „Das hat doch damit nichts zu tun!“ „Aber es stimmt, oder?“ „Es stimmt nicht !“ Warum fühlte er sich jetzt schuldig? Eben noch war es Tai gewesen, der ihn ungerecht behandelte, ihn grundlos anklagte, und jetzt? Irgendwie hatten sich die Rollen vertauscht, und in Tais Blick mischte sich die Wut mit einem anderem, stilleren Gefühl: er war nicht nur beleidigt, nein – er schien ehrlich verletzt. Tai wandte sich ab, doch Yamato war nicht bereit, ihn so leicht davonkommen zu lassen. Entschlossen packte er seinen Freund am Arm. „Jetzt hau bloß nicht ab! So albern hast du dich nicht mehr benommen, seit…“ In einer einzigen kraftvollen Bewegung riss Tai sich los, fuhr herum und drückte Yamato gegen die Wand, die den plötzlichen Gewaltausbruch mit einem protestierenden Knirschen quittierte. „ Ich benehme mich albern? Wenigstens betrüge ich nicht meine Freunde!“ „ Was? “ Das war endgültig zuviel. Yamatos Geduldsfaden riss, und Tai bekam die Folgen schmerzhaft zu spüren. Die Tür der Kabine klappte auf und ließ ihn rücklings zu Boden stürzen, als er mit dem ganzen Schwung des gerade erhaltenen Kinnhakens dagegen flog. Yamato kollidierte mit der zurück schwingenden Tür, stieß einen Fluch aus und stürmte Tai hinterher, erfüllt von gerechtem Zorn und ohne einen Gedanken daran, dass er mit nicht mehr als seinen Totenkopf-bedruckten Shorts am Leib alles andere als gesellschaftsfähig gekleidet war. Tai rappelte sich gerade auf, eine Hand an den Kiefer gepresst. Der Anblick versetzte Yamato einen Stich, der seine Wut auf einen Schlag verrauchen ließ. Mit einem Ruck kam er vor seinem Freund zum Stehen. Tai hob abwehrend die Fäuste, aber Yamato packte ihn an den Handgelenken, zog seine Hände nach unten und stellte sich dem anklagenden Blick. Plötzlich wollte er nur noch Frieden schließen. „Tai… es tut mir Leid.“ Tai zuckte unwillig, wie um sich aus dem Griff zu befreien, aber Yamato ließ ihn nicht los. „Tai…“ Er umklammerte die widerstrebenden Hände und sah ihm eindringlich in die Augen. „Hör mal – du glaubst doch nicht wirklich, ich hätte Interesse an deiner Schwester!“ Tai senkte verlegen den Blick, seine Mundwinkel zuckten. Wütend sah er nicht mehr aus, wirkte vielmehr unsicher, hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. Immerhin ein kleiner Erfolg. „Komm schon“, sagte Yamato mit einem leisen Lachen. „Takeru würde mich umbringen.“ Tai lächelte schwach. „Oder ich.“ Yamato jubelte innerlich. Er hatte gewonnen. Tais Hände entspannten sich und lagen jetzt warm und vertraut in seinen. Für die Spanne eines magischen Augenblicks standen sie so beieinander, wortlos, Hand in Hand, mögliche Zuschauer ebenso vergessen wie die Heftigkeit des vorangegangenen Streits. Dann hob Tai den Kopf und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Zum ersten Mal seit seinem Auftauchen nahm Yamato wieder die Musik wahr, die im Hintergrund weiterspielte. Ein uraltes Lied – war es nicht Whitney Houston, die es sang? „I know that we’re just friends/ but what if…“ Die Worte erschienen ihm wie für diesen Moment geschrieben. Von ihren verbundenen Händen ging eine Wärme aus, die seinen ganzen Körper durchströmte und ihn von Kopf bis Fuß elektrisierte. Tai kam mit leicht geöffneten Lippen ein Stückchen näher. In seinen Augen stand eine stumme Frage, doch er sprach nicht und Yamato ertappte sich bei dem Gedanken, wie diese weichen Lippen schmecken mochten… „Yamato Ishida?“ Sie fuhren auseinander, als wäre zwischen ihnen eine meterhohe Stichflamme aufgelodert. Yamato sah auf – mitten in ein hübsches, weibliches Gesicht, das er erst nach einem langen, verwirrten Augenblick Miko Yamura zuordnen konnte. Seiner Lehrerin. „Oh.“ Seine gewohnte Eloquenz hatte an diesem Tag merklich gelitten. „Yamura-sensei.“ „Außerhalb der Schule kannst du ruhig Miko sagen.“ „W-was?“ „Wenn du mich so förmlich ansprichst, fühle ich mich mega-alt.“ Sie lachte, schüttelte sich den Pony aus den Augen und schob mit geübter Geste ihren schmalen silbernen Haarreif zurecht. Und tatsächlich – in Jeans und einem Fan-Shirt von Midnight Fire sah Miko Yamura nicht mehr im Entferntesten aus wie eine Lehrerin. „Was machst du hier eigentlich? Ist das ein Werbe-Gag für deine Band?“ „Ein… was?“ Yamatos Verwirrung nahm inzwischen Ausmaße an, die sonst nur die Logarithmen-getränkte Sprache seines Mathelehrers hervorrief. Erst dieser merkwürdige Augenblick mit Tai und jetzt das… „Wovon sprechen Sie eigentlich?“ „Du, schon vergessen?“ Yamura-sensei – nein, Miko – lächelte und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Yamato blickte an sich herunter und wäre am Liebsten im Boden versunken. Hatte er wirklich die ganze Zeit in diesem Aufzug hier gestanden – in aller Öffentlichkeit? Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. „Was gucken Sie denn so?“, fauchte Tai, der plötzlich vor ihm stand und ihn vor Mikos abschätzendem Blick verbarg. Yamato hätte ihn am liebsten geküsst… Nein, halt! Besser nicht… „Ein wenig ungewöhnlich ist es schon, halbnackt im Kaufhaus zu stehen, findest du nicht?“ Ihr Lächeln hatte die Ausstrahlung einer Kampfansage. „Na und? Lass ihn doch, wenn es ihm Spaß macht!“ Spaß? Yamato blinzelte. Hatte er irgendetwas verpasst? Tai versetzte ihm einen sanften Stoß – Mach schon, verschwinde, ich lenke sie ab – bevor er sich zu voller Größe aufrichtete und Miko Yamura die Stirn bot. „Hm“, machte Miko und verzog amüsiert das Gesicht, während Yamato unauffällig den Rückzug antrat. „Und was bist du – sein Bodyguard?“ „Sein Stilberater“, entgegnete Tai schlagfertig. Miko erstickte ihr Lachen in einem gekünstelten Husten. Yamato bemerkte flüchtig den zweifelnden Blick, mit dem sie Tais kunstvoll zerrissene Jeans und die ausgeblichene Sportjacke bedachte, dann verschwand er in der Kabine. Mit dem Zuschwingen der Tür schien die Welt draußen sich in Nichts aufzulösen. Yamato lehnte den Kopf an den Spiegel und schloss die Augen. Warum? , dachte er. Warum musste immer ihm so etwas passieren? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Am liebsten hätte er die Zeit zurückgespult, um den Tag von vorne zu beginnen und alles anders zu machen. Aber wie? „Was hätte ich denn tun sollen?“, fragte er sein Spiegelbild anklagend. „Sag schon, du Idiot!“ In hilfloser Wut schlug er gegen den Spiegel. Am liebsten hätte er laut geschrieen, aber für heute hatte er wirklich genug Aufmerksamkeit genossen… Vernunft und Verzweiflung zügelten seine Stimme zu einem gebrochenen Flüstern. „Ach, verdammt!“ Er lehnte den Kopf an den Spiegel, die Stirn gegen das kalte Glas gedrückt. Nichts – das war die Antwort. Er hätte nichts ändern können, gar nichts. Er hatte eine Wette zu gewinnen und aufgeben kam nicht in Frage – Yoshi war ein unerbittlicher Wettpartner, der keinen Einsatz unbezahlt ließ, das wusste Yamato aus bitterer Erfahrung. Aber war das nicht schon Strafe genug für was-auch-immer sein Sündenkonto belasten mochte? Musste deshalb gleich alles schief gehen? Die Begegnung mit Yamura-sensei, oder Miko, wie sie ja genannt werden wollte… und Tai. Verdammt, ausgerechnet Tai! Was war da eben passiert? Yamato sah wieder sein Gesicht vor sich, dieses sanfte, fast zärtliche Lächeln, das hoffnungsvolle Leuchten in den dunklen Augen… und seine eigene Reaktion darauf, so neu, so fremd… Wäre Ya- ach, Miko nicht aufgetaucht, er wusste nicht, was geschehen wäre. Hätte er Tai wirklich geküsst? Himmel, wo kamen diese Gefühle her? Wenn Tai das wüsste – Yamato schauderte. Er konnte es sich lebhaft vorstellen – ein angewidertes „Ist ja voll schwul…“, dann würde er sich abwenden und nie wieder ein Wort mit ihm sprechen. Bloß das nicht! Yamato presste die Hände gegen die Schläfen. Tai durfte es einfach nicht erfahren. Er konnte schließlich keine Gedanken lesen… hoffentlich. Yamato schüttelte den Kopf und griff nach seinen Jeans. Nicht mehr dran denken. Am besten an gar nichts mehr denken. Nicht an Tai, nicht an die Wette, nicht an Miko Yamura und den ganzen verfluchten Scheiß… Vergiss es einfach! Aber das Vergessen wurde ihm nicht gerade leicht gemacht, denn im nächsten Moment stellte er fest, dass er sich mit sicherer Hand keineswegs seine Jeans geangelt hatte, sondern einen der vorher anprobierten Röcke – genauer gesagt den Rock, der zuvor als „sexy aber untauglich“ abgelehnt worden war. Yamato feuerte den Rock in die Ecke und knurrte unwillig. „Ich werde wahnsinnig!“ „Dann bleibt ja alles beim Alten“, kommentierte eine nur allzu bekannte Stimme lachend. Yamato fuhr herum. Tai lehnte mit lässig überkreuzten Armen auf der Türkante und hatte offenbar seine gute Laune wieder gefunden. Yamato hingegen… „Halt die Klappe“, brummte er. „Wo hast du denn unsere neue Freundin gelassen?“ Tai grinste. „ Deine neue Freundin unterhält sich gerade prächtig mit TK.“ „Mit Takeru?“ Yamato riss die Augen auf. „Unmöglich. Er hasst sie.“ Tai zuckte mit den Schultern, was in seiner augenblicklichen Stellung ziemlich merkwürdig aussah. „Dafür verstehen sie sich aber erstaunlich gut.“ Yamato stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte an Tai vorbei über die Tür. Tai drehte den Kopf, um seinem Blick zu folgen und seine Haare streiften Yamatos Wange. Für einen Augenblick nahm er nichts anderes mehr wahr als das Kitzeln seines Atems im Nacken, den schwachen Duft, der ihn umgab und der so ganz Tai war – frische Herbstluft, mit einem Hauch von Süße und einer herben Note, wie Bitterschokolade… Yamato schwankte und seine unwillkürlich erhobene Hand fand an Tais Schulter Halt. „Hey, alles klar?“ „Ja, klar.“ Yamato räusperte sich und hielt den Blick starr auf Miko Yamura gerichtet, neben der tatsächlich Takeru stand und mit lebhafter Gestik erzählte. „Was zum Teufel macht er da?“ „Er hasst sie also, hm?“ Yamato seufzte. „Ich glaube, im Augenblick hasst er vor allem mich.“ Jetzt war Tai an der Reihe, überrascht zu sein. „Dich? Wieso?“ Keine Antwort. „Yama? Was ist los?“ „Er ist eifersüchtig wegen…“ Yamato unterbrach sich. „Kari?“ Tais Schwester war soeben in sein Blickfeld getreten. Das dezente Klappern einer Tür ließ darauf schließen, dass sie aus einer der Umkleidekabinen gekommen war. Ihre Kleider waren jedoch noch die alten, auch wenn sie beiläufig den Sitz ihrer Bluse korrigierte. Sie begrüßte die Lehrerin mit einem höflichen Nicken und während sie sich dem Gespräch anschloss, legte Takeru ihr verstohlen grinsend den Arm um die Taille. „Äh… Tai…“ Vorsichtshalber verstärkte Yamato seinen Griff um Tais Schulter, bevor der auf die Idee kam, seinen Bruder zu erwürgen. Tai lachte leise. „Wenn ich mich nicht irre, ist TK eben aus derselben Tür gekommen.“ Yamato drehte sich fassungslos zu ihm um. „Und du willst ihn nicht umbringen?“ Stirnrunzelnd sah Tai ihn an. „Warum sollte ich?“ „Naja…“ Yamato zögerte. Sollte er das Thema wirklich erneut anschneiden? Aber Tai schien ehrlich verwirrt. Er gab sich einen Ruck. „Als Kari bei mir drin war, hast du dich wie ein Irrer auf mich gestürzt.“ „Oh.“ Eine zarte Röte überzog Tais Wangen. „Das… das ist doch was anderes.“ „Aber…“ „Hör mal, Yama…“ Tai schnitt ihm rücksichtslos das Wort ab. „Ich glaube, du solltest jetzt endlich deinen süßen kleinen Knackarsch wieder stilecht verpacken, sonst fallen deiner lieben Miko gleich wieder die Augen aus dem Kopf.“ Yamato spürte, wie er schon wieder rot wurde. „Sie ist nicht meine Miko“, murrte er und bückte sich, um in einem Berg zerknitterter Tops nach seinen Jeans zu wühlen. Um ehrlich zu sein: es war Tai , dem in diesem Moment fast die Augen aus dem Kopf fielen. Einen Moment herrschte eine fast andächtige Stille, dann fand Yamato endlich seine Jeans und schlüpfte hinein. Tai räusperte sich, aber seine Stimme klang trotzdem belegt, als er sagte: „Also, Yama… was hast du dir ausgesucht?“ „Was?“ Yamato hielt inne. Er war sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass sämtliche Kleider in der Kabine aus der Frauenabteilung stammten. Verlegen beschäftigte er sich mit seiner Jeans, korrigierte mit gekonntem Hüftschwung den Sitz der schmal geschnittenen Hose, bevor er sich doch noch zu Tai umdrehte – langsam und mit hochrotem Kopf. „Ich, äh…“ Tai schien sein Gestotter gar nicht zu bemerken. Sein Blick lag auf Yamatos Händen und verfolgte abwesend, wie sie mit fahrigen Bewegungen am Reißverschluss zerrten. Nach einer langen Sekunde riss er sich von dem Anblick los und schüttelte heftig den Kopf, wie um unwillkommene Gedanken zu vertreiben. „Sind das nicht deine Sachen?“ „Meine…“ Yamato schob den Fuß unter ein glitzerndes blaues Top und ließ es am Träger von seinen Zehen baumeln. „Seh’ ich aus, als würde ich so was anziehen?“ Tai starrte einen Moment lang auf das Top. Dann hob er den Kopf und grinste in gewohnter Manier. „Würde dir sicher gut stehen.“ Yamato schnaubte nur und ignorierte ihn, während er sein rotes Shirt über den Kopf zog, das graue Hemd darüber zuknöpfte und den einzelnen Socken überstreifte, den er im Schuh steckend wiederfand. Der zweite blieb verschwunden. Entnervt schlüpfte Yamato mit einem nackten Fuß in seine Chucks, ohne sich die Mühe zu machen, sie fester zu binden. Obwohl er nicht mehr aufsah, spürte er die ganze Zeit Tais Blick wie eine sanfte Berührung im Rücken. Schließlich jedoch konnte er den Moment nicht länger herauszögern. Die Jacke über den Arm gelegt, den Rucksack in der anderen Hand, schob er mit der Schulter die Tür auf. Er wurde mitten im Schritt aufgehalten, als Tai einen Arm ausstreckte und ihm den Weg versperrte. Überrascht hob Yamato den Kopf. Die Berührung einer warmen Hand auf seiner Brust erzeugte ein heißes Kribbeln in seinem Bauch, das sich im nächsten Augenblick durch seinen ganzen Körper ausbreitete, denn Tai packte ihn vorn am Hemd und zog ihn ganz zu sich hinaus. Yamato blieb der Mund offen stehen, sein Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es seinen Brustkorb sprengen. Unwillkürlich verspürte er den Drang zu fliehen, doch etwas hielt ihn fest, atemlos, wie erstarrt, und dieses Etwas war es auch, das die plötzliche Nähe mit einem geradezu perversen Glücksgefühl erwiderte. „Bist du nervös?“, hauchte Tai. Die dunkle Färbung seiner Stimme schickte einen wohligen Schauder über Yamatos Rücken und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. „N-nervös? Ich?“ Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch, doch das nahm Yamato nur am Rande wahr. Er war rettungslos verloren im intensiven Blick dieser schokobraunen Augen. Nervös? Völlig durcheinander hätte seinen Zustand besser beschrieben. Hatte Tai doch etwas gemerkt? Er räusperte sich. „Wie… wie kommst du darauf?“ Tais Mundwinkel zuckten, doch er bemühte sich, sein Grinsen zu verbergen und begann unerwartet geschickt Yamatos Hemd aufzuknöpfen. Auf halber Strecke hielt er inne und beugte sich vor. Yamato spürte eine flüchtige Berührung an seiner Wange, dann Tais warme Stimme nah an seinem Ohr. „Du hast einen Knopf vergessen“, flüsterte er. „Du musst wirklich durcheinander sein.“ „Oh…“ Das aufwallende warme Gefühl sackte bis in die Füße hinab und an seine Stelle trat peinliche Verlegenheit. Mit roten Wangen blickte Yamato zur Seite, während Tai sein Hemd wieder zuknöpfte – wenn auch nicht ganz so weit wie zuvor. „Hm… danke“, brachte er heiser heraus. „Für dich tu ich doch alles, Yama“, sagte Tai scherzhaft, aber sein Lächeln hatte etwas Trauriges, als er von Yamato abließ und sich umwandte. „Du musst schließlich einen guten Eindruck machen.“ Er legte Yamato eine Hand in den Rücken und schob ihn vorwärts. „Auf zu deiner neuen Freundin!“ „Tai! Halt, warte doch mal…“ Yamato sträubte sich vergeblich gegen diese Behandlung, doch er wurde einfach mitgeschleift. „Du hast da was falsch verstanden…“ Keine Antwort. Im Gegenteil, Tai zog ihn einfach mit sich und beförderte ihn mit Schwung in die Mitte des kleinen Kreises, der schon auf sie wartete. „Hier ist er wieder“, verkündete Tai im berufsmäßig begeisterten Ton eines Ansagers. „Der Star des Abends, ordentlich verpackt und bereit zum Interview.“ Yamato warf ihm einen bösen Blick zu – was sollte der Blödsinn? – und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Takeru und Kari tauschten verstohlen einen Blick, doch Miko strahlte ihn an, als wäre er tatsächlich gerade ins Spotlight einer Bühne gestolpert. „Hi, Matt! Da bist du ja wieder“, begrüßte sie ihn freudig. „Und, hast du was Passendes gefunden?“ „Ich, äh… nein“, erwiderte Yamato verwirrt. „Das richtige Outfit will eben gut gewählt sein.“ Sie bedachte ihn mit einem aufreizenden Lächeln. „Aber an dir würde alles gut aussehen.“ „Oh…“ Yamato lachte verlegen. „Danke.“ Miko warf einen Blick auf die Uhr und riss übertrieben die Augen auf. „Schon halb sechs? Verdammt, ich muss weiter.“ „Dann lassen Sie sich von uns nicht aufhalten“, sagte Tai bissig, bevor Yamato eine passende Erwiderung gefunden hatte. „Keine Angst“, erwiderte sie mit einem zuckersüßen Lächeln. „War mir eine Freude, euch hier zu treffen.“ Sie wandte sich zum Gehen und strich Yamato wie zufällig über den Arm, während sie sich zwischen Tai und ihm hindurch drängte. „Weißt du, dass ich ein großer Fan der Teenage Wolves bin?“ Überrascht sah er sie an. „Haben Sie uns denn schon mal gehört?“ „Noch nicht live.“ Sie neigte den Kopf. „Aber das Konzert am Samstag lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.“ „Ich dachte, Sie haben es eilig“, unterbrach Tai sie unhöflich. „Bin schon weg.“ Sie sah ihn unschuldig an. „Ich bin übrigens gespannt auf deinen Aufsatz, Tai. Drei Seiten bis morgen früh, das hast du doch nicht vergessen, oder?“ Sie drehte sich um. „Bis bald!“ Ein verschwörerisches Blinzeln, das Yamato endgültig in unbehagliche Verwirrung stürzte. „Viel Glück für deinen Auftritt, Yamato!“ Mit offenem Mund beobachtete er, wie sie davon stolzierte, jeder Schritt begleitet von einer dezenten Bewegung ihrer durchaus hübschen Kehrseite. „Ziege“, sagte Tai verächtlich. „Du sagst es“, stöhnte Takeru. „Dieser Hüftschwung…“, lästerte Kari. Yamato seufzte und verkniff sich die Bemerkung, dass Mikos Hüftschwung sie doch eigentlich ganz sympathisch machte. „Was hast du ihr erzählt, Takeru?“, fragte er stattdessen. „Ach, nicht viel…“, antwortete Takeru ausweichend. „Wir haben nur über die Schule geredet und… Au!“ Kari hatte ihm den Ellbogen in die Seite gerammt und sah jetzt missbilligend zu ihm auf. „Matt weiß doch, dass du den Mund nicht halten kannst. Steh wenigstens dazu, du Feigling.“ „Was?“ Yamato blickte beunruhigt von einem zum anderen. „Was hast du gesagt?“ „Nichts… lass das, Kari! Ich musste doch irgendwie deinen Auftritt hier erklären… Ich hab nur gesagt, es wäre deine Generalprobe für die Show am Samstag.“ „Meine…“ „Und das stimmt doch auch“, fuhr Takeru schnell fort. „Jedenfalls, wenn du… Aua! Verdammt, Kari…“ Aber Karis warnender Blick und ihr rasches Nicken in Tais Richtung brachten ihn zum Schweigen. „Tja, jetzt hast du wohl einen Groupie mehr am Hals, Matt“, warf sie ein und lachte hektisch. „Jungs, wir sollten uns beeilen. Ich habe gleich noch eine Verabredung. Mit einer Freundin , TK.“ Sie wandte sich ihrem Bruder zu. „ Tai, tust du mir einen Gefallen? Du kennst doch den Laden for feet im oberen Stockwerk? Bitte, bitte holst du mir dort zwei Paar schwarze Strumpfhosen, bitte…“ Sie setzte eine flehende Miene auf. Tai stöhnte. „Kannst du das nicht selber machen?“ „Ich brauche aber auch noch Schuhe! Ach, bitte, Tai. Du bist auch mein allerliebster Bruder.“ Sie setzte einen Hundeblick auf, der selbst ein versteinertes Herz zum Schmelzen gebracht hätte und der Yamato sehr bekannt vorkam. „Kari…“ Tai raufte sich die Haare, was seiner Sturmfrisur den letzten Rest absichtlicher Wirkung nahm, den sie vielleicht einmal besessen haben mochte. Dann seufzte er. „Na gut, Nervensäge. Aber jetzt bist du mir echt was schuldig. Kommst du mit, Yama?“ „Ich…“, begann Yamato zögernd, aber Kari ersparte ihm die Suche nach einer passenden Ausrede. „Auf keinen Fall!“ Besitzergreifend umklammerte sie seinen Arm. „Ich brauche Matt als Beratung, TK hat keine Ahnung von Schuhen.“ „Tut mir Leid, Tai.“ Yamato gestikulierte hilflos mit dem freien Arm. „Was soll ich machen?“ „Schon gut, okay.“ Resigniert streckte Tai seiner Schwester die leere Hand hin. Kari machte ein verwirrtes Gesicht. „Geld.“ Tai wackelte mit den Fingern. „Ich bin pleite.“ Freitag. Oh Mann. Der Abend gestern war wie ein endloser, seltsamer Traum – einer von den Träumen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Alptraum oder Paradies auf Erden sein wollen. Und heute? Yama redet nicht mit mir. Jedenfalls nicht über gestern. Die Nähe, die ich zwischen uns gespürt habe, ist verschwunden, restlos, als wäre nie etwas gewesen. Jetzt sitzt er da, starrt aus dem Fenster in den leichten Nieselregen und ist mit den Gedanken ganz weit weg. Ich habe keine Ahnung, woran er denkt, oder an wen. Ich hoffe, es ist nicht Miko, die uns heute schon dreimal zufällig über den Weg gelaufen ist und Yama mit allem Charme überschüttet, den sie aufbringen kann. Und das ist eine ganze Menge, das merkt sogar jemand wie ich, der sich gegen weibliche Reize als ziemlich immun betrachtet. Ich hasse ihr Lächeln, ein strahlendes beachte-mich-sprich-mit-mir-nimm-mich-hier-und-jetzt-Lächeln… Grr. Gebt mir nur eine Waffe! „Hey, Yoshi!“ Überrascht sah Yoshi von seinem Schließfach auf. „Yamura-sensei?“ „Miko, bitte.“ Sie kam gleich zur Sache. „Sag mal, was habt ihr am Samstag vor? Ich hab da was von einer Wette gehört…“ Yoshi seufzte. „Und jetzt wollen Sie es verbieten. Na toll, nicht mal ein bisschen Spaß darf man noch haben…“ „Ich will gar nichts verbieten“, unterbrach sie ihn schnell. „Dazu habe ich gar nicht die Befugnis.“ „Was wollen Sie dann?“ „Dir einen Deal vorschlagen. Du bestimmst den Wetteinsatz, richtig?“ „Ja“, antwortete Yoshi zögernd. „Und?“ „Dann kannst du deine Forderung auch ändern.“ „Schon… aber warum sollte ich das tun?“ Miko setzte eine unschuldige Miene auf. „Vielleicht, um zu vermeiden, dass die Rektorin Wind von der Sache bekommt…“ „Was?“ Yoshi starrte sie an. „Das ist Erpressung!“ „Na und?“ Sie lächelte begütigend. „Hör dir erstmal meinen Vorschlag an.“ „Vorschlag?“, entgegnete Yoshi ärgerlich. „Vorschrift trifft es wohl besser…“ Miko legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. „Sei nicht sauer, Yoshi. Du bekommst deinen Triumph – nur eben auf meine Art.“ „Sie lassen mir ja keine Wahl“, brummte Yoshi. „Wie soll Ihre Art aussehen?“ Ein siegessicheres Grinsen. „Also, pass auf…“ „Ma~att…“ Karis leicht genervter Ton deutete an, dass es nicht der erste Versuch war, seine Aufmerksamkeit zu erregen. „Bist du bald fertig?“ Ja. Völlig fertig. Nach der gerade durchgestandenen Prozedur im Badezimmer war ihm klar, warum Frauen so sprichwörtlich lange brauchen, um sich fertig zu machen. Erst die Folter mit den klebrigen Kaltwachsstreifen, deren Überreste mit Schwamm und Seife von der geröteten Haut geschrubbt werden mussten, das Duschen, umgeben von rosa duftenden Dampfschwaden – unnötig, zu erwähnen, von wem Erdbeer-Shampoo, Mango-Haarspülung und Magnolien-Duschgel stammten – dann noch die Ganzkörperbehandlung mit Aprikosen-Bodylotion und eine großzügige Dosis aus einem winzigen Deofläschchen mit dem Namen Grapefruit Giddy. Er roch wie ein ganzer Obstsalat. Mit richtig viel Zucker. Yamato knurrte genervt. Inzwischen hegte er den Verdacht, dass Strumpfhosen eine fiese Erfindung zur Qual erzwungener Cross-Dresser waren. Und wie man diese verdammten Polster in einem BH positionierte, sodass sie eine glaubhafte Wölbung hergaben, war ihm auch ein Rätsel. Diese ganze Aktion war eine unbeschreiblich blöde Idee… „Lebst du noch?“ Kari riss die Badezimmertür auf. Yamato zuckte zusammen und gab die fruchtlosen Versuche auf, den Sitz seines falschen Busens zu richten. Vor den Augen einer Frau an einem BH herumzufummeln, fühlte sich irgendwie unanständig an. „Mensch, Kari.“ Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Ich hätte auch noch nackt sein können. „Na und?“, entgegnete Kari ungerührt. „Ich habe einen Bruder – ich weiß, wie Jungs aussehen.“ „Oh Mann…“ Dieses Mädchen schien keinerlei Berührungsängste zu kennen. Yamato verdrehte die Augen und nahm sich vor, das nächste Mal auf jeden Fall abzuschließen. „Hilf mir mal.“ Kari schob kalte Hände unter seine Kleidung und benötigte nur Sekunden, um ihn mit einem hübschen Paar der hervorstechendsten weiblichen Merkmale auszustatten. Ungefähr genauso lang brauchte sie, um ihn zum Badewannenrand zu schieben, wo er schicksalsergeben niedersank, während seine selbst ernannte Stylistin ein Schminkköfferchen von beachtlichen Ausmaßen auf den Toilettendeckel wuchtete. Es war – o Wunder – blau. Kari hatte seinen erstaunten Blick bemerkt. „Nicht meine Farbe“, kommentierte sie mit einem Achselzucken. „Aber es war ein Geschenk von Tai.“ „Das hat Tai dir geschenkt?“ Er hätte nicht gedacht, dass Tai Sinn für etwas so weibliches wie die Make-up-Ausstattung seiner Schwester hatte. Kari hatte den Kofferdeckel aufgeklappt, einige Schminkutensilien griffbereit neben sich gelegt und drückte Make-up auf ein Schwämmchen. „Wieso, bist du neidisch? Mach mal die Augen zu.“ Yamato gehorchte. „Neidisch? Wegen einem Schminkkoffer?“ „…eines Schminkkoffers“, korrigierte Kari mit Genuss und ignorierte sein Stöhnen, während sie sanft sein Kinn umfasste. „Warum nicht? Wann hat er dir denn das letzte Mal etwas geschenkt?“ Sie begann, mit festen Strichen Make-up aufzutragen. „Tai? Keine Ahnung“, gab Yamato mit einem Schulterzucken zu. „Zu meinem Geburtstag, schätze ich. Oder… letzte Woche hat er mir neue Saiten für den Bass besorgt und wollte nichts dafür haben.“ Er schlug die Augen auf. „Komisch eigentlich… sonst hat er doch auch kein Geld übrig.“ „Glückspilz“, kommentierte Kari ungerührt. „Augen zu.“ Es folgte eine Ewigkeit stummen Leidens, nur unterbrochen von gelegentlichen Anweisungen. Augen auf, Augen zu, Augen auf, hochgucken, runtergucken, Mund auf, Mund zu, lächeln, Lippen spitzen… Yamato gehorchte automatisch und fühlte sich wie eine dressierte Maus. Oder vielleicht ein Clown bei den Aufwärmübungen vor der Show. Kein schlechter Vergleich, fand er. In knapp zwei Stunden würde der Vorhang aufgehen und ihn auf die Bühne spucken, damit er sich im Scheinwerferlicht lächerlich machte. Was für eine Metapher. Die Verzweiflung brachte anscheinend seine poetische Ader zum Vorschein. Einen Entschluss hatte er im Laufe der letzten zwei Tage jedenfalls gefasst: Nie wieder wetten. Das klang fast wie ein Songtitel. Never bet again. Yamato drehte und wendete den Titel in Gedanken. Vielleicht doch lieber No more bets? Oder kurz und knackig: Don’t bet. Nee, das hatte was von Omas Moralpredigt. Es würde ein witziger Song werden, schnell, rhythmisch, voller Selbstironie. Die Geschichte einer fatalen Wette, gewürzt mit einer Prise Wahrheit. Am Ende dann der Entschluss, nie wieder zu wetten, besiegelt mit einem Augenzwinkern und der viel sagenden letzten Zeile: You bet. Seine Finger kribbelten vor Sehnsucht nach den klingenden, vibrierenden Saiten. Er musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um nicht im Takt mitzuwippen, während sich in seinem Kopf die Harmonien zu einem neuen Song zusammenfanden. Melodiefetzen, Textschnipsel und die Herausforderung rhythmischer Silbenverteilung surrten im wilden Strom der Inspiration durch seinen Kopf. „Ein Reim auf say…“, murmelte er. „Way, hay, day, stay… flay…“ „Gay“, sagte Kari und kicherte. Yamato schlug die Augen auf und starrte sie böse an. „Mach dich nicht über mich lustig.“ Karis Miene hätte dem unschuldigsten Engelchen zur Ehre gereicht. „Weiß ich, über wen du Lieder schreibst?“ „Meistens über mich selbst“, entgegnete Yamato bissig. „Also: blöder Vorschlag.“ Kari grinste. „Schau mal in den Spiegel.“ Yamato stand auf und wäre sicherlich sofort wieder auf seinen Sitz herabgesunken – wenn er in dem Spiegelbild sich selbst erkannt hatte. So aber starrte er eine ganze Weile dieses fremde Gesicht an, das seinen Blick aus großen Augen erwiderte. Sie waren von einem strahlenden Blau, betont, aber nicht überstrahlt vom sparsam aufgetragenen Lidschatten. Irgendein Trick ließ die Kinnpartie weicher wirken, die Wangen waren sanft gerötet und die rosé umrandeten Lippen, voller und weicher als sonst, glänzten verführerisch. Yamato schluckte, sprachlos vor Erstaunen, Verwirrung, Schrecken… Als er seine Stimme wieder fand, klang sie rau. „Wahnsinn“, brachte er nur heraus. Karis Reimvorschlag erschien ihm auf einmal nicht mehr ganz unpassend… Gnädig sah Kari davon ab, ihn weiter zu necken. Stattdessen stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um mit Kamm und Bürste einen Großangriff auf seine Haaren startete, die nach der erduldeten Extrapflege glänzend und weich wie Seide seine Schultern streiften. „Was wird das denn?“, konnte er sich nicht verkneifen, sein Misstrauen auszusprechen. „Mhm“, machte Kari einsilbig. Möglicherweise, dachte Yamato, hatte das unerwartete Schweigen auch damit zu tun, dass eine Handvoll Haarklammern zwischen ihren Lippen klemmte. Geschickt steckte sie die Haare am Hinterkopf auf, zog eine Strähne hierhin, eine dorthin, zupfte die Spitzen zurecht und löste ein paar Ponysträhnen aus der Frisur, die sein Gesicht sanft umschmeichelten, ohne es zu verdecken. Yamato beobachtete fasziniert, wie diese neue Veränderung auch sein Gesicht zu verwandeln schien, ihm eine ganz andere Ausstrahlung verlieh. „Na, wie findest du dich?“ Kari hatte endlich alle Klammern verbraucht und musste die Erlösung von ihrem erzwungenen Schweigen natürlich sofort ausgiebig nutzen. Sie ließ Yamato keine Zeit für eine Antwort. „Das ist schon fast perfekt. Du hast wunderschöne Augen, ist dir das eigentlich klar? Genau wie TK…“ Sie seufzte hingerissen. Yamato hütete sich, das Schweigen zu brechen. O himmlische Stille. Erst nach einer Weile schien Kari aus ihren Gedanken aufzuwachen. „Wo war ich? Hm, lass mal sehen…“ Plötzlich wieder ganz geschäftsmäßig, musterte sie Yamato eingehend und nahm dann ein – natürlich rosafarbenes – Kästchen zur Hand. „Schade, dass du keine Ohrringe trägst…“, sagte sie, während sie in einer klimpernden Sammlung Modeschmuck wühlte, bei deren Anblick Bijou Brigitte, beste Freundin aller glitzerbegeisterten Teenies, vor Neid erblasst wäre. Yamato räusperte sich und behielt seine Gedanken für sich. Ohrringe? Er? Das wäre ja noch schöner! „…aber wofür gibt es Clips?!“, vollendete Kari den begonnenen Satz und hielt triumphierend ein Paar großer silberner Creolen hoch. „Komm her, Matt.“ Beim Anblick der Ohrringe wurden Yamato die Knie schwach. Himmel, die Dinger konnten auch bequem als Armreifen herhalten! Aber Widerstand war zwecklos, das hatte er inzwischen zur Genüge erfahren. Was Kari sich in den Kopf gesetzt hatte, das würde auch geschehen. Notfalls über seine Leiche. Und letztendlich ging es hier um ihn – um seine Wette, seine Ehre, seinen Stolz. Nur dass sein Stolz schon unter den Rettungsversuchen reichlich gelitten hatte… Seufzend fand er sich zum zweiten Mal auf dem schmalen Rand der Badewanne wieder, zum garantiert hundertsten Mal aufgeregt umflattert von Kari, die sich wie eine perfektionistische Künstlerin kurz vor der Vollendung ihres Meisterwerks gebärdete. „Autsch! Kari, reiß mir nicht das Ohr ab!“ „Huch, sorry!“ Irgendwie klang diese leichtfertige Entschuldigung nicht ganz ehrlich. Mit finsterem Gesicht ließ Yamato zu, dass Kari mit verschiedenen Ohrringen experimentierte, ihm Ketten anhielt, mehrmals unzufrieden den Kopf schüttelte und ihm schließlich ein schwarzes Satinband um den Hals legte, auf das ein schlichtes, silbernes Kreuz gefädelt war. Das erste geschmackvolle Schmuckstück, das ihm an diesem Abend untergekommen war, dachte Yamato ungnädig. Kari konnte zum Glück keine Gedanken lesen, aber seine Stimmung entging ihr nicht. „Du machst ein Gesicht, als würdest du nachher zum Schafott geführt. Sieh es als Spaß, Matt – es ist doch nichts dabei!“ „Für dich nicht“, knurrte er. „Du hast Recht“, stimmte sie ihm unerwartet zu. „Aber du selbst hast diese Entscheidung getroffen. Willst du jetzt einen Rückzieher machen? Ich habe dich eigentlich nie für einen Feigling gehalten…“ „Ich bin kein Feigling“, protestierte Yamato beleidigt und zugleich verärgert, weil sie ihn so mühelos zu manipulieren wusste. „Ich habe mich entschieden und jetzt ziehe ich das auch durch.“ „Na also“, sagte Kari aufmunternd, als wäre damit alles geklärt. „Du schaffst das schon.“ Sie lächelte. „Ich weiß jetzt schon, welches Lied Jamie P nachher für dich singen wird.“ Yamato starrte sie nur an, rettungslos hinter ihrem plötzlichen Gedankensprung zurückgeblieben. „Wieso? Für mich? Was denn?“ Kari räusperte sich, zog die Haarbürste als Mikroersatz hinzu und sang mit wenig Musikalität, aber viel gutem Willen: „Mädchen, lach doch mal – bitte, bitte lächel einmal nur für mich…“ Yamato sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Immer cool bleiben , sagte er sich. Gönn ihr nicht den Triumph. Fast hätte ihm Karis Darbietung tatsächlich ein Lachen entlockt. „Das ist aber nicht von Jamie P“, antwortete er nur trocken. „Sondern von den Wise Guys, ich weiß.“ Kari hatte wie aus dem Nichts eine Nagelfeile hervorgezaubert und griff jetzt nach seiner Hand. „Kannst du nicht wenigstens ein freundliches Gesicht machen? So läuft er ja vor dir weg, statt dir ein Autogramm zu geben.“ Yamato seufzte und verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. „Besser?“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Kari schauderte. „Sieht eher aus wie ein hungriger Zombie. Oder einer von diesen Monster-Clowns.“ Jetzt waren sie also bei den Clowns angekommen – er hatte es ja gewusst. Yamato ließ die Grimasse fallen. „Was für Clowns?“ „Na, diese bösen Clowns, die im Dunkeln lauern und kleine Kinder fressen.“, erklärte Kari. „Du weißt schon.“ „Kenn ich nicht“, musste Yamato zugeben. „Alles klar bei dir, Kari?“ „Ich bin geschädigt“, stöhnte sie. „Zu viele Horrorfilme mit TK.“ „Ich sollte wohl mal ein ernstes Wort mit meinem Brüderchen reden.“ „Lass das mal.“ Kari lachte. „Es ist wirklich witzig, wie TK sich immer erschreckt.“ Yamato schnaubte amüsiert, doch das Lachen verging ihm, als sein Blick auf seine Nägel fiel, die Kari gerade in einem sanft schimmernden Perlmutt lackierte. „Sch…ande“, stieß er hervor, bevor er sich bremsen konnte. Kari sah auf. „Sei froh, dass du schöne Nägel hast, sonst hätten wir dir Krallen aufkleben müssen.“ Er schluckte trocken, und sie hob eine Hand, um ihm über die Wange zu streichen. „Lächeln, Matt, lächeln.“ Wie zum Teufel sollte er lächeln? Er wurde hier gequält, vergewaltigt, seiner Männlichkeit beraubt! Und dabei sollte er auch noch ein freundliches Gesicht machen. Wenn er an die kommende Tortur dachte, wurde ihm ganz flau im Magen. Verkleidet als Mädchen, mitten in einer riesigen Menschenmenge den Star des Jahrhunderts becircen, um ihm ein Autogramm abzuluchsen… Und dann noch lächeln? „Wie denn?“, krächzte er, plötzlich von Mutlosigkeit überwältigt. Kari griff nach oben und zog mit den Fingerspitzen seine Mundwinkel nach oben. „Einfach so.“ Sie ließ ihn los und verzog kritisch das Gesicht. „Sieht noch ein bisschen künstlich aus.“ Yamato stöhnte auf. „Das wird nichts.“ „Lächelst du sonst nie?“ Kari weigerte sich einfach, seine Äußerung auf das gesamte Vorhaben zu beziehen. „Was für ein Gesicht machst du bei deinen Freunden?“ Yamato überlegte einen Moment. Freunde ? Er dachte an die Wolves. Wie gucke ich… Freundlich, klar. Meistens gelassen. Wenn möglich, cool. Er stellte sich Kazu vor, der ihm mit einer Cola zuprostete und setzte ein lässiges, schiefes Grinsen auf. „Hm“, machte Kari. „Das ist ein bisschen zu cool. Wie wäre es etwas begeisterter?“ Begeistert? Das war einfach. Begeistert hieß Bühne. Und das Bühnenlächeln hatte er immerhin stundenlang vor dem Spiegel geübt. „Nein, nein, nein.“ Kari war nicht zufrieden. „Viel zu selbstbewusst. Jamie P steht auf der Bühne, nicht du. Du musst ihn mehr… anschmachten.“ „Anschmachten?“ Yamato starrte sie entsetzt an. „Ich bin Sänger, kein Schauspieler!“ „Ja, dem Himmel sei Dank.“ Sie grinste. „Guck nicht so beleidigt. Anschmachten geht so.“ Sie setzte einen Blick auf, der sich wirklich nur mit ‚Anschmachten’ beschreiben ließ. „Große Augen, ein leichtes Lächeln, zu ihm aufschauen…“, erklärte sie, ohne ihren verliebten Gesichtsausdruck zu verlieren. Wahrscheinlich hatte sie viel Übung… Yamato versuchte es, mit dem zweifelhaften Erfolg, dass Kari vor Lachen den Halt verlor und vor ihm auf die weißen Fliesen des Badezimmerbodens sank. „Süß, Matt, wirklich süß! Wie ein bettelnder Schoßhund.“ Sein böser Blick entlockte ihr ein Glucksen. „Tai hat den Blick auch perfekt drauf.“ Sie schnappte nach Luft und bemühte sich sichtlich, das Lachen zu kontrollieren, als sie einen weiteren Versuch startete, ihm den richtigen Gesichtsausdruck beizubringen. „Stell dir vor, du bist verliebt. Wie schaust du sie an?“ Yamato versuchte zu lächeln und hielt inne. Verliebt? Nachdenklich blickte er zur Seite, verfolgte den langen Riss in der zurückgeschobenen Plastikwand der Duschkabine. Wie würde er… wenn er… verliebt… Wie sollte man sich denn in so etwas hineinversetzen, verdammt? Wann war er das letzte Mal verliebt gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Komisch. Hieß es nicht, dass siebzehnjährige Schüler mitten in der Phase ‚Entdeckung der Liebe’ steckten? Warum zum Teufel spürte er dann nichts davon…? „Matt?“ „Ja… ich denke nach…“ Es musste doch irgendwas geben… Stell es dir einfach vor, kann doch nicht so schwer sein! Gut, also: irgendein Mädchen, vorzugsweise hübsch, bitte einmal anlächeln. Und nicht zu zaghaft, du sollst sie schließlich überzeugen. Er lächelte. Kari legte den Kopf schief. „Nicht ganz schlecht…“, begann sie zögernd, offenbar bestrebt, ihm Mut zu machen. „Vielleicht ein bisschen zu männlich… ein bisschen zu Macho…“ Yamato vergrub das Gesicht in den Händen. „Vorsicht, der Nagellack ist noch nicht ganz trocken“, rief Kari warnend. Yamato seufzte und spürte im selben Augenblick Karis Hand auf seiner Schulter. „Keine Angst, du schaffst das schon.“ Sie lachte leise. „Das Schlimmste ist schon vorbei.“ Verwirrt blickte er zu ihr auf. „Was?“ „Das Styling.“ Sie begann, die im Raum verstreuten Utensilien zur Verschönerung von Gesicht, Haar und Händen einzusammeln und Yamato stand auf. Der Blick in den Spiegel war auch beim zweiten Mal ein Schock. Kari hatte mit seiner Verwandlung wirklich ein Kunstwerk geschaffen. Die Schmuckauswahl, die sie schließlich getroffen hatte, konnte man fast elegant nennen. Yamato dachte mit Schaudern an die Riesencreolen, die Kari zu seiner Erleichterung schnell verworfen hatte. Drei feine silberne Ketten in unterschiedlicher Länge baumelten jetzt von seinen Ohrläppchen, auffällig, aber nicht aufdringlich, und das Halsband war genau der richtige Akzent über dem weiten, aber zum Glück nicht tiefen Ausschnitt des schwarzen Oberteils. Kari richtete sich auf und begegnete seinem Blick im Spiegel. „Zufrieden?“ „Wenn ich eine Frau wäre, sicher.“ „Das reicht mir.“ Sie lachte. „Fehlt nur noch…“ Sie kramte noch einmal kurz in ihrem Schminkkoffer, während Yamato beunruhigt abwartete, was nun wieder auf ihn zukam. „Dies hier.“ Etwas glitzerte in ihrer Hand, doch bevor er es erkennen konnte, hatte Kari den Gegenstand schon in seinem Haar befestigt. Es klirrte leise, als er den Kopf drehte und im Spiegel einen kleinen silbernen Schmetterling sah, dessen hauchdünne Flügel aus grün-blauem Glas im Licht funkelten. „Wow…“, murmelte er beeindruckt, doch nur einen Augenblick später meldeten sich Zweifel. „Kann ich die wirklich… Ich meine… war die nicht teuer?“ „Keine Ahnung.“ Kari zwinkerte ihm zu. „Hab ich auch von Tai, also war es wahrscheinlich ein Sonderangebot.“ „Du bist ganz schön fies zu deinem Bruder“, bemerkte Yamato, plötzlich überwältigt vom Pflichtgefühl, seinen Freund zu verteidigen. Kari zuckte mit den Schultern. „Eigentlich verstehen wir uns gut. Er ist nur manchmal so… unglaublich blöd .“ „Stimmt, manchmal begreift er wirklich gar nichts“, musste Yamato ihr Recht geben. So wie gestern… Der Gedanke hing unausgesprochen zwischen ihnen. „Aber er kann auch ganz anders sein. Aufmerksam und verständnisvoll und einfach…“ Er stockte und lachte hilflos. „Auch wenn er meistens eher an einen hyperaktiven Welpen erinnert.“ Kari nickte lachend, aber mit einem Mal verstummte sie. „Matt“, sagte sie mit strahlenden Augen. „Das war gerade das schönste Lächeln, das ich je an dir gesehen habe.“ - Takeru - Äußerst spannend, das Fernsehprogramm. Gähn. Noch drei Minuten und ich schlafe ein. Hoffentlich ist Kari bald fertig. Je eher Yamato zu diesem verdammten Konzert verschwindet, desto besser. Ich könnte sie suchen gehen, aber… lieber nicht. Ja, sie hat mir gestern in dieser Umkleidekabine mit aller Vehemenz klargemacht, dass sie mir gehört. Aber trotzdem will ich nicht sehen, wie sie mit meinem großen Bruder… Nicht daran denken, Takeru. Mu man tai. Scheiß-Talkshows. „TK!“ Woah, fast wäre ich vom Sofa gefallen. Aber da ist sie endlich, die willkommene Ablenkung. „Was ist?“ Ich angele mir die Fernbedienung vom Boden und setze mich auf, drehe den Ton leiser und schaue mich nach Kari um, die in der Tür steht. Diesen selbstzufriedenen Ausdruck kenne ich doch… Und da – „Wahnsinn.“ Ist das wirklich noch mein Bruder? „Und jetzt, Jungs und vor allem natürlich Mädels – der vorletzte Song für heute: Late Night Thoughts! “ Während die ersten Gitarrenriffs durch den Saal hallten, untermalt vom unvermeidlichen Geräuschpegel der begeisterten Fans, ließ Yamato den Blick durch den Raum schweifen. Eine unüberschaubare Menge drängelte sich vor der Bühne, feierte die Band, kreischte, lachte, tanzte Pogo. Das Halbdunkel im Saal wurde nur von wild aufblitzenden Lichtern und den farbigen Spots auf der Bühne unterbrochen, gegen deren unruhiges Licht sich die Figuren einzelner Crowdsurfer abhoben, die über der Menge zu schweben schienen. Yamato trank den letzten Schluck seiner Cola und stellte die leere Flasche auf den Boden. Den größten Teil des Konzerts hatte er hier verbracht, am Ende der Halle, zu verunsichert durch seine Aufmachung und nicht zuletzt den wackeligen Stand auf hohen Absätzen, um sich wie sonst ins Gedränge zu stürzen. Er wollte gar nicht wissen, wie viele seiner Mitschüler heute hier waren. Es musste pures Glück sein, das ihn bisher vor peinlichen Begegnungen bewahrt hatte. Mal abgesehen von der selbstgefälligen Anmache eines Studenten und dem Zusammenstoß mit Takai aus der Parallelklasse, der ihn nur musterte und anerkennend grinste, ohne ihn zu erkennen. Damit hatte er wohl die erste Prüfung überstanden. Auch wenn er fast in Ohnmacht gefallen wäre, als Takais Hand im Vorbeigehen seinen Hintern streifte… Aber trotz seiner Verlegenheit hatte er die Show genossen. Midnight Fire war eben einfach genial und Jamie P konnte wie kein anderer das Publikum zum Toben bringen. Auch nach über zwei Stunden schien er nichts von seiner Energie eingebüßt zu haben, legte atemberaubende Tanzeinlagen ein, ließ die Zuschauer den Refrain singen und ganz allgemein ‚rocked the house’. Jetzt wurde es allerdings Zeit, den Standort zu wechseln – gegen Ende seiner Konzerte pflegte Jamie P an die vorderen Reihen Autogramme zu verteilen. Und genau deswegen war er schließlich hier. Yamato stieß sich von der Wand ab. Auf geht’s! Im hinteren Bereich standen die Leute in lockeren Trauben, tranken Coke, wippten im Takt der Musik mit Füßen und Köpfen und versuchten, sich zu unterhalten. Yamato hatte das Gefühl, das alle Blicke an ihm hängen blieben. Mindestens die Hälfte der Männer starrte ihm nach und das war kein Wunder, dachte Yamato grimmig. Mit diesen Schuhen konnte man gar nicht anders als bei jedem Schritt mit dem Hintern zu wackeln… Er war fast erleichtert, als er endgültig ins Gedränge eintauchte. Für abschätzende Blicke blieb kein Platz mehr, doch an ihre Stelle trat der ständige Körperkontakt in einem Meer aus menschlichen Körpern, das in Wellen nach vorne wogte, schwankend wieder zurückwich und ihn in seinen unberechenbaren Strömungen mit sich zog. Yamato zwängte sich zwischen protestierenden Pärchen durch, umrundete einen Pogo-Circle und hatte das Gefühl, der Bühne nicht näher zu kommen. Schließlich blieb er stecken. „Keine Panik“, murmelte er. „Keine Panik…“ Aber er war regelrecht gefangen zwischen einem Mann von der Statur eines Kleiderschranks, dem äußeren Rand eines wild auf und ab hüpfenden Kreises und einer Horde jubelnder Mädchen, die ohne jeden Erfolg, aber mit unveränderter Begeisterung weiter nach vorne drängte. Verdammt! Yamato konnte sich nicht mehr bewegen. Die Luft war getränkt vom schweren Duftgemisch aneinander gedrängter Menschen, keuchender Atem, versagendes Deo, Schweißgeruch… Mit jedem Atemzug wuchs seine Verzweiflung. Niemals würde er so die vorderste Reihe erreichen. Die Bühne, Jamie P und das ersehnte Autogramm rückten in unerreichbare Ferne. Er war dabei, die Wette zu verlieren. Würde es so enden? Die ganze Mühe umsonst? Yamato erahnte nur die Bewegung über sich und riss die Hände in die Höhe, doch er war zu langsam. Ein Knie schlug schmerzhaft gegen seinen Kopf, als ein Crowdsurfer über ihm weitergereicht wurde. Im nächsten Moment öffnete sich der Kreis neben ihm, um einen Tänzer herauszulassen, der mit dem typischen euphorischen Schwung des Pogos und dem Feingefühl einer Kanonenkugel gegen Yamato prallte. Alle Luft wich mit einem Seufzen aus seinen Lungen, als er zu Boden ging. „Sorry, sorry!“ Der Schuldige war augenblicklich wieder aufgesprungen und half ihm auf die Beine. „Tut mir echt Leid! Alles klar?“ Aber bis Yamato soweit zu Atem gekommen war, dass er antworten konnte, war der Junge schon lachend in den Kreis zurückgekehrt, der sich hinter ihm schloss. Na toll. Yamato presste eine Hand auf den schmerzenden Magen. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Er zuckte zusammen, als ihm jemand einen Arm um die Schultern legte. Der Mann, dessen breites Kreuz ihm eben noch den Blick auf die Bühne versperrt hatte, sah ihn mit einem Retter-armer-Jungfrauen-Ausdruck an. „Brauchst du Hilfe, Süße?“ „I-ich?“ Yamato brachte nur ein erschrockenes Quietschen heraus, dessen er sich in jeder anderen Situation geschämt hätte. Heute passte es zur Rolle. „Nein, alles klar. Aber…“ Plötzlich stand ihm die Lösung klar vor Augen. „Hilfst du mir hoch?“ Der Mann grinste kaum sichtbar im Dämmerlicht. „Kein Problem.“ Er verschränkte die Hände zur Räuberleiter und beförderte Yamato mühelos in die Höhe. Im ersten Augenblick kribbelte die Angst in seinem Bauch, als er frei in der Luft hing. Dann fingen ihn unzählige Hände auf, hielten ihn in der Schwebe. Es war ein erhebendes Gefühl, wie Fliegen, wie Dahintreiben auf einer Welle, die sanft an den Strand rollt. Am Rande seines Bewusstseins hörte er Jamie Ps Stimme, der eine „ganz besondere Aktion“ ankündigte. Komisch, er hatte gar nicht gemerkt, dass das Stück schon vorbei war. Sein Orientierungssinn war nicht gerade erfreut über die sonderbare Fortbewegungsart, aber als er den Kopf drehte, entdeckte er Jamie P in unerwarteter Nähe. Er war fast bei der Bühne angekommen! Jetzt schnell runter, bevor er im Securitygraben landete… Aber das war leichter beschlossen als getan. So nah an der Bühne standen die Fans dicht gedrängt und vor allem die Mädchen verteidigten eifersüchtig ihren Platz in der Nähe des Stars. „Lasst mich runter!“ Yamato kämpfte erfolglos um einen Platz am Boden. Irgendeine Äußerung des Sängers ließ unter den Mädchen ekstatisches Kreischen aufbranden, aber er nahm es kaum wahr, spürte nur die Enttäuschung, als einer der Securitymänner nach ihm griff. Jamie P rief etwas, das nach „Sweetest Girl“ klang, wohl die Ansage des nächsten Songs. Erneut schrie die Menge auf, doch diesmal klang es fast enttäuscht. „Nein, lass mich!“ Yamato wehrte sich mit aller Kraft gegen den Mann, der ihn in den Graben hinunterzog, obwohl er wusste, dass es vergeblich war. Sein Blick fiel noch einmal auf Jamie P, der am Rand der Bühne stand, das Mikro in der Hand, und – o Wunder – ihn direkt ansah. „Ja, dich meine ich.“ Wie bitte, was? Yamatos Gegenwehr erlahmte. Der Securitymann stellte ihn auf die Beine, doch statt ihm einen Stoß in Richtung Ausgang zu geben, schob er das vermeintliche Mädchen zum Bühnenrand. Yamato schluckte und schaute zu Jamie P hoch, der ihm jetzt die Hand entgegenstreckte. „Komm, nicht so schüchtern!“ Zögernd nahm Yamato die dargebotene Hand, doch ihm blieb keine Zeit, das Geschehen zu verarbeiten. Er spürte zwei kräftige Hände um seine Mitte, als der Securitymann ihn packte und fand sich schwankend und verwirrt auf der Bühne wieder. Jamie P legte einen Arm um ihn und zog ihn an seine Seite. Unsicher sah Yamato zu ihm auf, doch Jamie P sprach schon wieder zum Publikum. „So, jetzt haben wir sie doch noch auf der Bühne, die schönste Frau des heutigen Abends. Ich präsentiere euch… Wie heißt du, Schätzchen?“ Er sah Yamato an, der sich mit aller Macht wünschte, in einem tiefen Loch zu versinken. Oder wenigstens in Ohnmacht zu fallen, wie es manche Mädchen bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegten… Jamie P sah ihn erwartungsvoll an. Yamato versuchte es mit einem Lächeln. „Y-yama…“, hauchte er. Tais Spitzname für ihn war das erste, was ihm in den Sinn kam. Aber Jamie P schien nicht im Geringsten verwundert. „Hier ist mein sweetest girl des heutigen Abends. Applaus für Yama-chan!“ Applaus und Geschrei rauschten in seinen Ohren. Yamatos Blick schweifte über die Menge. Beim Anblick der neiderfüllten Gesichter in der ersten Reihe drehte sich ihm der Magen um. Das Lächeln schien ihm auf den Lippen festzufrieren, und als Jamie P ihn sanft zu sich umdrehte, konnte er ihn nur wie hypnotisiert anstarren. Anschmachten , erinnerte er sich. Große Augen, lächeln… wie zum Teufel war er auf dieser Bühne gelandet? „Dieses Lied, das letzte für heute“, sagte Jamie P sanft und Yamatos Blick kehrte zu ihm zurück, „singe ich nur für dich, Yama-chan.“ Als sanfte Gitarrenklänge den Song einleiteten, trat er einen Schritt zurück, nahm Yamatos Hand und sank auf ein Knie nieder. Yamato konnte sehen, wie er leicht mit dem Kopf nickte, in Gedanken die Takte bis zu seinem Einsatz mitzählte. Dann begann er zu singen und Yamato konnte nicht mehr denken. „Seems like the world revolves around her…” Die tiefe Stimme brachte die Luft zum Vibrieren. Der Klang breitete sich um ihn aus wie ein Spinnennetz, wickelte ihn ein, raubte ihm den letzten Rest Fassung, den er sich noch bewahrt haben mochte. Jamie Ps dunkle Augen hafteten auf ihm, betörend und geheimnisvoll, und ohne jeden Zusammenhang musste er plötzlich an Tai denken, dessen Blick ebenso durchdringend sein konnte, ihn bis auf den Grund seiner Seele durchschaute… Jamie P stand langsam wieder auf. Während er sang, umrundete er Yamato, zog ihn an der Hand mit sich wie in einem Tanz, verwöhnte ihn mit sanften Berührungen. Aus dem Augenwinkel sah Yamato ein Funkeln im Publikum, als Hunderte von Feuerzeugen glimmende Spuren in die Dunkelheit zogen und wünschte sich ans Ende der Welt. Tais Augen blieben bei ihm, Trost und Ablenkung. Aber mit jedem Mal, wenn Jamie Ps Finger über seinen Hals strichen, seine Wange oder sein Haar berührten, nahm die Missbilligung in seinem Blick zu. Irgendwie ging das Lied vorbei und entgegen aller Erwartung war Yamato noch immer nicht vor Scham gestorben. Als die letzte Strophe endete, blieb Jamie P dicht vor ihm stehen und sah ihm tief in die Augen. „I can’t resist…“, sang er, die letzte Wiederholung des Refrains. Er wechselte das Mikro in die linke Hand und hob die Rechte, um mit den Fingerspitzen über Yamatos Schulter zu streichen, wo der Ausschnitt die nackte Haut entblößte. Yamato spürte die sanfte Berührung wie Feuer auf seiner Haut. „Cause you are just/ the sweetest girl of all…“ Jamie hauchte die letzte Zeile ins Mikro, das endlose Ritardando ließ seine Finger durch Haut und Muskeln brennen. Yamato zerfiel innerlich zu Asche. „…the sweetest girl…“ Der letzte Ton verklang und die Hand glitt in seinen Nacken. Der Sänger beugte sich über ihn, zog ihn an sich, und wie in einem Traum fühlte Yamato warme Lippen auf seinen. Unwillkürlich schloss er die Augen. In Gedanken sah er wieder Tai vor sich, sein Gesicht verschlossen und düster vor Enttäuschung. Gerade als er sich losreißen wollte, gab Jamie ihn frei. Yamato schnappte nach Luft. Das Publikum johlte. Sogar die Mädchen in der ersten Reihe klatschten und schrieen. Benommen starrte Yamato den Sänger an, bemüht, seine Verwirrung zu verbergen und ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, doch ein frecher kleiner Gedanke bahnte sich den Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins. Das war seine Chance. Karis silberner Schmuckgürtel klirrte leise, als er die Autogrammkarte unter dem Rockbund im Rücken hervorzog. „Ein Autogramm?“, bat er, mit der hellen, atemlosen Kleinmädchenstimme, die er stundenlang geübt hatte – gestern Abend, als er vor Aufregung nicht einschlafen konnte. „Zur Erinnerung?“ Jamie P lachte und zauberte aus irgendeiner Tasche einen Stift hervor. Offenbar war er auf solche Forderungen bestens vorbereitet. „Ich würde mich freuen, dich wieder zu sehen“, sagte er, während er etwas auf die Karte kritzelte. „Bis bald, Yama-chan.“ - Hiroaki Ishida - 2:54 blinkt mir Digitalanzeige am Fernseher entgegen. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken. Tolle Zeit für die Heimkehr des liebenden Vaters. Der erste Weg führt in die Küche. Zwei Gläser Wasser stürze ich sofort hinunter, das dritte kommt mit auf die Suche nach meinem besten Freitagabendfreund: der Vorratspackung Aspirin. Katerbekämpfung. Meine Güte, die Jungs können bechern… Ich glaube, ich werde langsam zu alt für so was. Auf dem Weg ins Bad sehe ich Licht, das durch Yamatos angelehnte Zimmertür auf den Flur fällt. Ist er etwa noch wach? Um diese Zeit? Zu müde, um noch echten Ärger zu empfinden, schiebe ich die Tür ganz auf – Wasser schwappt mir über die Hand und auf den Boden, als ich in letzter Sekunde das Glas auffange, das meinen erschlafften Fingern entglitten ist. Der gedämpfte Schein der wabernden Lava-Lampe beleuchtet ein Schlachtfeld. Papierschnipsel bedecken den Boden, ein Haufen Kleider, die entschieden nach Frau aussehen, liegt halb auf, halb unter dem Schreibtisch und der Höhepunkt ist ein leuchtend orangefarbener Fleck an der Wand, genau da, wo gestern noch ein riesiges Poster von irgendeinem Rockstar hing, darunter ein trauriges Häufchen Glasscherben und ein Fleck auf dem hellen Teppich, verziert mit ein paar roten Tropfen. Es riecht nach Multivitaminsaft. Was zum Teufel war hier los? Ich betrachte fassungslos das Chaos, schwanke zwischen Wut und Mitleid, denn es muss schon eine mittlere Katastrophe passiert sein, um meinen sonst relativ vernünftigen Sohn zu einer solchen Zerstörungswut zu treiben. Besagter Sohn liegt mit wild zerzaustem Haar auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben, die Decke halb auf den Boden gerutscht. Er trägt nur seine Totenkopf-Shorts. Ziemlich stillos und sicher nicht besonders warm. Das Mitgefühl siegt. Auf der Hut vor verirrten Glassplittern durchquere ich das Zimmer und decke meinen Sohn vorsichtig zu. Ein zerknitterter Zettel liegt neben seiner Hand auf dem Laken und ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ihn aufzuheben. Blutflecken zieren die Autogrammkarte, denn um eine solche handelt es sich. Einer dieser feschen Superstars in melodramatischer Pose, und darüber hat jemand mit einem dicken Stift gekrakelt – nein, kein Autogramm, eher eine Nachricht, aus der ich nicht recht schlau werde. Sa 18 h H Sunrise Z 539 Was auch immer das heißen mag. Vielleicht sollte ich mal ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch anstreben… aber nicht mehr heute. Ich lege den Zettel auf den Nachttisch, knipse das Licht aus und verlasse Yamatos Zimmer. Ich brauche jetzt endlich mein Aspirin. Am besten gleich drei. Samstag 7:00 Uhr. – Wie bitte? Ausschlafen, Fußball, Yamas Konzert. Soweit der Plan für heute. Und jetzt lasst mich weiter pennen. „Bist du bescheuert? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!“ Kazu knallte wütend den Gitarrenkoffer zu. „Ich mache, was ich will“, fauchte Yamato. „Ich hab noch was vor und das ist verdammt noch mal wichtiger als hier mit euch rumzuhängen und Bier zu trinken.“ „Falls du es vergessen hast, Matt, wir haben heute ein Konzert. K-O-N-Z-E-R-T!“, buchstabierte Kazu. „Du hast gestern schon die Generalprobe verkackt! Und jetzt willst du nach einem Fünfminuten-Soundcheck abhauen?“ „Den Rest werdet ihr wohl auch ohne mich schaffen“, entgegnete Yamato hitzig. „Oder kannst du nicht mal mehr ein paar Gitarren stimmen?“ „Kazu.“ Yoshi packte seinen Kumpel am Arm, bevor der auf seinen Bandleader losgehen konnte. „Hey, schön langsam, Jungs“, warf Kei ein und stieß sich von seinem Keyboard ab, an dem er gelehnt hatte. „Reg dich nicht so auf, Kazu. Und, Matt – was soll das Ganze?“ Yamato verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab eine Verabredung und die werde ich auch halten“, verkündete er störrisch. „Ihr könnt mich schließlich nicht einsperren.“ „Ich würd’s liebend gern versuchen“, stieß Kazu hervor. „Lass mich los, Yoshi!“ Der Schlagzeuger zog eine Grimasse. „Nur wenn du ihn nicht umbringst.“ „Ich kann nichts versprechen“, behauptete Kazu grimmig und machte sich los. Kei und Yoshi beobachteten wachsam, wie er rasch zur Tür hinüberging und Yamato mit wütend geballten Fäusten den Weg versperrte. Yamato warf sich entschlossen den Rucksack über die Schulter. „Lass mich durch, Kazu.“ „Vergiss es. Nicht, bevor du uns gesagt hast, wo du hin willst.“ „Vergiss es“, erwiderte Yamato im selben Ton und griff nach der Türklinke. Weiter kam er jedoch nicht. Kazu, der begeisterte Kampfsportler, bewegte sich blitzschnell, packte den Sänger an beiden Armen und stieß ihn rücklings gegen die Wand. Es gab einen dumpfen Knall, als sein Hinterkopf mit dem Mauerwerk kollidierte. Die beiden Zuschauer zuckten zusammen. Yamato verharrte einen Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht und gab keinen Laut von sich. Kazus Griff verhinderte jede weitere Bewegung. Dann atmete Yamato zischend aus und öffnete die Augen. „Lass mich los, Kazu“, presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. Seine Augen blitzten wie grüne Diamantsplitter. Als Kazu nicht sofort gehorchte, fügte er schärfer hinzu: „Finger weg.“ Kazu ließ die Hände sinken und trat zurück, offenbar selbst entsetzt vom Ergebnis seines Wutausbruchs. Yamato öffnete – diesmal unbehelligt – die Tür, hielt inne und blickte noch einmal zurück zu seinen Bandkollegen, die wie erstarrt dastanden. „Wenn ihr wissen wollt, was das soll…“ Seine Stimme klang etwas wackelig. „Fragt Yoshi.“ Als die anderen beiden sich fragend zu ihrem Schlagzeuger umdrehten, fiel die Tür krachend ins Schloss. Endlich im Freien blieb Yamato ein paar Sekunden reglos auf der Stelle stehen. Jetzt erst erlaubte er sich, den Schmerz zu spüren, der in heißen Wellen in seinem Kopf pulsierte. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, loszugehen. Der Weg verschwamm vor seinen Augen, als ihm die mühsam zurückgehaltenen Tränen übers das Gesicht liefen. Er ließ es zu. Das Schicksal war eine grausame Herrin. Die ganze Welt war kalt und gemein. Jamie P war das allerletzte Arschloch. Und nur wegen diesem Idioten Yoshi – und, zugegeben, seiner eigenen Blödheit – war er jetzt auf den Weg, um ihn ein zweites Mal zu treffen. Yamato hatte das Schulgelände fast umrundet und tastete nach seinem Rucksack, in den er mit Mühe das gestrige Outfit gestopft hatte. Irgendwo in der vorderen Tasche musste der Schlüssel zum Hauptgebäude stecken. In den dortigen Toiletten konnte er sich ungestört verwandeln. So geschickt wie Kari war er nicht mit Make-up und Haaren, aber es musste ausreichen. Irgendwie. Er wollte doch nur ein Autogramm, war das denn so schwer? - Tai - „Hey Jungs!“ Keine Antwort. Was ist das denn für eine Stimmung? Irritiert schaue ich mich im Raum um, auf der Suche nach meinem besten Freund, der wie immer vor seinen Konzerten aufgeregt durch den Probenraum hüpfen sollte, sein Bühnenlächeln proben und „nur zur Sicherheit“ Songtexte nachlesen, die er schon seit Jahren auswendig kann. Nichts. Der Rest der Band wirkt bedrückt. Kei überprüft die Anschlüsse irgendwelcher Kabel, Yoshi hockt stumm in einer Ecke und befreit seine Sticks von nicht vorhandenen Splittern, Kazu sitzt am Tisch und nuckelt an einer Bierflasche. Allmählich wüsste ich doch ganz gern, was hier los ist. Hat irgendwer das Konzert abgesagt? Oder – der Gedanke durchzuckt mich wie ein Blitz – ist Yamato was passiert? „Wo ist denn Yama?“ Das Zittern meiner Stimme verrät meine Angst, aber das ist mir egal. „Ist was…“ Ich wage nicht, es auszusprechen. „Weg“, antwortet Kazu kurz. „Matt ist weg.“ „Was?“ Ich starre ihn verständnislos an. „Was soll das heißen – weg? Was ist mit dem Konzert?“ Er zuckt nur mit den Schultern und ich drehe fast durch vor Sorge. „Könnte mir mal jemand verraten, was hier läuft?“ Es klingt nicht so überlegen wie beabsichtigt, sondern eher kläglich. Kei lässt endlich die Kabel in Ruhe und dreht sich zu mir um. „Matt hat sich eine kleine Prügelei mit Kazu geleistet und ist verschwunden. Ich hoffe, er kommt wieder.“ Ich werfe Kazu einen entgeisterten Blick zu, doch er schaut zu Boden – die beste Bestätigung für Keis Geschichte. „Aber…“ Ich kann es noch nicht glauben. „Wohin…?“ „Wollte er nicht sagen.“ Kei schaut mich enttäuscht an. „Ich dachte, du hättest vielleicht eine Idee.“ Ich und eine Idee? Mir schwirrend Tausende von Ideen durch den Kopf, und keine davon ergibt besonders viel Sinn. Niedergeschlagen wandere ich zum Tisch, klappe müßig Yamas Gitarrentasche auf. Der Bass steht schon drüben auf der Bühne, aber in der Tasche liegt ein Zettel. Ein kleiner, bunter Zettel. Mein Herz schlägt schneller. Keine Ahnung, warum es diesen Fund für einen besonders aussagekräftigen Hinweis hält, aber ich folge meinem Gefühl. Es ist eine Autogrammkarte vom Rocksänger Jamie P, auf der in ziemlich unordentlicher Schrift Ort und Zeit für eine Verabredung festgehalten sind. Ein Blick auf die Uhr: kurz vor sechs. Ich stopfe die Karte in meine Hosentasche und gehe zur Tür. „Tai?“, ruft Kei mir nach. „Was hast du vor?“ „Ich hole Yama“, rufe ich und laufe los. HOTEL SUNRISE Die Neonschrift leuchtete kränklich durch die Dämmerung. Als Yamato den Kopf hob, kippte das Gebäude auf ihn zu, während die tief hängenden Regenwolken bewegungslos am Himmel zu stehen schienen. Er stand einfach nur da, atmete die kühle, feuchte Luft ein und ließ er die surreale Angst zu, die der Täuschung entsprang. Das Piepen seiner Uhr im Rucksack riss ihn aus den Gedanken. 18:00 Uhr. Er war spät dran, aber das verzieh man hübschen Mädchen doch angeblich gern. Hoffentlich war er hübsch genug für Jamie Ps Begriffe… Das Make-up hatte ihn Zeit gekostet. im Nachhinein ärgerte er sich, dass er gestern nicht besser darauf geachtet hatte, was Kari eigentlich tat. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass er dieses Wissen jemals brauchen würde? Geschweige denn so schnell… Er gab sich einen Ruck und betrat das Hotel. Das Foyer hatte den Charme eines altenglischen Herrenhauses, wirkte jedoch verlassen. Es mochte früher eine noble Adresse gewesen sein, doch heute zeugten Wasserflecken an den Tapeten und abgenutzte Sitzpolster von jahrelanger Vernachlässigung. Die Rezeption war unbesetzt, doch eine Klingel versprach Betreuung auf Nachfrage. Yamato ignorierte sie, überzeugt, dass er das genannte Zimmer auch ohne Hilfe finden konnte. Ein Schild an der Tür gegenüber wies nicht nur die Toiletten aus, sondern auch den Aufzug. Jamie P hatte die Nummer 539 aufgeschrieben. Nach dem allgemein üblichen System hieß das: fünfter Stock. Während der altersschwache Aufzug ihn ratternd nach oben transportierte, betrachtete Yamato sein Abbild im Spiegel. Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die dem schwarzen Stoffband entkommen war, mit dem er seine Haare gebändigt hatte und lächelte zaghaft. Er hatte vielleicht nicht ganz die eleganten Ausstrahlung reproduziert, die Karis Künste ihm verliehen hatten, aber gemessen an seinen praktisch nicht existenten Vorkenntnissen konnte er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen wirklich mehr als zufrieden sein. Mit einem beängstigenden Knirschen kam der Aufzug zum Stehen, die Türen öffneten sich quietschend und mit einem Schaudern und dem Entschluss, auf dem Rückweg auf jeden Fall die Treppe zu nehmen, trat Yamato auf den Flur hinaus. Auch hier war der Verfall deutlich sichtbar. Die ehemals weißen Tapeten waren vergilbt, die Deckenleuchten gaben nur ein schummriges Licht und die kleinen Landschaftsgemälde, die in unregelmäßigen Abständen die Wände zierten, waren so stark nachgedunkelt, dass keine Farben mehr zu erkennen waren. „Hat auch was“, murmelte Yamato ironisch. „Kühe bei Nacht.“ Weiter vorn klapperte eine Tür und zwei junge Frauen kamen ihm entgegen, beide vollbusig und so knapp bekleidet, dass Yamato das Blut ins Gesicht stieg. Er schluckte und versuchte, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, während sie kichernd und schwatzend auf Pfennigabsätzen an ihm vorbeiklapperten. Obwohl sie ihn keines Blickes würdigten, hatte er das untrügliche Gefühl, dass er der Gegenstand ihres Gesprächs war. Da, er hatte die 539 erreicht. Und jetzt? Sollte er klopfen? Plötzlich schlug ihm das Herz wieder bis zum Hals. Es war schlimmer als gestern, wo er sich wenigstens in der Menge verstecken konnte. Hatte er gedacht. Bis er plötzlich auf der Bühne stand. Aber auch das hatte er überlebt. Warum also traute er sich jetzt nicht, an diese verdammte Tür zu klopfen…? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn die Tür ging plötzlich auf. „Yama-chan.“ Bevor er wusste, wie ihm geschah, ergriff Jamie P auch schon seine Hand und drückte ihm einen Kuss auf die Finger. „Schön, dass du gekommen bist.“ „Ja.“ Yamato zwang sich zu einem Lächeln – darin war er inzwischen Experte. „Ich freu mich auch.“ „Komm rein!“ Jamie zog ihn mit sich in den Raum. „Möchtest du was trinken?“ Er ging zur Kommode, auf der ein Tablett mit mehreren Flaschen und Gläsern stand. „Viel gibt die Mini-Bar nicht her, fürchte ich, aber…“ Er sah Yamato in der Tür stehen, die Finger in den Rucksack verkrallt, und lächelte. „Setz dich doch.“ Er öffnete eine Flasche und machte damit eine weite Geste durch den Raum. „Es gibt leider keine Stühle in dieser ärmlichen Hütte, aber auf dem Bett ist genug Platz.“ Damit hatte er allerdings Recht. Das Bett war riesig, mit weinroten Laken und Kissen bedeckt und völlig zerwühlt. Zögernd ließ Yamato sich auf dem Rand nieder. Sein Blick schweifte durch das Zimmer, nahm die Unordnung wahr, die sich über alle Flächen erstreckte – benutzte Gläser, große und kleine Zettel, Pralinenpapierchen, unidentifizierbare Tüten und Päckchen und jede Menge anderer Kleinkram. Das reine Chaos. Augenblicke später war Jamie bei ihm, in jeder Hand ein Glas. „Hier. Du magst doch Baileys, oder? Nicht mal Eis kann ich dir anbieten…“ Er stellte die Gläser auf einen kleinen Jugendstiltisch, den er näher ans Bett heranrückte. Nur, um seine Hände zu beschäftigen, nahm Yamato eines der Gläser und nippte daran. Der Alkohol brannte im Rachen, aber es fühlte sich nicht schlecht an. Er nahm noch einen Schluck. Wirklich lecker. „Du gehst noch zur Schule, oder?“, fragte Jamie. „Hm“, murmelte er. „Ganz hier in der Nähe.“ „Was für ein Zufall.“ Er lachte leise. „Meine Kusine unterrichtet dort, vielleicht kennst du sie ja…“ „Wie heißt sie denn?“ Yamato musste sich Mühe geben, seine Stimme zu verstellen. Das durfte er nicht vergessen. „Miko Yamura.“ Yamato musste lachen. „Die kenne ich tatsächlich. Sie, hm… sie ist manchmal ganz schön streng…“ Er zögerte, unsicher, ob der Sänger das als Beleidigung auffassen würde, aber Jamie lachte ebenfalls und erzählte eine Anekdote aus ihrer gemeinsamen Kindheit. Langsam entspannte er sich. Jamie machte leichte Konversation, brachte ihn mühelos zum Lachen und gleich, gleich würde er dann nach dem Autogramm fragen. Sobald sich die passende Gelegenheit dazu ergab. In einem Moment. Yamatos Glas war leer, und Jamie stand auf, um ihm nachzuschenken. Als er sich umdrehte, grinste er. „Willst du es dir nicht etwas bequemer machen?“ Das Glas noch in der Hand, hob er ein Kissen vom Boden auf, nur um es unvermutet in Yamatos Richtung zu werfen. „Fang!“ Das Kissen flog weit über seinen Kopf hinweg, und als er aufsprang und vergeblich danach schnappte, kippte er rücklings aufs Bett. Er seufzte. Er war eben kein guter Torwart… na gut, vielleicht hatte auch der Alkohol damit zu tun. Ein Glas Baileys war eben nichts für schwache Nerven. Oder Mägen. Bei diesem Stichwort musste er wieder an die Kühe auf den düsteren Bildern im Flur denken und brach in albernes Kichern aus. Das allerdings sofort verstummte, als Jamie neben ihm auftauchte. Der Sänger lächelte und beugte sich über ihn. Yamato starrte ihn nur an, sah ihn näher kommen, spürte eine Hand an seiner Wange und einen Augenblick später einen fremden Mund auf seinem. Genau wie gestern wusste er nicht, was er tun sollte. Er blieb stocksteif liegen, krallte die Finger ins Bettlaken und hoffte, betete, dass etwas geschehen würde. Und ja, etwas geschah. Aber nicht dass, worauf er gehofft hatte. Durch die ausbleibende Gegenwehr ermutigt, strich Jamies Hand über seinen Bauch und glitt nach einem Moment forschenden Tastens unter die Kleidung. Die kühlen Finger auf seiner nackten Haut brachten Yamato zur Besinnung. Entschlossen schob er Jamies Hand weg. „Was ist denn los?“ Jamie machte ein enttäuschtes Gesicht, aber Yamato tastete neben sich und hielt ihm die bereitgelegte Autogrammkarte samt Stift hin. „Bitte“, sagte er leise. „Und diesmal ein echtes Autogramm, keine Zimmernummer.“ Jamie gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Seufzen und Lachen klang. Er ließ die Karte auf Yamatos Bauch liegen, während er schrieb und es war offensichtlich, welches Vergnügen es ihm machte, dabei zufällig über den kunstvoll modellierten Busen zu streichen. Yamato biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Sobald Jamie fertig war, würde er aufstehen und sich verabschieden, und dann… Ohne Vorwarnung lag Jamie plötzlich auf ihm. Yamato schnappte nach Luft unter dem Gewicht des Mannes. „He-hey!“, keuchte er, doch Jamie schien der schwache Protest nicht zu kümmern. Unbeirrt hielt er Yamatos Arme unter sich gefangen und bedeckte seinen Hals mit Küssen. Yamato wehrte sich, so gut es ging, und bekam schließlich einen Arm frei, den er gegen Jamies Kehle drückte. „Hör auf, verdammt!“ „Ah, zier dich nicht so“, krächzte Jamie und packte grob sein Handgelenk, um es neben seinem Kopf auf die Matratze zu drücken. „Eben wolltest du noch…“ Yamato warf sich in seinem Griff hin und her. „Ich wollte gar nichts, außer einem Autogramm“, stieß er hervor. Jamie sah verständnislos auf ihn herab. „Aber du kannst noch so viel mehr haben“, beteuerte er und ein Knie drängte mit sanfter Gewalt zwischen Yamatos Beine. „Entspann dich, lass es zu…“ „Vergiss es“, sagte er wütend und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn. „Lass mich bloß in Ruhe!“ Während seine Stimme lauter wurde, wurden Jamies Augen immer größer. Dann wälzte er sich plötzlich von ihm herunter. „Du bist’n Kerl.“ Er lachte trocken. „Sowas ist mir noch nie passiert.“ Yamato schnaubte. „Selbst schuld.“ Er setzte sich auf, stopfte die Autogrammkarte in seinen Rucksack und ging zur Tür. „Macho.“ Jamie lachte. - Tai - Du irrst dich, hier ist nichts. Aber was sollte H Sunrise wohl sonst bedeuten? Hier stehe ich jetzt vor dem Hotel, schaue abwechselnd hinunter auf die zweckentfremdete Autogrammkarte und hinauf zum flackernden Schriftzug des Hotelnamens und lausche dem berühmten Streit zwischen Engelchen und Teufelchen. Geh schon rein. Yama ist da irgendwo, ganz bestimmt. Selbst wenn er da ist, du hast kein Recht, dich in seine Privatangelegenheiten einzumischen. Blödsinn, du willst schließlich der Band helfen. Hab ein bisschen Vertrauen in ihn. Mach schon, du willst doch auch wissen, was er da drin treibt… Teufelchen ist mir irgendwie sympathisch. Dieses Hotel wirkt ziemlich abgebrannt, als würde es seit Jahren vergeblich auf die Renovierung warten. Alles ist so schäbig und abgenutzt, dass es schon fast unheimlich ist. Erinnert an ein Geisterhaus. Der Aufzug quietscht und knarrt, als würde er gleich stecken bleiben… auf dem Rückweg nehme ich die Treppe, das schwöre ich! Ah, da ist Nummer 539. Das Schild mit der Zahl hängt schief, und die Tür… öffnet sich gerade. Schnell weg! Ich drücke mich in die Nische hinter einer verstaubten Zimmerpalme. Kein besonders gutes Versteck, aber ansonsten ist der lange Korridor völlig leer. Ich biege ein paar fedrige Blätter zur Seite und spähe zur Tür hinüber. Und da – Yama? Nein, unmöglich. Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen mit Yamas Statur, seinen Haaren, seinen Bewegungen, so unwahrscheinlich das klingt. Sie trägt einen kurzen schwarzen Faltenrock, kniehohe Wildlederstiefel und ein enges, blaugrünes Top mit schwarzen Ärmeln. Kari wüsste garantiert, wie diese Mischfarbe richtig heißt… Das Mädchen sagt etwas und ein Mann erscheint in der Tür. Er hebt die Hand zum Abschied und kickt mit dem nackten Fuß etwas auf den Gang hinaus. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht den Korridor hinunter in Richtung Treppe. Sogar ihr Gang… es muss Yama sein. Mit einem Knall schließt sich die Tür wieder. Yama – oder wer auch immer da als mein Gestalt gewordener Tagtraum herumläuft – ist schon fast beim Treppenhaus angekommen. Ich beeile mich, ihm zu folgen, aber einen neugierigen Zwischenstopp vor der Tür mit der 539 kann ich mir nicht verkneifen. Im selben Moment sackt mir das Blut in den Bauch und mir wird so schwindelig, dass ich mich an der Wand festhalten muss. Vor meinen Füßen auf dem Boden liegt ein Kondom. Ein benutztes Kondom. Hätte ich doch bloß auf Engelchen gehört. Benommen mache ich mich auf den Weg zum Treppenhaus. Yama ist nicht mehr zu sehen, aber ich höre Schritte, schnelle Schritte, die nach unten verschwinden. Hinterher. Im Erdgeschoss angekommen, sehe ich nur noch die Tür zu den Toiletten zuklappen und folge dem Hinweis. Da ist er – ganz eindeutig mein Yama – und steuert zielsicher die Herrentoilette an. Nur dass im selben Moment ein grauhaariger Mann herauskommt und ihn zweifelnd anblickt. „Dies ist die falsche Tür, junge Dame“, sagt er gutmütig und führt Yama freundlich, aber bestimmt zur Tür gegenüber, auf der ein großes D prangt. „Versuchen Sie’s mal hier drüben.“ Er lächelt und wartet geduldig, bis Yama nachgibt. Was mach ich jetzt? Yama sitzt auf der Damentoilette fest und im Flur wacht der Sittenhüter vom Dienst… Nein, er verzieht sich. Ein Glück. Aufatmend gebe ich den Weg für ihn frei, durchquere dann mit zwei, drei großen Schritten den Flur und reiße die Tür auf. Yama starrt mich an, kreidebleich. Er ist dabei, sich auszuziehen – das blaugrüne Top liegt auf dem Boden, die Stiefel daneben. Was ich für schwarze Ärmel gehalten habe, ist ein zartes Oberteil aus einem halb durchsichtigen Stoff. Es schmiegt sich wie eine zweite Haut an seinen Oberkörper, spannt über dem geschickt ausgestopften BH (auch damit kennt sich Kari bestens aus), und umschmeichelt weich seine Taille. Über dem plüschigen Pelzbesatz am weiten Ausschnitt leuchtet der sanft geschwungene Bogen von Schulter und Hals. Ich schlucke und bringe kein Wort heraus. Das war das Ende. Yamato starrte seinen besten Freund entsetzt an. Wäre er doch bloß nicht dieser Einladung gefolgt! Er hatte es nur getan, um die Wette zu gewinnen, verteidigte er sich. Aber wie wichtig konnte so eine Wette denn schon sein? Lieber hätte er vor Tausenden von Zuschauern einen Striptease durchgezogen, als in diesem Moment Tai gegenüberzustehen. Yamato fühlte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten und senkte den Kopf. Automatisch fuhr er fort, sich auszuziehen. Rock, Strumpfhose, Oberteil… Im Rucksack steckten seine eigenen Klamotten, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er den Reißverschluss nicht öffnen konnte. Er hörte Tais Schritte, sah seine kräftigen, gebräunten Sportlerhände, die den Rucksack öffneten und ihm die Sachen anreichten: Jeans, Hemd, Socken… Yamato wagte nicht aufzusehen. Er zog an, was Tai ihm gab, während seine Tränen auf die schmuddeligen Fliesen fielen. Seine Hände folgten den gewohnten Abläufen ohne nachzudenken, schlossen Knöpfe, banden Schnürsenkel… Als letztes schlüpfte er in seine Jacke, stopfte dann alle Überreste des Kostüms in den Rucksack und schlang sich einen Träger über die Schulter. Er weigerte sich noch immer, Tais Blick zu begegnen, als müsse er seine Anwesenheit nur lange genug leugnen, damit er verschwand. „Yama…“ „Sag nichts“, fuhr Yamato auf. „Lass mich einfach in Ruhe, klar?“ Tai nickte und sah auf die Uhr. „Yama, dein Konzert!“ „Fuck, das hätte ich fast vergessen!“ Jetzt endlich sah er Tai an. „Wie lange noch?“ „Zwanzig Minuten.“ „Shit, Shit, Shit!“ Das würde verdammt knapp werden… „Das schaffen wir“, behauptete Tai, zuversichtlich wie immer. „Schnell jetzt.“ Sie stürzten durch die Eingangshalle des Hotels, schoben die schweren Türen auf und standen im strömenden Regen. Na toll, dachte Yamato. Der schlimmste Tag seines Lebens, und dann musste es auch noch regnen . „Komm schon!“ Tai packte ihn am Arm und legte los. Yamato war noch nie so gerannt. Schon nach einer Minute brannten seine Beine wie Feuer, und danach wurde es schlimmer. Der feste Griff um sein Handgelenk war das einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt. Hätte Tai losgelassen, er wäre augenblicklich auf der nassen Straße zusammengebrochen und wäre nie wieder aufgestanden. Aber Tai ließ nicht los, bis sie die Schule erreicht hatten und durch den Hintereingang der Halle in den Backstagebereich stolperten. Ein dreistimmiger Aufschrei begrüßte ihn: „Matt!“ „Hi… Jungs…“, keuchte er und sank auf einem Stuhl zusammen, als die Beine unter ihm nachgaben. „Bin da. Können anfangen.“ „Und ich dachte schon, wir müssten das Konzert absagen“, seufzte Kei sichtlich erleichtert. „Wenn ich nicht so glücklich wäre, würde ich dir gleich noch eine reinhauen“, brüllte Kazu und umarmte ihn stürmisch. „Mach das nie wieder, kapiert?“ Yamato schüttelte nur grinsend den Kopf und versuchte, zu Atem zu kommen. „Dem muss ich mich anschließen.“ Yoshi wuschelte ihm durch die nassen Haare und verzog das Gesicht. „Bist du hierher geschwommen?“ „Matt, fang!“ Kei warf ihm ein Handtuch zu und Kazu drückte ihm eine Flasche Wasser in die Hand, die Yamato wie ein Verdurstender hinunterstürzte. Mit einem zweiten Handtuch ging Kei zur Tür, wo ein verlassen wirkender Tai vor sich hin tropfte. „Du hast ihn also gefunden.“ „Mhm.“ Tai nickte und trocknete sich das Gesicht ab. „Dann könnt ihr ja jetzt anfangen. „Sieht so aus.“ Kei musterte ihn neugierig – ein schweigsamer Tai war ein seltenes Phänomen – bevor er sich zum Rest der Band umdrehte. „Sind wir so weit, Leute? Wir hätten schon vor fünf Minuten anfangen sollen.“ Tatsächlich war aus der Halle ein undefinierbarer Lärm zu hören, wie Yamato jetzt erst feststellte. „Oh Mann, und ich bin noch nicht umgezogen…“ Er stöhnte auf und kam mühsam auf die Beine. „Fangt schon mal ohne mich an.“ „Ohne dich?“ Kazus Augenbrauen verschwanden fast im Haaransatz. „Was sollen wir denn da spielen?“ „ Do your Best “, antwortete Yamato prompt. „Das kannst du auch allein singen. Lasst euch Zeit: Intro, Solo und so weiter. Ich komme sobald wie möglich nach.“ Kazu holte tief Luft. „Ok. Aber beeil dich.“ Yamato nickte. „Versprochen.“ „Auf geht’s!“, rief Yoshi und schlug einen Trommelwirbel auf der Tischkante. „Wir schaffen das!“ „Solange Kei nicht singt, kann ja nichts schief gehen“, sagte Kazu grinsend. Die anderen lachten. Dann verschwanden die Teenage Wolves – ohne ihren Bandleader – in Richtung Bühne. Yamato stellte sich auf die Zehenspitzen, um eine voll gestopfte Reisetasche vom Schrank zu ziehen. Während oben im Saal Applaus aufbrandete, zog er ein schwarzes Hemd und zerschlissene Jeans aus der Tasche. „Nicht schön, aber immerhin trocken…“, murmelte er kritisch und reichte die Reisetasche weiter. „Später“, wehrte Tai ab. Ein Blick verriet Yamato, dass sein Freund sich endlich am Tisch niedergelassen hatte und ihm nun schon zum zweiten Mal beim Umziehen zusah. Als er das nasse Hemd über den Kopf zog, sagte Tai: „Yama… wegen eben…“ Yamato entledigte sich auch seiner tropfenden Hose und rubbelte sich schnell mit dem kleinen Handtuch ab. Es war kühl hier unten, aber seine Gänsehaut stammte nicht nur von der Kälte. „Ja?“ Er schlüpfte in die trockenen Jeans und beschäftigte sich eingehend mit dem Reißverschluss. „Ich wollte nur wissen…“ Tais Stimme schien irgendwie nicht ganz so fest wie sonst. „Ist es was Ernstes?“ Yamato erstarrte. „Was?“ „Dieser Typ, den du im Hotel besucht hast. Ist er…“ „Er ist gar nichts“, wehrte Yamato sich entsetzt. „Ich habe ihn heute das zweite Mal getroffen.“ „Oh.“ Tai konnte immer noch vor sich sehen, wie Yama aus dieser Tür trat, der fremde Mann hinter ihm, und dann… Yamato ahnte nichts von den Gedanken, die seinen Freund plagten. Er griff nach seinem Rucksack und angelte etwas aus der vorderen Tasche. Die Autogrammkarte war ein wenig feucht geworden, doch die Schrift war nicht verschmiert. Gut lesbar stand da: For Yama-chan My sweetest girl Love, Jamie P Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Oh, verdammt!“ Dieses Autogramm würde Yoshi niemals zu Gesicht bekommen, das beschloss er im selben Augenblick. „Dieser… hinterhältige…“ Er erstickte fast an unausgesprochenen Beschimpfungen. „Was ist?“ Tai starrte ihn aus großen Augen an und Yamato fühlte sich mit einem Mal ganz schwindelig. Er zerknüllte die Karte in der Hand und warf sie auf den Boden. „Nichts.“ Yamato merkte auf, als die Musik, die er von fern gehört hatte, verstummte. „Verdammt, ich muss auf die Bühne.“ Er schnappte sich sein Hemd und zog es über, während er zur Treppe rannte. Tai blieb allein zurück, einsam und vergessen. Jeder Gedanke an seinen Freund verschwand, als Yamato auf die Bühne stürzte, lauthals begrüßt von einer kreischenden Menge. Hundertmal besser als bei Jamie P, diesem eingebildeten Kerl, dachte er flüchtig. „Hallo Leute!“, rief er ins Mikro und hängte sich die Bassgitarre um. „Seid ihr gut drauf?“ Geschrei und Applaus antworteten ihm. Yamato grinste. Hier war er in seinem Element. Er schlug einen Akkord an, den Kazu auf der Gitarre wiederholte. „Entschuldigt die Verspätung, Freunde. Dafür legen wir jetzt richtig los!“ Kei stürzte sich mit fliegenden Fingern ins Intro und Yamato griff nach dem Mikro. Solange er sang, waren alle Sorgen vergessen. Etwa eine Stunde später, als Yamato sich am hinteren Bühnenrand eine neue Flasche Wasser holte, winkte Yoshi ihn zu sich. „Na, wie sieht’s aus mit unserer Wette?“ Yamato wurde rot. „Ja, ich geb’s zu. Ich hab verloren. Und jetzt? Soll ich gleich beim nächsten Stück meinen nackten Hintern präsentieren oder…“ „Hör schon auf.“ Yoshi lachte. „Ich hab mir was anderes überlegt. Nicht ganz so spannend, aber auch ganz lustig.“ Yamato nahm einen Schluck Wasser und rieb sich erleichtert den Nacken. „Was denn?“ „Ich will dir doch nicht die Überraschung verderben“, sagte Yoshi grinsend. „Du musst einfach nur tun, was ich dir sage. Wir spielen doch Lucky girl als Letztes, oder?“ Yamato nickte und kehrte in Gedanken versunken an seinen angestammten Platz zurück. Lucky girl war ein ruhiger Lovesong, zu dem ihm keine verhängnisvollen Aktionen einfallen wollten. Aber gerade das machte ihm Sorgen… Er bemühte sich, Yoshis Ankündigung zu vergessen. Das Konzert dauerte noch gut eine halbe Stunde und war ein voller Erfolg. Soweit Yamato die Halle überschauen konnte, war sie voll und nicht einer der Zuschauer blieb still stehen oder gar sitzen. Das Ende kam jedoch viel zu schnell. Bei den letzten Songs wurde Yamato immer nervöser, bis er sich schließlich sogar im Text verhaspelte und den Rest der Strophe auf „lalala“ singen musste. Höchst peinlich. Doch dann war der Moment gekommen. „Die allerletzte Zugabe“, begann Yamato die Ankündigung und machte wie verabredet Platz, als Yoshi nach vorne kam und seinen Platz am Mikro einnahm. „Der letzte Song für heute“, verkündete Yoshi strahlend, „…ist ein all-time-favourite: Lucky girl. Und dafür brauchen wir jemanden hier oben, der den Part des glücklichen Mädchens übernimmt.“ Er ließ den Blick über die Menge schweifen, entdeckte das Gesicht, das er suchte, und deutete. „Und ich sehe auch schon, wer heute für diese Rolle prädestiniert ist. Komm rauf!“ Er wandte sich zu Yamato um. „Keine Angst, Matt, es ist gar nicht schlimm. Ein bisschen ansingen, antanzen und am Ende ein Küsschen. Mehr nicht.“ Yamato nickte, wandte sich um und grub bestürzt die Fingernägel in seinen Gitarrengurt, als er sah, wen Yoshi ausgesucht hatte: Miko Yamura. Mit einem lässigen Peace-Zeichen zog Yoshi sich ans Schlagzeug zurück und ließ Yamato mit der jungen Lehrerin und seiner unliebsamen Aufgabe allein. Die Lichter gingen aus. Yamato legte die Finger auf die Saiten, spielte einen leisen Ton. Als das Keyboard zu spielen begann, leuchtete ein Spot auf und sperrte ihn und Miko in einen Käfig aus Licht. Was zum Teufel erwartete Yoshi von ihm? Jamie P fiel ihm ein und Yamato hätte fast laut aufgelacht. Er hatte es doch gestern selbst erlebt! Kei ließ das Intro in die erste Strophe übergehen und Yamato fing an zu singen. Es war einfach. Der Text des Songs und die Erinnerung vermischten sich zu einer perfekten Choreographie, deren Mittelpunkt Miko war. Und Miko war begeistert. Sie strahlte geradezu, verfolgte jede seiner Bewegungen mit leuchtenden Augen, drehte sich leichtfüßig, wenn er sie zum Tanz einlud und ihr anbetender Blick kam dem sehr nahe, was Kari ‚Anschmachten’ nannte. Die letzten Takte verklangen. Yamato imitierte bis ins Detail Jamie Ps Geste, ließ seine Hand in Mikos Nacken wandern und zog sie zu sich heran, um ihre Lippen kurz mit den seinen zu berühren. Das Publikum reagierte ähnlich wie gestern mit Jubel und Beifall. Mit Mikos Reaktion aber hatte er nicht gerechnet. Sie schlang die Arme um ihn, vergrub die Finger in seinem Haar und erwiderte seinen zurückhaltenden Kuss hingebungsvoll. Überrascht riss Yamato die Augen auf, als ihre Zunge auffordernd gegen seine Lippen stupste. Tai blitzte vor seinem inneren Auge auf. Yamato schob den Gedanken zur Seite, aber er gab auch Mikos Drängen nicht nach, sondern richtete sich auf und schob sie sanft von sich. Um Fassung bemüht hob er das Mikro an die Lippen. „Ein Applaus für unser Lucky girl !“ Er nahm Mikos Hand und hob sie hoch, während er dem Publikum zuwinkte. „Dankeschön! Ihr wart super!“ Yoshi und Kei ließen ihre Instrumente stehen, um sich vorn einzureihen, Kazu gesellte sich samt Gitarre dazu und legte den Arm um Miko. „Verbeugung“, zischte Yamato ihr aus dem Mundwinkel zu und Miko zog mit. Es folgte noch mehr Applaus und noch einige Verbeugungen, bevor der Vorhang fiel und die Band in Jubel ausbrach. „Das war super“, brüllte Kazu und hüpfte wie ein Hampelmann über die Bühne. „Hey“, schrie Kei und hechtete ihm hinterher, um sein Keyboard zu retten. Yoshi blieb zurück und klopfte Yamato anerkennend auf die Schulter. „Das war echt super, Matt. Bist ein Held.“ Yamato grinste und sah zu Miko hinüber, die den Backstagebereich erkundete. „Warum eigentlich gerade sie ?“ „War ein Deal.“ Yoshi hatte wenigstens den Anstand, ein wenig verlegen drein zu sehen. „Sie wusste Bescheid und hat gedroht, es der Rektorin zu stecken. Den Strip hätte die garantiert verboten.“ „Und warum hat sie nicht?“ „Ist doch klar.“ Yoshi lachte. „Sie wollte unbedingt einen Kuss.“ „Das ist Idolvergewaltigung“, grummelte Yamato. „Tja, immer der Ärger mit den Groupies“, sagte jemand hinter ihm laut. „Takeru!“ Die Brüder umarmten sich. „Tolle Show“, lobte Takeru. „Vor allem das Ende war echt beeindruckend.“ Yamato verzog das Gesicht. „Ich hoffe, das ist nicht das Einzige, was von dem Konzert im Gedächtnis bleibt.“ „Was denn sonst“, sagte eine helle Stimme. „Sänger küsst Fan – das ist die Schlagzeile.“ „Wohl eher umgekehrt“, verbesserte Yamato, als er sich zu Kari umdrehte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn unter Takerus eifersüchtiger Beobachtung auf die Wange zu küssen. „Was ist passiert?“, fragte sie im Flüsterton. „Die Aktion am Ende war doch Yoshis Wettgewinn?“ „Die Verkleidung hat alle getäuscht. Nur die Sache mit dem Autogramm hat nicht richtig funktioniert.“ Er zuckte mit den Schultern. „Am Ende war die Strafe gar nicht so schlimm. Es war also alles umsonst – ich hätte gleich aufgeben sollen.“ Aber wäre er gestern nicht auf Jamie Ps Konzert gewesen, dann hätte er heute seine Strafe nicht so souverän erledigen können… „Nicht so pessimistisch, Matt“, versuchte Kari ihn aufzumuntern. Yamato lachte. „Ein Pessimist ist ein Mensch, der sich den Kuss vom Bakteriologen erklären lässt. Und dafür habe ich inzwischen zuviel praktische Erfahrung.“ „Klingt gut.“ Takeru drängte sich zwischen sie. „Kari, ich muss heute unbedingt noch ein paar praktische Erfahrungen sammeln.“ Kari kicherte, doch Kazu unterbrach das Gespräch, bevor sie antworten konnte: „Wir haben Getränke unten, kommt ihr mit?“ Der Proben-, Party- und Backstageraum war restlos voll. Bandmitglieder, Geschwister, Freunde und Freundinnen belagerten die drei alten Sofas und drängelten sich um den Tisch. Irgendjemand machte Platz, damit Yamato sich mit auf das abgeschabte rote Sofa quetschen konnte und es dauerte nur Sekunden, bis Miko Yamura die schmale Armlehne an seiner Seite in Beschlag genommen hatte. Yamato war nicht ganz wohl, sie so in seiner Nähe zu haben, aber er konnte sie kaum von ihrem Sitz stoßen. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit fast sofort von anderen Dingen gefangen genommen. So zum Beispiel von einem wandernden Würfelbecher und den kleinen, dafür umso hochprozentiger gefüllten Gläsern, die der Verlierer vernichten musste. Und verlieren war einfach bei diesem Spiel. „Ich kann das nicht“, behauptete Miko fröhlich, nachdem sie ihren neusten Drink hinuntergekippt hatte, und versuchte, Yamatos Wurf zu erkennen. Er stöhnte auf, als sie einen Moment später lauthals verkündete: „Gelogen!“ „Das ist unfair“, protestierte er, als Kazu ihm mit einem unheilvollen Grinsen einschenkte. „Sie hat geschummelt!“ „Aber du hast tatsächlich gelogen. Ertappt ist ertappt.“ „Damit würdest du vor Gericht nie durchkommen.“ Yamato trank das Glas aus und hustete mit Tränen in den Augen. „Was war das denn – Abflussreiniger?“ „So ähnlich.“ Kazu grinste. „Selbstgebrannter von meinem Opa.“ „Brr…“ Yamato schüttelte sich, erleichtert, dass er das Spiel verhältnismäßig gut beherrschte. Einige Runden später fiel die Gruppe auseinander. Einige gingen nach Hause, andere brauchten dringend frische Luft, und auf dem Sofa war endlich Platz genug, um gemütlich zu sitzen. Yamato schloss die Augen und lehnte sich mit ausgebreiteten Armen zurück. Er blinzelte, als sich etwas Schweres gegen ihn lehnte und erkannte Miko, war jedoch zu müde, um sich von ihr zu befreien. Außerdem war so ein warmer Körper neben seinem doch gar nicht so unangenehm… Dann fiel sein Blick auf Tai, der gegenüber auf einem Plastikstuhl hockte, eine leere Weinflasche in den Händen drehte und ausgesprochen düsterer Laune zu sein schien. Yamato setzte sich auf, um ihn anzusprechen, doch im selben Moment tippte Miko ihm auf die Schulter. „Hey, Yamato!“ Er drehte den Kopf und plötzlich war sie ganz nah, stützte die Hände auf seine Schultern, und küsste ihn. Diesmal hatte er ihr nichts entgegenzusetzen. Es war nicht einmal unangenehm, die Wärme ihres Körpers, der süße, leicht alkoholische Geschmack ihrer Lippen, die seine liebkosten. Und trotzdem war es nicht richtig. Er konnte Tais Augen auf sich spüren, erahnte den bösen Blick, der ihn in alle Ewigkeit zu verdammen drohte. „Miko“, murmelte er in ihren Mund. „Miko!“ Und dann, als er ihre Aufmerksamkeit hatte: „Lass uns woanders hin gehen.“ Er richtete sich schwankend auf. Nie im Sitzen trinken, erinnerte er sich. Man vergaß doch allzu schnell, was für eine komplizierte Angelegenheit das Gehen sein konnte… Miko hielt sich an seiner Hand fest, während sie die Treppe zur Bühne erklommen, aber kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, lehnte sie sich dagegen und zog ihn zu sich. Yamato hatte alle Mühe, sich aus ihren Armen zu lösen. „Miko… hm… nicht…“ Sie kämpfte mit den Knöpfen seines Hemdes und er musste ihre Hände festhalten, bevor sie ihn an Ort und Stelle entkleidete. „Miko…“ Sie streckte sich, um ihn erneut zu küssen, doch diesmal trat Yamato einen Schritt zurück und hielt sie auf Armeslänge fest. „Bitte“, sagte er leise. „Ich möchte dir nicht wehtun, aber… ich kann das nicht. Ich kann nicht und ich will nicht.“ Miko legte den Kopf schief und sah ihn mit leicht benebeltem Blick an. „Was soll das heißen? Du magst mich nicht?“ „Ich mag dich, Miko. Aber nicht so.“ Sie ließ resigniert den Kopf hängen. „Das Übliche also. Lass uns Freunde sein.“ „Ja“, bestätigte Yamato. „Das Übliche.“ Nichts ernüchtert so schnell wie eine enttäuschte Hoffnung, dachte er düster. Miko nahm seine Hand. „Gehen wir.“ Auf den letzten Stufen machte er sich von ihr los. Er hörte ihr Seufzen, aber er hatte nicht die Absicht, es zu beachten. Zurück im Partykeller fiel sein Blick zuerst auf Takeru und Kari, die auf der Bank hinter dem großen Tisch saßen und fast miteinander verwachsen schien. Ihnen gegenüber saßen Kazu und Yoshi und machten sich lauthals über Kei lustig, der mit verrutschter Brille und zerzaustem Haar in einem Stuhl hing und gegen die Widrigkeiten der Schwerkraft ankämpfte. Als Yamato mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, schreckten alle fünf auf. „Wer von Euch Schlafmützen trinkt noch eine Runde Tequila mit?“ Kei stöhnte und winkte ab. Die anderen jedoch nickten und Yoshi zauberte augenblicklich eine noch halb gefüllte Flasche unter dem Tisch hervor. „Die muss heute noch weg“, verkündete er grinsend und zog eine Handvoll Gläser zu sich heran, die alle nicht mehr ganz taufrisch erschienen. „Wir ham kei’e Zitron’ mehr“, warf Kei mit schwerer Zunge ein. „Iih“, machte Kari prompt. „Dann will ich nichts.“ Yamato runzelte die Stirn. „Du bist sowieso viel zu jung dafür. Genau wie Takeru.“ Sein Bruder lachte. „Das hätte dir mal vor ein paar Stunden einfallen sollen, als die Flaschen da noch alle voll waren.“ Er deutete in eine Ecke des Raums, der aussah, als hätte jemand eine Altglassammlung aufgemacht. Yamato zuckte mit den Schultern und drehte sich um. „Du auch, Tai?“ Glas splitterte mit einem lauten Klirren. Erschrocken sahen alle zu Tai, der sich erhoben hatte. „Nein, danke“, sagte er betont und stapfte durch die Überreste seiner Weinflasche zur Tür. Yamato kam in den Genuss eines flammenden Blickes, der von abgrundtiefer Verachtung sprach und sich tief in sein Herz brannte. Als die Tür zuklappte, kam wieder Leben in ihn. Entschlossen stieß Yamato sich vom Tisch ab. „Hey, dein Tequila!“ Aber Kazus Ruf verhallte ungehört, als er ins Freie stürmte. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel über ihm war dunkel wie schwarzer Samt und mit Sternen gesprenkelt. Er hörte Tais Schritte vor sich in der Dunkelheit und beeilte sich, ihm zu folgen. Seine Beine verkündeten jetzt schon mit einem unangenehmen Ziehen, dass ihnen der Dauerlauf im Regen keinen Spaß gemacht hatte, aber Yamato ignorierte den Schmerz. Tai war wichtiger. Er war stehen geblieben, mitten auf dem leeren Parkplatz, und starrte mit hängenden Schultern in die Dunkelheit. „Tai!“ Als Yamatos Stimme ihn erreichte, drehte er sich um. „Was willst du denn hier.“ Es war keine Frage, sondern nur Ausdruck seiner Abneigung gegen Yamatos Gegenwart. „Das gleiche könnte ich dich fragen“, gab Yamato zurück. „Was ist los, Tai?“ Tai schnaubte. „Geh mir aus den Augen, Yamato.“ So lange war er für Tai nur Yama gewesen, dass sein ganzer Name aus diesem Mund ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf. Er schnappte nach Luft und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ, aber er blieb, heiß und pochend, ein blauer Fleck auf seinem Herzen. „Ich wüsste nur gern, was…“ Seine Stimme zitterte und er zwang sie zur Ruhe. „…was ich dir getan habe.“ „Du hast es echt nötig, was?“, entgegnete Tai, und Abscheu schwang in seiner Stimme mit. „Erst dieser Kerl im Hotel, dann deine Miko auf und hinter und wieder auf der Bühne…“ Ihm fehlten die Worte. „Das… das ist…“ Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Tai lachte freudlos, ein merkwürdig kalter Laut für jemanden, der sonst so viel Wärme ausstrahlte. „Schlag mich ruhig. Na, mach schon! Vielleicht heilt mich das von diesem ständigen Verlangen nach deiner Nähe.“ Er wandte sich ab und sah eine Zeitlang schweigend zu den Sternen hinauf. Yamato war wie versteinert. Nur langsam drangen Tais Worte zu ihm durch. „Ich habe immer versucht, es zu verdrängen. Aber als ich dich heute Abend im Sunrise gesehen habe, da kamen all die Hoffnungen und Träume in mir hoch. Und gleichzeitig war ich so wütend auf diesen Mann, so eifersüchtig. Dass er so einfach bekommt, wovon ich nur träumen darf…“ „Es war eine Wette“, sagte Yamato leise. „Die Verkleidung, der Besuch im Sunrise – es ging immer nur um das Autogramm. Sogar Miko gehört dazu, obwohl sie geschickt intrigieren musste, um zu bekommen, was sie wollte.“ „Dann bin ich ein doppelter Idiot“, sagte Tai hart. „Ich habe alles falsch verstanden. Ich fühlte mich betrogen. Ich dachte, du wärst…“ Er stockte, den Blick noch immer in die Dunkelheit gerichtet. „Wenn ich ein Stern wäre, würde ich mich vom Himmel stürzen, um dir nahe zu sein.“ „Tai…“ Mehr brachte Yamato nicht heraus. Endlich drehte Tai sich wieder zu ihm um. Voller Bitterkeit fuhr er fort: „Willst du mich nicht endlich schlagen? Verdient hab ich es.“ Und plötzlich fand Yamato seine Sprache wieder. „Nein“, sagte er sanft. „Ich will dich nicht schlagen.“ Er legte die Hände um Tais Gesicht und zog ihn zu sich heran. „Ich will etwas ganz anderes mit dir machen“, flüsterte er und küsste ihn. Und dieser Kuss fühlte sich endlich richtig an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)